Glasklar, mit kristallernem Schwarz
Sanft flackerte der Feuerschein in den Nachthimmel, der über und über mit funkelnden Sternen übersäht war. Nur der warme Duft von brennendem Holz konnte Annas Geist, der in sinnlicher Trance beim Anblick des Sternengewölbes lag, überzeugen wirklich auf der Welt zu sein.
Allgemeines Gelächter nach einem Witz unterbrach ihren Zustand und sie lauschte gespannt einer der vielen Gruselgeschichten. Im Abseits hob ein Junge sein großes Messer vom Boden auf und verschwand mit einem anderen im Dickicht am Rande der Lichtung.
Rund um das Feuer lauschten alle der Geschichte, die ein großgewachsener schwarzhaariger Junge erzählte:
„...die Beiden wollen Feuerholz sammeln und suchen dürre Äste im Wald. Nur noch vom weiten können sie den leichtroten Schimmer des Lagerfeuers erkennen.“
Die Jugendlichen hingen dem Erzähler an den Lippen und sogen jedes seiner Worte voller Spannung in sich auf. Niemand bemerkte, wie plötzlich ein Stern am Himmel erlosch.
Keiner vermisste ihn, doch war es ein anderes Bild dort oben – eine Lücke war entstanden.
Unten auf dem Zeltplatz setzte der Erzähler seine Geschichte fort: „Sie gehen also in den Wald und suchen Holz. Der Eine kommt mit einigen Ästen unter den Arm geklemmt zurück und sieht den anderen Jungen gegen einen Baum gelehnt, dem entfernten Feuer entgegengewandt. „Na, hast du was gefunden?“ fragt er ihn und als er nicht gleich antwortet, klopft er ihm leicht auf die Schulter.“ Der Erzähler stoppte für eine Sekunde seine Geschichte und alle warteten gespannt auf die Pointe.
„Da fällt der Andere leblos auf den Waldboden und erst jetzt sieht der eine Junge die blutige Pfütze im Gras. Er stürzt zu seinem Freund, dreht ihn auf den Rücken und kann den Gesichtsausdruck sehen.
Eine von Todesschmerz entstellte Fratze mit aufgerissenen Augen starrt ihm entgegen. Im Torso des Toten steckt ein acht-Zoll-langes Messer. Aus der Wunde strömt warmes Blut.“
Ein markerschütternder Schrei durchdrang den Wald. In der darauffolgenden Sekunde schrecklicher Stille konnte Anna einen Holzscheit im Feuer krachen hören, bevor die Jugendlichen verwirrt um die Lage rätselten.
„Was ist passiert? Wollte uns da jemand verarschen?“
Drei Jungen waren aufgesprungen. Alle trugen mehr oder weniger Waffen. Als einer von ihnen, nämlich der Erzähler der so abrupt abgebrochenen Geschichte, sein Messer in den Gürtel schob und sich in Richtung Schrei wandte, konnte Anna ihm einen kurzen Augenblick in die Augen sehen.
Glasklar, mit einer kristallernen Schwärze durchbohrten sie in dieser Milisekunde ihr Herz. Annas Atem stockte. Die Drei verschwanden im Wald während die Übrigen erschrocken in ihre Richtung sahen und vergeblich versuchten etwas in der Dunkelheit zu erkennen.
Sie alle hatten es gehört. Das war kein normaler Schrei gewesen. Noch niemand von ihnen hatte jemals solch einen Schrei gehört. Voller Angst, Todesangst, Entsetzen, purer Verzweiflung. Irgendetwas schreckliches musste dort passiert sein.
Anna wusste nicht, was sie tun sollte also setzte sie sich wieder zu den anderen ans Feuer und tat gar nichts außer mit ängstlichem Blick ins Feuer zu starren. In diesem Moment ertönte ein weiterer furchteinflößender Schrei. Es war ein Todesschrei, das konnte Anna und jeder andere hören. Außerdem war der Schrei schon bedeutend näher, als der erste. Der Ruf von einem der drei Losgezogenen bestätigte ihre Befürchtung und ließ endgültig Panik im Lager ausbrechen.
„Er kommt auf euch zu!“
„Er?“ dachte Anna entsetzt. Wer oder was war es, was sie hier angriff? Hastig nahm sie einen zweiarmlangen brennenden Ast aus dem Feuer und zerrte ihre Freundin ihre Freundin Vroni, die verwirrt vor ihrem Zelt saß, mit sich.
„Komm schnell, lass uns hier abhauen!“ schrie Anna gerade, als etwas voller Verzweiflung aus dem Wald gebrüllt kam:
„Hilfe!“
Die beiden Mädchen sahen sich gegenseitig an.
„Wir müssen ihnen helfen!“ rief Vroni und sie hasteten unter dem spärlichen Licht des Feuers durch das Unterholz. Anna sah nach oben und, obwohl es völlig obskur wirkte, schien sie die Lücken am Himmel erkennen zu können. Vroni strauchelte mehrmals und fiel einige Meter hinter Anna zurück, als diese am Ort des Geschehens ankam und ihren Augen nicht zu trauen glaubte. Vroni war nun ebenfalls dort angekommen, doch Anna hatte sie bereits weggedreht, um ihr den Anblick zu ersparen.
„Sieh nicht hin.“ flüsterte sie leise. „Irgendwo hier muss er sein.“
„Wer?“ fragte Vroni ängstlich.
Anna gab ihr die Sicht frei, um es vollkommen klar zu machen.
„Der Mörder.“
Circa drei Meter vor ihnen lag die zerstochene Leiche eines der Jungen auf dem Boden; Das lange Messer steckte noch in seiner Brust. Vroni schrie beim Anblick laut auf und lief panikartig ins Dickicht.
„Vroni! Nicht!“ schrie Anna, aber es half nichts. So schnell sie konnte lief sie ihrer Freundin hinterher, doch schon nach wenigen Schritten stolperte sie über eine Wurzel und das Feuer an ihrem Ast erlosch.
Stille und Finsternis rund um sie herum. Überall schien sich etwas zu bewegen. Hier glaubte sie ein Rascheln zu hören, dort schreckte sie wegen des Krachens von Zweigen auf. Leise schlich sie von Baum zu Baum in Richtung Vroni.
„Aaaahhh!“
Das panische Kreischen ließ Anna das Blut in den Adern gefrieren. Was darauf folgte war ein leises Röcheln – Vroni wahr dem Mörder in die Finger gegangen.
Was sollte sie nur tun? Gerade, als sie beschlossen hatte lieber wegzulaufen, als mit aufgeschlitztem Bauch am Waldboden zu enden, knackte es im Unterholz rechts von ihr. Rasch lief sie hinter einen Baum und presste sich an ihn. Ihr Herz klopfte laut und schnell, man musste es im ganzen Wald hören können.
Für einen Augenblick neigte sie sich um den Baum und versuchte etwas in der, bis auf das Sternenlicht, dunklen Umgebung zu erkennen.
Eine Mannshohe Gestalt hatte ihr unvorsichiges Unternehmen bemerkt und ging mit bestimmten Schritt auf sie zu. Anna stieß sich vom Baumstamm ab und rannte so schnell sie ihre müden Beine trugen durch das Dickicht um ihr Leben. Kleine Äste schlugen ihr wie Peitschen ins Gesicht, doch die Angst ließ sie nicht an Schmerzen denken. Ihr Atem ging schwer. Hinter sich konnte sie hören, wie ihr Verfolger näherkam. Plötzlich strauchelte er und fiel hin. Anna drehte sich um, was ihr das Leben rettete.
Im blinden Lauf stolperte sie über einen umgefallenen Baum. Sofort bemerkte Anna den stechenden Schmerz in ihrem Knöchel. Sie war dem Mörder hilflos ausgeliefert. Er stand bereits als dunkle Gestalt zehn Schritte von ihr entfernt auf der kleinen lichteren Stelle des Waldes. Weglaufen mit ihrem verstauchten Knöchel hatte keinen Sinn.
Anna hörte, wie ihr Gegenüber einen dürren Ast von einem Baum brach und sah wie er entflammte. Im schein des Feuers konnte sie sein Gesicht erkennen.
Die glasklaren Augen mit einer kristallernen Schwärze schienen sie zu durchbohren.
„Ich wusste es, flüsterte sie. Wie hättest du sonst eine Geschichte erzählen können, die im gleichen Augenblick wirklich geschah.“
Der Junge nahm den brennenden Ast in die linke Hand und zog mit der Rechten langsam sein etwa acht-Zoll-langes Messer aus der ledernen Scheide, die in seinem Gürtel steckte.
„Dein Messer, schluchzte Anna. Damit hast du sie alle umgebracht.“ Sie wischte sich eine Träne von der Wange, während er das Messer an der Klinge nahm und – zum Wurf bereit - den Arm hob.
Keinen Augenblick lang schien er die Augen von ihr abzuwenden.
Er warf.
In der Klinge schimmerte das Licht des Feuers. Annas Herz schien auszusetzen, als sie den Luftzug des Messers an ihrem Hals wahrnam. Sie hörte, wie sich das Geschoss tief in Fleisch bohrte.
Wo blieb der Schmerz, wo blieb der Tod?
Mit einem Mal erst merkte Anna, dass der Junge nicht sie ansah. Ruckartig drehte sie den Kopf und starrte in die Augen des wahren Mörders. Mit erhobener Waffe hatte er gerade zustechen wollen, als ihn das Messer traf. Die Klinge steckte fast zur Gänze in seinem Hals; Er röchelte.
Eine Ewigkeit schien er so dazustehen, blutüberströmt, mit aufgerissenen Augen, die auf Anna gerichtet waren.
Schnell humpelte sie einen Schritt beiseite. Endlich brach er in die Knie und fiel der Länge nach auf den blutigen Waldboden.
Als Anna sich umwandte, stand der Junge neben ihr - In seinen glasklaren Augen funkelten die erloschenen Sterne.
DWGM
9./10.6.2000