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Glaswellen
Vater und Bruder betrachten den unförmigen Kasten, der auf dem Küchentisch steht.
Draußen brennt die Sonne auf die Gärten, aber davon merkt man drinnen nichts. Besonders nicht in der Küche. Bis auf die Lampe über dem Tisch ist es dunkel. Mutter und Lina haben aus dem hohen Küchenfenster das Glas entfernt und durch feinmaschigen Draht ersetzt. Davor steht nun ein schwerer Schrank mit fehlender Rückwand und wenn man die Schranktüren öffnet, huschen schwache Lichtstrahlen zwischen den Weckgläsern auf den Boden. Aber das kommt selten vor.
Linas Mutter braucht keinen Vorratsschrank, sondern eine Ausrede für die Nachbarn.
Besonders die alte Käthe vermutet hinter jedem Vorhang ein Geheimnis, vor allem seit Linas Mutter erwähnt hat, dass sie geschieden sei. Offiziell ist Vater nicht mehr da. Und wenn es klingelt, verschwindet er durch eine Bodenluke in den Vorratskeller. In den Monaten, die er sich versteckt, ist er blasser geworden und zunehmend schlecht gelaunt. Er hat beschlossen, dass Lina nicht mehr zur Schule geht. Stattdessen hilft sie nebenan im Herrenhaus.
Seitdem Lina nicht mehr daran glaubt, studieren zu dürfen, liegt sie am liebsten im Bett. Oder bürstet ihre Haare, wie auch jetzt, und betrachtet sich dabei in dem kleinen Spiegel über dem Spülstein.
„Koch uns lieber einen Kaffee“, brummt ihr Vater, während er die Rückwand des Radios abschraubt.
„Für mich auch einen“, ahmt Heinrich Vater nach.
Lina hat keine Lust auch noch zu Hause die Dienstmagd zu spielen - vor allem nicht für ihren neunjährigen Bruder - doch schweigend setzt sie das Wasser auf.
Sie hört die beiden fachsimpeln. Kondensatorblock, Spulenturm, großer Heizwiderstand. Eigentlich redet nur ihr Vater. Heinrich lächelt begeistert, dabei geht es ihm nur darum, alles aufzuschrauben. Lina versteht nicht, warum das fast neue Radio dafür herhalten muss. Es war gar nicht so einfach, im Dorf eins zu besorgen. Die erforderlichen siebzig Reichsmark besaß Mutter nicht, aber sie hatte genug zu tauschen, weil Lina so viel Vorräte vom Herrenhaus bekommt.
Als Lina das Wasser in den Porzellanfilter gießt, verbrennt sie sich beinahe, als etwas zu Boden fällt und Heinrich aufschreit. Heinrich schreit sowieso oft und gern, aber diesmal ist wirklich etwas passiert, ein großer Glassplitter steckt in seiner rechten Hand und Vater sieht aus, als würde er gleich losweinen. Heinrich hat tatsächlich das magische Auge fallen lassen, die Abstimmhilfe! Lina hätte dafür einen Satz Backpfeifen eingefangen. Warum versteht Vater nicht, dass sie viel geschickter ist als Heinrich, viel schlauer, viel wissbegieriger?
Als Bruder und Vater schlafen, geht Lina in die Stube. Auf dem Teppich steht die Burg. Heinrich hat sie aus Schachteln und Papprollen gebastelt. Das Holz wird für den Ofen gebraucht und Geld für richtiges Spielzeug ist nicht da. Liebevoll ist alles aufgeschichtet. Sogar an Zinnen und Schießscharten ist gedacht. Lina lächelt. Dann geht sie zum Hauptturm und reißt ihn ab.
Später nimmt sie Mutters gute Schneiderschere, mit der nur Stoff geschnitten werden darf, und geht in ihr Zimmer.
Am nächsten Morgen steht sie als Erste auf. Eine Tasse Muckefuck im Stehen, ihr einziger Luxus. Dann steckt sie ihre Haare zu einem Turm hoch, viel zu kunstvoll, um damit den ganzen Tag zu putzen, und geht zum Herrenhaus.
„Wat für eine Prinzessinnenfrisur“, sagt Käthe und lächelt dabei vielsagend. Lina hofft, dass die alte Frau mit ihren nassen Händen nicht über ihre Haare streicht.
Es riecht nach eingekochten Birnen. Batterien von Weckgläsern stehen auf dem Tisch. Dutzende Bienen schwirren im Raum. Das Radio rauscht im Hintergrund, genauso eins wie zu Hause und Lina überlegt sich, was sie sagt, nachdem das Radio auf den Boden gefallen ist. Aber noch ist es nicht so weit. Und wird auch nicht so weit kommen, wie Lina kurz darauf erstarrt feststellen muss.
„Mein Mädel, wo du dich heut so fein gemacht hast, hab ich was Besonderes für dich“, sagt Käthe. „Du darfst heute die Zimmer der jungen Damen machen.“
„Aber die kommen doch erst Weihnachten heim“, wendet Lina ein.
„Und ich dachte, ich mach dir eine Freude, willst doch sonst immer alles sehen. Komm schon. Keine Widerrede.“
Lina steigt die teppichbespannte Treppe nach oben. Schon seit einem Jahr träumt sie davon, nach oben zu gehen, und sie weiss nicht, was stärker ist, ihre Neugier oder ihr Ärger. Linas Pläne sind mit einem Mal durchkreuzt. Wann wird sie wieder ungestört mit Käthes Küchenradio allein sein?
Sie soll die Teppiche nach unten bringen und ausklopfen. Es ist still oben, nur den Regulator von unten hört man. Lina schaut sich um. Im letzten Zimmer gibt es ein batteriebetriebenes Picknickradio, es sieht aus wie ein Reisekoffer, das hat sie in dem Prohaska-Prospekt zu Hause gesehen. Das würde Vater gefallen, aber er darf sowieso nicht mehr nach draußen. Und dahinter steht noch ein Kasten.
Linas Entschluss ist gefallen.
Sie setzt sich aufs Bett, damit jetzt nichts schief gehen kann.
Dann zieht sie ihre Haarnadeln heraus. Ihre kastanienfarbenen Locken fallen über ihren Rücken. Sie fängt die Papprolle auf und entnimmt ihr den Schraubenzieher.
Dann zieht sie den Radiostecker, entfernt die Rückwand des größeren Radios, löst die Chassisschrauben. Sie fragt sich, ob sie alles richtig machen wird. Immerhin hat sie die Schritte nur in der Theorie üben können.
Ihr Herz klopft, als sie das magische Auge in der Hand hält, jetzt hat sie doch Angst, dass sie es fallen lassen könnte, und steckt die Glasröhre vorsichtig in die Papprolle.
Gott sei Dank, es passt!
Lina hat schon fast ihre Haare erneut hochgesteckt, als sie einen Schatten im Fenster wahrnimmt. Sie schaut vorsichtig nach draußen. Da stehen die Birnbäume, nur die Schaukel weht leicht im Wind.
Hoffentlich hat sie niemand gesehen! Aber wer außer ihr und Käthe sollte schon draußen sein? Das Herrenhaus liegt einfach zu abgelegen. Und sie würde alles geben, alles riskieren, damit ihr Vater auch auf sie einmal stolz sein könnte.
Flugs nimmt sie einen der Teppiche, Käthe ist vielleicht schon argwöhnisch geworden, warum sie noch nicht nach unten gekommen ist. Hoffentlich fällt ihr nicht auf, dass die Haare tiefer liegen.
Unten in der Küche steht ein junger Mann, den Lina nicht kennt.
Käthe umarmt ihn überglücklich und kann nicht aufhören ihn abzuküssen.
„Das ist unser Karl“, stellt Käthe ihn Lina vor. „Nun mach schon, der junge Mann ist fast 20 Stunden im Zug gesessen, nun setz den Teekessel auf.“
Jetzt erfährt Lina, dass sie das Zimmer für Karl putzen sollte. Und der wird bestimmt heute Abend die Radios ausprobieren.
Lina bekommt Angst.
Käthe schaut Lina plötzlich seltsam an. Fällt ihr doch etwas auf?
Hat sich der Schraubenzieher etwa durch die Haare gebohrt?
Lina fängt stärker an zu schwitzen.
Da hört sie das Summen.
Alle hören das Summen.
Es ist nicht irgendein Summen. Viele Bienen schwirren um den Birnentopf.
Aber dieses Geräusch klingt gedämpfter und gleichzeitig so nah - als ob eine Biene sich in Linas Kleidern verkrochen hätte. Lina läuft unruhig ein paar Schritte, was die Biene ebenfalls unruhiger werden lässt.
Sie ahnt, dass das Summen nicht aus ihren Kleidern kommen kann.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, hört sie den junge Mann noch hinter sich rufen, als sie schnell an ihm vorbei aus der Küche hetzt.
Sie war einmal dabei gewesen, als Käthe bei Martha, der anderen Angestellten, ein Gänseei in der Schürze gefunden hat.
Lieber lässt sie sich von der Biene stechen.
Lina rennt und rennt. Erst als sie bei der Bleichwiese ankommt, wagt sie sich umzudrehen.
Sie ist nicht allein. Natürlich nicht.
Karl hat sie fast eingeholt.
Jetzt ist alles vorbei.
Sie sieht in Karls Augen. Ihr Verfolger lächelt sie strahlend an. Noch strahlend, denkt Lina.
Dann sieht sie ihren Vater vor sich, wie enttäuscht er sein wird. Seine Tochter, eine Diebin, nicht nur eitel, sondern auch noch dumm. So dumm, dass sie sich vom Sohn des Hauses auf frischer Tat ertappen lässt.
Noch schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Lina ist so außer Atem, dass sie alles geschehen lassen wird.
Als Karl sie einfängt, denkt sie für Momente, dass er ihr unter anderen Umständen sogar gefallen würde.
Karl nutzt die Gelegenheit, sie länger im Arm zu halten, als normalerweise erlaubt.
Und vorsichtig nähert er seine kräftigen, sommersprossigen Hände ihrem Haarknoten. Die Sommersprossen waren ihr schon in der Küche aufgefallen.
Lina wundert sich, eigentlich müsste ihm die Papprolle doch schon längst aufgefallen sein.
Und als er die Biene zu befreien versucht, wird er auch noch gestochen. Aber er lächelt sie trotzdem an.
„Ich habe Sie von der Schaukel aus gesehen“, sagt er „ da habe ich gleich davon geträumt, in Ihren Haaren wühlen zu dürfen und viel lieber würde ich mit Ihnen heute Abend spazieren gehen, als alleine oben Radio zu hören.“