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Glashaus
Es war 1998, Deutschland hatte noch keine Ahnung, was passiert, wenn alles auf den Prüfstand gestellt würde, was es hieß, unsere Politik klarsichtig zu machen. Es war ein merkwürdiges Jahr für Brehna, einer kleinen Stadt zwischen Halle und Bitterfeld, also ganz weit weg vom dekadenten Ruhrpott, in der ärmsten Gegend des Ostens, indem die Menschen gut und freundlich waren und äußerst arbeitswillig, wenn man sie nur ließe. Umziehen? In den Westen? Nein, so etwas fiele dem treuen Sachsen-Anhaltiner schwerlich ein, außer der Jugend wiedermal, die nach Geld gierte, es aus vollen Pötten scheffeln und mit ebenso vollen Händen wieder ausgeben wollte. Diese Spaßgesellschafter!
Nun sollte man meinen, zehn Jahre nach der Wende hätte sich die Bauwut der Ostdeutschen gelegt, jetzt, nachdem beinahe jedes Dorf nutzbare Flächen mit leerstehenden Musterhaussiedlungen verstellt, und der einzelne seine Ersparnisse ausgegeben hatte. Sie hat sich auch gelegt, doch im Jahre 1998 ließ ein Fremder mit unzweifelhaft sächsischem Tonfall noch ein Haus errichten. Er kaufte keines der Musterhäuser, nein, er baute das Haus mitten in einer Wohnsiedlung, wofür die Grünanlage geopfert wurde. Die Fundamentlegung nahm ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch, obgleich sogar die Nächte durchgearbeitet wurde. Es ging das Gerücht um, er sei ein Politiker und kandidiere nun für den Bundestag und hätte gar noch höhere Ziele. Das Haus wurde eine Pracht, eine Mischung aus Glas und Stahl, mehr Glas als Stahl, der keine einzige glatte Fläche aufwies, jede Strebe war verschnörkelt, von floraler Ornamentik umwunden, verziert mit Käfern, Schnecken, Spinnen und anderem Getier, die Verbindungsstücke hatten die Form dürrer, abgezehrter Wesen, die mit aller Macht die Ecken zusammenzuhalten suchten, ihre Hände verschmolzen mit den Trägern, um ihre Füße rollten Schlangen, die dem Haus die Höhe gaben. Die Wesen, die nach innen blickten, zeigten ihre muskelverkrampften Rücken und Beine, durch die die Knochen schimmerten, jene die nach außen starrten mit nach oben verdrehten Augen und hängenden Kiefern mag man gar nicht beschreiben, weil ihre Leiber so verrenkt waren. Das Glas war dick, durchwoben von einem spinnenfeinen Netz aus Draht, wie man es in den Schaufenstern von Juwelieren zuweilen beobachtet. Vom ersten Tag an war das Geschehen, das sich innerhalb dieser Familie abspielte, für jedermann nachvollziehbar. Der Politiker hatte eine Frau und drei Kinder, seine Schwester, oder wer auch immer diese junge Frau sein mochte, Ideen darüber waren viele im Umlauf, doch keine unanständig, kümmerte sich um alle fünf. Jeder der Augen hatte und Augen haben wollte, erhaschte eine Szene des familiären Alltages, liebevoll, vernünftig, bürgerlich. Doch weder hatten die einen Augen noch die anderen keine. Die eine Hälfte der Bewohner des Viertels, in das dieses Haus sich hinein gepreßt hatte, tauschte regelmäßig lüsternd den Fernseher gegen einen Blick aus dem Fenster und die andere wandte sich angewidert, vielleicht von der Intimität des Familienlebens Abgestoßen, die ihnen aufgezwungen wurde, ab. Was aber war es konkret, das die Menschen sahen, was sie sehen sollten oder was nicht? Tatsache ist, die Familienmitglieder kamen zu täglich gleicher Stunde nach Hause und erschienen auf der Bildfläche des Wohnzimmers. Man aß zu Abend, unterhielt sich, setzte sich gemeinsam vor den Fernseher oder spielte Karten manchmal auch Brettspiele, wobei es häufig lebhaft zuging. Am späten Abend gaben die Kinder ihren Eltern einen Gute-Nacht-Kuß. Dann gingen sie nacheinander ins Bad und in ihre Zimmer. Das jüngste Kind, ein Junge, schlief sofort, mit einem Kuscheltier in dem Arm. Das mittlere, ebenfalls ein Junge saß noch eine Weile am Computer und das älteste, ein hübsches Mädchen, das auf zahlreiche Mitglieder des anderen Geschlechts eine unglaubliche Wirkung ausübte, las und schrieb noch recht lange und schnell. Tatsächlich waren die beiden älteren gute Schüler, der Sohn besonders in Informatik und Physik, die Tochter sprachbegabt mit einem auffälligen Interesse an praktischen mathematischen Aufgaben aus dem Bereich Wirtschaft. Die Lehrer am Gymnasium Bitterfeld fürchteten nicht zu unrecht, sie zu unterfordern, denn häufig merkten sie, das die aufgegebenen Hausaufgaben während der Kontrolle selbst im Kopf erledigt wurden. Was sollten sie sagen? Was taten die "Kinder" in ihrer Freizeit? Beide Geschwister hingen aneinander. Das war offensichtlich. Sie tuschelten in den Pausen. Sie kamen zusammen, selbst wenn ihr Unterricht nicht zur gleichen Stunde anfing, und verließen die Schule gemeinsam. Sie stiegen immer in den Zug nach Brehna. Stiegen sie auch dort aus? oder fuhren sie bis nach Halle? stiegen sie gar dort um? Niemand konnte es eindeutig nachvollziehen. Sie kamen und verschwanden, ohne daß jemand festzustellen vermochte, auf welche Weise. So verging ein halbes Jahr. Das Interesse der Neugierigen verflog, weil es nichts interessantes gab. Einzelne, seltsam anmutende Szenen verwunderten den einen oder anderen, ließen aber an der Ehrbarkeit der Familie nicht zweifeln. So mochte der eine Streit im Hause hören, obwohl die Familie augenscheinlich friedlich zu sechst um den Küchentisch saß, ein anderer hatte den Jüngsten mit einer süßen kleinen Katze hinein gehen sehen, die nie wieder innerhalb des Hauses auftauchte, er wollte nur noch bemerkt haben, das es wohl an diesem Tag einen großen Braten gab, wobei der Kaninchenzüchter entgegenhielt, die Schwester hätte bei ihm einen Karnickel gekauft. Der besseren Beurteilung der Lage wegen soll angemerkt sein, daß es auch Stunden gab, in denen kein Licht brannte oder das Tageslicht derart hell schien, daß die Hausbeleuchtung nicht ausreichte, dem stillen Beobachter alles zu offenbaren. Eines Tages tuschelte man sogar, die Tochter erwartete ein Kind. Einleuchtende Belege gab es dafür allerdings nicht.
Doch es kam ein Tag, an dem der stille Groll, sei es nun ob des vorbildlichen Familienlebens, der schamlosen zur Schau Stellung oder anderer persönlicher Gründe, emporquoll und Verblüffendes zu Tage brachte. Im Fernsehen sah sich wie immer ein großer Teil der Bewohner Aktenzeichen XY Ungelöst an. Nach den vielen Berichten über Verbrechen in den Zeitungen, wollten die Menschen wissen, wer sich in ihrer eigenen Gegend herum trieb. Vielleicht warteten sie aber auch auf etwas ganz bestimmtes. Es wurde ein Waffenschieber gesucht, brutaler Verbrecher, Raub, Mord, Bestechung, Erpresssung, die gesamte Palette, und zu allem Hohn noch Vergewaltigung. Wie es ein dummer Zufall, vielleicht auch nicht Zufall wollte stimmten das Phantombild und das Gesicht des ominösen Hausvaters überein. Auf der Straße wurde es wenig später unruhig. Die unerklärlichen Szenen gingen wie im Lauffeuer herum, wurden ausgeschmückt und umgedeutet. Jemand schrie, das Schwein solle herauskommen. Eine Menschentraube bildete sich und die Rufe wurden dringlicher. Im Glashaus, so hatten die Brehnaer das Haus inzwischen getauft, blieb man im Wohnzimmer ruhig auf Sesseln und Couch lesend sitzen. Die Menge wurde wütend. Die Stimmung steigerte sich durch die dreiste Gelassenheit im Inneren des Glashauses. Man war zum Lynchen bereit. Jemand warf einen Stein. Ein anderer folgte. Die Scheibe bekam Knackse. Es puffte, knallte, stank und qualmte: eine riesige Mattscheibe implodierte, übrig blieb ein riesiges schwarzes Loch, aus dem die Elektronik glotzte, Drähte, Kabel, Metallplatten. Die Leute begriffen, daß sie mehrere Monate zum Narren gehalten worden waren und drangen zornerfüllt in das Haus ein. Die Szenerie, die sich ihnen bot, war so ungewöhnlich nicht: das Hausmädchen und der Vater kuschelten miteinander, die Mutter diskutierte lebhaft interessiert mit der Tochter über den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik, der ältere Sohn hackte sich am Computer gerade in das interne Netz der Sparkasse, nur die Sache mit dem jüngsten Kind war ein bißchen seltsam: es lag im Keller, zwölfjährig, wie ein Marienkind bis um Hals eingewickelt auf einem Strohlager, im selben Raum befanden sich noch drei Schafe, die zärtlich seinen Kopf mit den Lippen kraulten. Nach eigenen Aussagen gefiel ihm das. Die Bewohner selbst hatten nichts gehört, da zwischen äußerem Bildschirm und Wohnräumen eine Betonmauer alles abhielt. Eine im Keller gelegene technische Anlage regelte sowohl die Einzelheiten für ein Leben ohne Fenster, sowie den automatischen Wechsel der Videos. Der Vater hatte keine kriminelle Vergangenheit, sondern samt seiner spinnerten Familie nur das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung.
Genug Geld hatten sie.