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Glücklicher Zufall
JFK, 31. Januar
Interessanter Typ, dachte Olivia. Den könnte man auch mal wieder treffen. Ihr Sitznachbar der letzten acht Stunden, ein Belgier namens Pascal, war gleichzeitig an der Passkontrolle angekommen und sie setzten das sporadische Gespräch aus dem Flieger fort.An der Kontrollstellen wurden sie „Desk number 15“ zugewiesen. Pascal ging zum Schalter. Der Pass wanderte über den Tisch und zurück, ein paar Klicks am Computer, Fingerabdrücke, fertig. Pascal drehte sich kurz um, winkte und verschwand, Olivia trat nach vorne. „Good evening, Sir,“ ein nettes Lächeln, der Pass wurde eingelesen.
Das Lächeln verschwand sehr plötzlich. „Reisen Sie alleine?“
„Ja.“
„Sie reisen also nicht in Gesellschaft?“
„Nein.“
„Sind Sie sicher, dass Sie alleine reisen?“
„Ja, bin ich. Ich reise alleine.“
„Und der Herr eben?“
„Oh – das war mein Sitznachbar im Flieger.“
„Sie kennen ihn also nicht?“
„Nein, noch nie vorher gesehen.“
Der Grenzbeamte lehnte sich nach vorne, den Pass fest im Griff. „Und wie erklären Sie dann, dass sie beide zuletzt vor vier Wochen am gleichen Tag über denselben Flughafen in die USA eingereist sind?“
Olivias Augen wurden groß. „Das weiß ich nicht. Zufall?“ Ein weiterer Beamte kam dazu, man besprach sich. Der nächsthöhere Beamte wurde gerufen, noch einmal die gleichen Fragen. Der Pass blieb außer Reichweite. Olivia schluckte trocken. Was auch immer da los war.
Ebenso unvermittelt verschwanden die anderen beiden Beamten wieder, der Pass lag auf dem Tisch, alles ok, Fingerabdrücke noch. Olivia atmete auf, griff ihren Koffer, grüßte höflich und sah zu, dass sie weiterkam.
Pascal stand unten am Gepäckband, Olivia lief hinüber. „Entschuldigung – darf ich mal Ihren Pass sehen?“ Etwas verdutzt reichte ihr Pascal – de Mer, laut erster Seite – den Pass. Olivia blätterte zu den letzten Stempeln. Und richtig, vor genau vier Wochen waren sie beide in Newark in die USA eingereist. Beide Vielflieger, öfter mal über den Teich unterwegs, ähnliche Reisegewohnheiten, aber trotzdem, was für ein Zufall, dass man dann noch nebeneinander saß und die Grenzer einen darauf aufmerksam machten? Olivia und Pascal lachten, schüttelten den Kopf und verabschiedeten sich.
Paris, 12. Februar
Nicht mehr als eine lustige Anekdote, wäre da nicht dieser Zufall in Paris gewesen. Keine zwei Wochen später stand Olivia abends am Gare du Nord in der Taxischlange. Ein paar Positionen hinter ihr eine Frau – sehr groß, volle rote Haare, große Sonnenbrille. Olivia setzte sich in ihr Taxi und ließ sich durch halb Paris fahren, über die Seine ins Quartier Latin.Ein kurzer Stopp im Hotel, dann ging sie gleich wieder auf die Straße. Das Quartier Latin war ihr Lieblingsort, bunt und unprätentiös. Olivia fand einen Platz in der Fensternische einer kleinen Brasserie und beobachtete beim Essen das lebhafte Treiben.
Eine sehr große Frau mit feuerroten Haaren betrat den Raum. Ohne in Olivias Richtung zu schauen, verschwand sie hinter der Bar. Olivia kniff die Augen zusammen. Ein Irrtum? Quer durch Paris gefahren, in irgendeiner Brasserie an irgendeiner Ecke gelandet, und die gleiche Person vom Gare du Nord war wieder da? Irgendetwas war komisch. Olivia beobachtete unauffällig die Bar, doch die Frau kam nicht mehr heraus.
Nun denn. Olivia zahlte und wanderte nachdenklich durch die dunklen Straßen zurück zum Hotel. Trotz der Kälte waren viele Leute unterwegs, alleine oder in Gruppen. Jeder ging seines Weges, niemand schien sie zu beachten. Trotzdem – es schadete ja nicht, heute Nacht mal die Sicherheitskette vorzulegen.
Hamburger Büro, 14. Februar
Richtig unheimlich wurde es dann aber erst ein paar Tage später, als sie wieder zu Hause war. Eigentlich ein normaler Arbeitstag, sofern ihr derzeitiges Projekt jemals als normal bezeichnet werden konnte. Mit dem Wissen aus diesem Projekt ließ sich, mit etwas Geschick, Finanzmarktkenntnissen und einer guten Portion krimineller Energie eine Menge Geld machen. In mehrstelliger Millionenhöhe, wie der zuständige Partner betonte.Er hieß Jan, noch relativ jung, intelligente Augen hinter einer kleinen Nickelbrille. Jetzt war er sichtlich nervös. „Kollegen… Unser Ruf steht auf dem Spiel. So etwas kann unseren Brötchengeber in den Konkurs treiben und uns persönlich jahrelange Ermittlungsverfahren bescheren – als Angeklagter.“ Er wies mit einer schnellen Handbewegung auf seinen Bildschirm. „Das zweite Leck innerhalb von nicht mal drei Wochen.“
Das Team sah sich unbehaglich an. Sie waren zu viert, und alle hatten den selben Informationsstand. Jan schien zum gleichen Schluss zu kommen – was, wenn es tatsächlich einer von uns war? Wenn man nicht nur eine Abwehrstrategie fahren musste, um Team und Firma zu schützen, sondern der Maulwurf hier im Raum saß?
Simon, der Junior im Team, räusperte sich. „Wissen wir denn mehr, als welche Informationen herausgekommen sind?“ Jan schüttelte den Kopf. „Nicht viel. Ein Artikel in der New York Times, und dieser hier im Observateur. Wenig Substanz, sie streuen Gerüchte „aus verlässlicher Quelle“. Er legte die Hände auf den Tisch. „Ihr wisst, was das heißt. Wir müssen eine verschärfte Vertraulichkeitserklärung unterschreiben, jeder von uns. Wer Bedenken hat, weiter an dem Projekt zu arbeiten, kommt bitte heute Nachmittag zu mir.“ Er stand auf. „Olivia, ist Dir nicht gut?“ „Doch, alles ok.“ Sie schluckte. „Eine komische Situation. Was meinst Du, wer es sein könnte? Jemand von einer der Firmen, oder Berater oder Banker?“ Jan seufzte müde. „Ich weiß es nicht. Es kann jeder sein.“
Olivia ging mit ruhigen Schritten aus dem Raum, legte den Rechner auf ihrem Schreibtisch ab, wechselte ein paar nette Worte mit ihrem Nachbarn, und schloss sich auf der Damentoilette ein.
New York Times, vor zwei Wochen. Pascal. Observateur, gestern. Die rothaarige Frau. Zwei seltsame Vorfälle, die plötzlich gar nicht mehr wie Zufälle aussehen wollten. Was zum Teufel war da los?
Zu Hause, 14. Februar abends
„Etwas früher aufbrechen“ war bei einem solchen Projekt schwierig, aber Olivia schaffte es und war um neun Uhr zu Hause. Während sie sporadisch Emails beantwortete und Dokumente prüfte – dies war nicht der Zeitpunkt, sich verdächtig zu verhalten – lief die erste Google-Suche über ihr Tablet. Hatte irgendjemand an zwei verschiedenen Orten Daten von ihr gestohlen?Pascal de Mer. Firmeninhaber, eine Handvoll Angestellte. Sicherheitssysteme und Datenschutz / Cybersecurity. Eine eindrucksvolle Karriere in den wichtigsten Informationsschutz-Unternehmen. Dann, Olivia kniff die Augen zusammen, zwei Wechsel nach je sechs Monaten, gefolgt von der Firmengründung vor drei Jahren. Ein paar Interviews nach einem PR-wirksamen Mandat. Ihr netter Flugzeugnachbar war offensichtlich ein knallharter Geschäftsmann mit besten Kontakten – aber auch nach dem dritten Bericht war nicht völlig klar, womit er sein Geld eigentlich verdiente. Und hinter der vermeintlich offenen Oberfläche fand sich exakt – gar nichts. Eintrag der Firma in Luxembourg. Kein Mitarbeiter hatte ein Profil auf LinkedIn. Kein Konto bei Facebook oder Instagram. Keine weiteren Referenzen. Olivia rieb sich die schmerzenden Augen. Einfach gar nichts.
Sie musste Jan informieren. Das Handy in der Hand trat sie zum Fenster, schaute auf die abendlich erleuchtete Stadt. Ließ die Hand wieder sinken. Solange nicht klar war, wer auf welcher Seite stand, war sie alleine.
Ok, die Frau. Hier gab es noch nicht einmal einen Namen, aber immerhin ein Bistro. Auf Google Maps fand Olivia das Hotel, trat virtuell auf die Straße, bog nach links ab. Ein Schlenker vorbei an Notre Dame, der verwundeten und doch unvergänglichen Kirche. Nach rechts tiefer ins Quartier Latin, den Jardin Luxembourg gestreift und dann – hier war es, das Bistro auf der Ecke mit der roten Holzvertäfelung und dem einfachen Schriftzug „Brasserie“.
Olivia sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Sie holte tief Luft, wählte die Nummer und lauschte dem französischen Freizeichen. „Brasserie Luxembourg, bonsoir?“ Eine tiefe Stimme, Stimmengewirr und Tellergeklirr im Hintergrund. Olivia schluckte. „Bonsoir. Je suis Olive, pourriez-vous m’ajouter avec quelque chose.“ Dem Studiensemester in Paris sei Dank. „Ich war letzte Woche bei Ihnen. Eine Dame hatte am Gare du Nord etwas verloren, ich habe sie dann bei ihnen gesehen. Groß, rote Haare. Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich sie erreiche?“ Ein tiefes Lachen. Die Antwort kam ohne Zögern: „Emmanuelle. Das sieht ihr ähnlich. Sie ist Künstlerin; ich glaube, das gehört zu ihrem Image. Oder ihrem Marketing. Am besten kontaktieren Sie sie über ihre Website. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe machen!“
Olivia legte auf. Sie schüttelte den Kopf, um das Summen aus ihren Ohren zu vertreiben, und navigierte zu der genannten Seite. Das war sie, kein Zweifel. Groß, rothaarig, eindrucksvolle Erscheinung. Lehrauftrag in London, Atelieradresse im Quartier Latin schräg gegenüber der Brasserie. Spezialisiert auf Bronzeskulpturen. Olivia klickte durch die Werke, die Rezensionen, die Artikel über Künstlerin, Galerien, Mäzene. Vielleicht führte Emmanuelle ein Doppelleben mit einer verborgenen Finanzmarktseite, möglich war alles. Aber doch ziemlich unwahrscheinlich.
Zurück zu Pascal. Olivia stand auf, streckte sich, wanderte zum Fenster. Die Lichter der Stadt lagen vor ihr, über eine Million Menschen um sie herum. Erstaunlich, wie alleine man in einer großen Stadt sein konnte. Was, wenn Pascal sie auf dem Radar hatte? Wie leicht konnte man auf dem gleichen Flug sein, ohne es zu merken. Genau betrachtet hatte er ihr kaum etwas über sich gesagt – er spielte Saxophon, reiste viel und hieß Pascal. Viel mehr war von den acht Stunden gelegentlichen Small Talks nicht hängengeblieben. Die vorherige Begegnung in Newark? Sein voller Name? All das hatte sie nur Dank der Paranoia der US Immigration erfahren. Und ihm dann auch gleich mitgeteilt. Olivia schloss kurz die Augen. Aber weshalb hätte sie nicht nachfragen sollen?
Sie nahm das Tablet, beugte sich im Stehen über den Laptop. „Sorry, kurze Frage – hatten wir im Modell nicht fünf Prozent Wachstum angenommen? Danke, O.“ Senden. Olivia fragte sich, ob sie am Durchdrehen war. Aber wenn im Team oder der Firma jemand der Strippenzieher war…
Sie setzte sich mit dem Tablet aufs Sofa. Irgendjemand musste ihre Reisepläne kennen und weitergegeben haben. Das Team. Das Reisebüro. HR, über die Notfall-Funktion. Eigentlich jeder, der mit einer kreativen Geschichte diese Information herausfinden wollte. Olivia schaute auf das Foto von Pascal. Informationsschutz, Cybersecurity. Das ging in zwei Richtungen … Was, wenn Pascal nicht ihren Laptop nachts im Hotel entwendet hatte, während sie schlief – ein beängstigender Gedanke – sondern ihre Daten über die offene WLAN-Verbindung abgezapft hatte? Sich in ihr System gehackt hatte?
Olivia sah auf die Uhr. Bald Mitternacht. Es gab nur eine Person, der sie zutraute, das herauszufinden. Mit ein bisschen Glück würde sie ihn vor den endlosen nächtlichen Glücksspielen am Computer erwischen. Danach, so hatte sie es in den kurzen zwei Jahren ihrer Beziehung gelernt, war es aussichtslos. Joe, ein intelligenter, gewinnender Typ. Liebevoller Freund, aufmerksamer Lover. Es war nicht leicht gewesen, sich von ihm zu trennen.
Olivias Finger verharrte über dem Namen auf dem Display. Zwei Monate war es her. Wenn er ein bisschen weniger auf seine Spiele fixiert gewesen wäre und mehr auf sie, hätte es vielleicht sogar funktionieren können. Sie schüttelte den Kopf. Die Trennung hatte sie genügend Mut gekostet und Joes zunehmend verzweifelte Versuche, sie zu halten, waren ihr unheimlich geworden. Vielleicht morgen. Heute würde sie es noch einmal auf eigene Faust versuchen.
Mitternacht
Olivia wandte sich ihrem Laptop zu. Ihre IT-Kenntnisse waren eher mittelmäßig, das wusste sie auch ohne Joes gönnerhafte Kommentare. Ein paar Dinge waren hängengeblieben, die er ihr gezeigt hatte. Das IT-Genie gewährt dem überwältigtem Publikum einen Einblick in sein Können. Olivia blickte aus dem Fenster. Wie naiv sie gewesen war.Sie prüfte zuerst ihre Netzverbindungen der relevanten Tage. Ja, sowohl in New York als auch in Paris war sie im Netz gewesen, über Hotel-WLAN. Hatte sie die sichere VPN-Verbindung gestartet? Nicht sicher, vermutlich nicht. Sie dachte an die zahlreichen Cybersecurity-Trainings und schluckte. Dann wechselte sie zu den Emails. Wann hatte sie Versionen versandt? Eine Viertelstunde später lag der Notizzettel vor ihr – in New York hatte sie nach Ankunft im Hotel einen Arbeitsstand an das Team versandt, nicht aber in Paris. Olivia lachte zum ersten Mal seit dem Meeting heute Vormittag. In Paris war sie in der „Brasserie chez Emmanuelle“ beim Essen gewesen, aber nicht im Netz.
Ok, nächster Ansatzpunkt. Die Nervosität war erst einmal weg. Olivia öffnete die Dokumente, legte einen neuen Zettel zurecht. Das hier bedeutete deutlich mehr Arbeit, unzählige Versionen zu prüfen. Sie begann mit dem Tag vor der NYT-Veröffentlichung. Zögerte. Doch noch einmal zurück zum Email-System. Vielleicht … eine verrückte Idee, aber konnte sich jemand in ihren Computer hacken, während er am Netz hing? Mit Sicherheit, aber sie hatte keine Ahnung, wie das funktionieren sollte. Trotzdem. Gesendete Elemente, nach Datum sortiert und mit Anhang. Mechanisch klickte sie in jede Mail, prüfte den Anhang, wenn es eine Projektdatei war, ein Blick in das Adressfeld, ok – Teammitglied, nächste Email.
Nichts. Keine verdächtige email im relevanten Zeitraum. Es sei denn – wenn jemand im System gewesen war, dann würde er die email ja wohl verschwinden lassen wollen. Olivia wanderte noch einmal zum Fenster, sah auf die mittlerweile ziemlich dunkle Stadt hinunter, fühlte sich als sehr einsames kleines Licht über dem Meer aus dunklen Fenstern und leeren Straßen. War da irgendwo jemand, der sie beobachtete? Ihre Wohnung, ihr persönlicher Rückzugsraum war nicht länger ein sicherer Hafen, sondern zum Glashaus geworden.
Olivia trat zurück. Verfolgungswahn? Egal, es bekam ja keiner mit. Sie setzte sich wieder an den Rechner, suchte nach der email der IT-Abteilung. Wiederherstellbare Elemente, die man – eigentlich – endgültig gelöscht hatte. Gefunden. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen öffnete Olivia ihren Browser und folgte den beschriebenen Schritten. Wie Malen nach Zahlen – die Kollegen von der IT trauten den Mitarbeitern wohl nicht viel IT-Sachverstand zu. Zu Recht, dachte sie jetzt grinsend.
Der Ordner war voller als gedacht. Olivia suchte sich wieder den relevanten Zeitraum heraus und klickte mechanisch durch die Emails. Wer hätte gedacht, dass … Stopp. Eine Email zurück. Kein Text – selten, aber nicht ausgeschlossen; normalerweise schrieb sie zumindest noch ein kurzes „Viele Grüße, O.“
Das Lächeln gefror, glitt langsam von ihrem Gesicht. Das hier war eine Weiterleitung einer Email, die sie an das Team geschrieben hatte, mit der zu der Zeit aktuellen Version des Abschlussberichtes im Anhang. Die Empfängeradresse war 3pde8k3md@gmx.de. Olivia schluckte hart. Sah auf den Zeitstempel der Nachricht. Dienstag 28. Januar, 16:27. Zu dieser Zeit hatte sie zehn Kilometer Luft unter sich und war von Pascal über diverse Jazz-Stile aufgeklärt worden. Acht Stunden ohne Internet.
Holy Shit. Shit. Olivia stand auf. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an. Sie sah auf die Uhr. Halb zwei. Was, wer. Warum. Wenn jemand in ihrem Outlook wildern konnte, wusste er dann auch, was sie gerade gefunden hatte? Wollte jemand an die Informationen, oder den Verdacht auf sie lenken? Oder beides?
Jans Hinweis auf ein Ermittlungsverfahren kam ihr in den Kopf. Hier war der Beweis, dass sie sensible Informationen an ein externes Email-Konto verschickt hatte. Oder vielmehr, dachte sie grimmig, dass jemand von ihrem Konto aus die Daten verschickt hatte. Nicht sie. Die Frage war, wer ihr glauben würde.
Olivia setzte sich wieder hin, rief die email auf, druckte sie aus. Leitete sie weiter an ihre private email. Scrollte weiter nach oben zu dem Zeitraum ihrer Parisreise. Dieses Mal musste sie nicht lange suchen. Die zu diesem Zeitpunkt aktuelle Version des Berichtes und des Excel-Modells mit allen Zahlen waren an die gleiche Adresse gegangen, während sie im Flieger nach Paris saß. Ruhig druckte sie auch diese email aus, leitete sie ebenfalls an ihre private email-Adresse weiter, und löschte dann ihre beiden emails aus ihrem „Gesendete Elemente“-Ordner und noch einmal aus dem Papierkorb.
Dann lehnte sie sich zurück. Jemand war in ihrem Outlook gewesen, vermutlich über Webmail, während sie im Flieger saß, und hatte sich an hochsensiblen Informationen bedient. Nur wer? Jemand, der sich mit Hilfe der Information bereichern konnte, der sich Zugriff auf ihren Rechner verschaffen konnte, und der ihre Reiseaktivitäten verfolgte. Pascal? Jemand im eigenen Team?
Die Information war Millionen wert. Wer auch immer sie abgezapft hatte, hätte am meisten davon, wenn die Quelle nicht öffentlich wurde. Was illusorisch war, dachte sie – sobald die Sache draußen war, würde es eine Ermittlung geben, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand auf ihre Emails stieß.
Olivia setzte sich langsam auf. Das hieße ja, dass der Schatten hinter ihr damit rechnete, dass sie ins Visier geriet. Vielleicht sogar nachhelfen würde, um von sich selbst abzulenken, bis er – oder sie – erfolgreich untergetaucht war. Das hieße aber auch, dass dieser Schatten, wer auch immer er war, noch ein paar Tage Zeit brauchte.
Sie begann zu frieren. Der Schatten konnte sich nicht leisten, dass sie das Spiel zu früh durchschaute.
Zwei Uhr morgens
Passwort ändern, sofort. Olivia rief den Task Manager auf, gab das alte Passwort ein, ein neues, wiederholen – und zögerte. Passwort ändern würde die Daten auf ihrem Rechner schützen. Aber nicht sie. Im Gegenteil, es würde es den Schatten nur darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmte. Mit einem Klick schloss sie den Task Manager. Erst nachdenken.Jemand wollte Informationen über die Transaktion zu Geld machen. Viel Geld. Olivia schloss die Augen. Wenn sie der Schatten wäre, wie würde sie vorgehen? Die Information nach Börsenbeginn veröffentlichen. Den Kursgewinn des einen und Kursverlust des anderen Unternehmens so schnell wie möglich zu Geld machen. Das Geld transferieren, am besten über mehrere Konten. Verschwinden. Eine Spur zu ihr legen – zum Beispiel die entsprechenden Emails anonym an die Polizei schicken. Das Email-Konto löschen.
Olivia hätte am liebsten gelacht. Dafür fehlten ihr Finanzmarktwissen, IT-Kenntnisse, einfach alles. Sie besaß lediglich die Informationen. Und damit … Das Lachen blieb stecken. Damit wurde sie zur zentralen Figur in diesem Spiel. Eine Schachfigur, die beliebig herumgeschoben wurde, ohne das Spiel zu kennen, und am Ende geopfert werden konnte.
Das Warum und das Wie wurden klarer. Aber wer? Olivia stand auf und ging zur Küche. Mechanisch schaltete sie die Espressomaschine an, schäumte Milch auf, ließ den Kaffee hineinlaufen. Im Moment hatte sie nichts in der Hand außer zwei Emails, die von ihrem Konto aus vertrauliche Informationen an eine externe Adresse versendet hatten. Wenn sie damit zu Jan ging? Zur Compliance-Stelle des Unternehmens? Zur Polizei? Mit dem Kaffee in der Hand stand sie in der unbeleuchteten offenen Küche und sah hinüber zum Sofa, wo die Stehlampe einen warmen Lichtkegel über den Tisch, ihren Rechner, die Ausdrucke, Notizen und Stifte warf. Ein Stillleben ohne Dame.
Jan, der Projektpartner. Simon, der Junior. Der dritte Kollegen im Team. Die übrigen Berater und Banker, die der Transaktion arbeiteten, im direkten Kontakt mit ihr vielleicht zwanzig. Die Auftraggeber – nur zwei oder drei Kontakte, wegen der großen Vertraulichkeit. Pascal? Emmanuelle? Jemand Unbekanntes, der sie als vielversprechende Schachfigur ausgespäht hatte? Nicht unmöglich, aber eher unwahrscheinlich. Es musste jemand sein, der von der Transaktion und ihrer Arbeit daran wusste. Zur Polizei gehen, dachte Olivia, gleich morgen früh.
Tief in Gedanken ging sie zurück zum Sofa. Jemand mit IT-Kenntnissen und Finanzmarktwissen. Oder vielleicht waren es zwei, der IT-Guru besorgte die Informationen und sein Kumpel machte sie zu Geld.
Joe.
Olivia hielt inne, die Kaffeetasse über dem Tisch in der Luft. Er konnte IT, kannte sie und ihre Gewohnheiten. Hatte er von dem Projekt erfahren? Details erzählt hatte sie nicht, aber dass sie an einem riesigen vertraulichen Thema arbeitete, hatte er natürlich mitbekommen. Ausdrucke und Unterlagen – überall nur Decknamen, aber mit etwas Kombinationsgabe … Seine wachsende Verzweiflung über ihre Trennung. Plötzlich erschien es möglich.
Drei Uhr morgens
Das Summen in ihren Ohren, die Stille um sie herum, das Gefühl, in einer Blase zu sitzen. Olivia setzte sich, stellte die Tasse laut auf den Tisch. Als ob das Geräusch ein Beweis sein konnte, dass das hier kein Traum war.Sie sammelte die Email-Ausdrucke ein, legte sie ordentlich zusammen. Sah auf ihr Handy – drei Uhr. Ihre IT-Kenntnisse mochten mickrig sein, aber einen Schuss hatte sie frei.
Das anonyme Email-Konto aufzurufen war die leichteste Übung. Passwort. Sie schloss die Augen, rief den Moment zurück, als Joe ihr sichere Passworte erklärt hatte. Halb hinter ihr stehend, ihre Finger schwebten über den Tasten. „Am besten eine zufällige Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Zum Beispiel die Anfangsbuchstaben eines Buchtitels.“ Sie hatte kurz überlegt. Pride and Prejudice war etwas kurz, aber wenn sie den Autor vorausstellte… Gott, wie naiv. Die Cybersecurity-Trainings waren gut. Aber völlig unbrauchbar, wenn man jemandem vertraute. Sie hatte das Passwort vor seinen Augen geändert. Vielleicht hatte er sie sogar heimlich gefilmt.
Ihre noch junge Karriere konnte sie wohl vergessen. Selbst wenn man ihr letztendlich glaubte; zunächst wäre sie Tatverdächtige in dem Prozess, und dann müsste sie erklären, wie man so unfassbar naiv mit sensiblen Daten umgehen konnte.
Morgen früh würde sie zur Polizei gehen und die Lawine ins Rollen bringen. Bis dahin hatte sie noch einen Versuch. Joes Passwort.
Eine Minute später lachte sie tatsächlich laut los. Joe war vielleicht ein IT-Genie, aber hielt sich offensichtlich für schlauer, als er war. Oder sie für dümmer. PAddG war klar – Per Anhalter durch die Galaxis war das einzige Buch, das er freiwillig gelesen hatte. Die 42 war offensichtlich, und an welcher Stelle sie zwischen die Buchstaben rutschte, nur noch eine Frage des Ausprobierens. Nach vier oder fünf Versuchen öffnete sich das Fenster mit dem Gruß „Welcome, Joe!“. Sie war drin.
Das Lachen verging Olivia in den ersten dreißig Sekunden. Die Nachrichten begannen vor dreieinhalb Monaten – kurz nachdem sie das Projekt gestartet hatte. Nirgendwo fanden sich Informationen über Sender oder Empfänger. Keine Anreden, keine Unterschriften. Kurze, knappe Anweisungen oder Fragen, etwas ausführlichere Antworten. Joe hatte regelmäßig ihre Emails überprüft, ihre Reiseprotokolle eingesehen und das Vorgehen und den Fortschritt des Teams dokumentiert.
Dass sie die richtigen Schlüsse gezogen hatte, war ein geringer Trost. „Der Schatten“ war der Strippenzieher im Hintergrund – Pascal? Egal. Joe nahm die Rolle des nützlichen Idioten ein.
Sie kniff die Augen zusammen. „Habe das Passwort – O ist noch dümmer, als ich dachte.“ Oh Gott. Je tiefer Olivia in das Postfach eindrang, desto unwirklicher fühlte es sich an. „O ist auf dem Weg zum Flughafen, über Frankfurt nach JFK. Wenn sie in der Luft ist, schicke ich das Zeug. Du kannst den Umschlag Mi früh in NY abwerfen.“
Dann, etwas weiter unten. „O will sich trennen. Tut mir echt leid, habe alles versucht, wirklich. Aber ich habe ja das Passwort. Und vorsichtshalber meinen Wohnungsschlüssel kopiert.“
Olivia setzte sich sehr langsam auf, sah zur Tür. Vielleicht reichte es nicht mehr, morgen zur Polizei zu gehen.
Vier Uhr morgens
Sie stand auf. Was, wenn der Schatten merkte, dass sie das Spiel kannte? Selbst wenn er jetzt zum Handeln gezwungen war, brauchte er noch – mit Blick auf die Uhr – mindestens zwölf Stunden, bis alle relevanten Börsen offen waren. Dann noch Stunden, vielleicht auch Tage, um den Gewinn zu Geld zu machen und zu transferieren. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung. Egal. Er braucht Zeit. Sie war dabei, ihm kurz vor dem Ziel diese Zeit zu nehmen. Und er wusste, wo sie wohnte.Olivia sah auf die Uhr. Fast vier. Jetzt schnell. Mechanisch öffnete sie emails, druckte die wichtigsten Nachrichten je zweimal aus. Hängte zehn oder fünfzehn emails an eine neue Nachricht an, schickte sie an ihre Privatadresse, dann die nächsten, und so weiter. Als sie damit fertig war, ging sie zu den gesendeten Nachrichten und löschte ihre Emails aus dem Ordner und aus dem Papierkorb. Meldete sich aus dem Email-Account ab, notierte Joes Namen, die Email-Adresse und das Passwort auf zwei verschiedenen Zetteln. Sie holte drei große Umschläge und verpackte die beiden Stapel in zwei von ihnen. Dann riss sie eine Seite aus ihrem Block, nahm einen Stift. „Hallo Jan. Bitte verwahre diese Unterlagen an einer sicheren Stelle, erzähle niemandem davon. Wenn ich mich nicht innerhalb der nächsten 24h bei Dir melde, übergib sie bitte der Polizei. LG, Olivia.“ Datum, Zeit, Unterschrift. Sie beschriftete den Umschlag mit Jans und den leeren Umschlag mit ihrem eigenen Namen. Den dritten Umschlag mit dem zweiten Stapel Ausdrucken ließ sie unbeschriftet.
Olivia stellte die leere Kaffeetasse in die Spüle und nahm einen Kaugummi aus der Box, um den schalen Geschmack zu vertreiben. Eine kurze Suche auf dem Tablet, dann hatte sie die wichtigsten Informationen für ihren nächsten Schritt. Geschafft. Sie ließ sich kurz auf Sofa sinken, rieb sich die Augen. Sie war seit fast 24h auf den Beinen, in einer surrealen Parallelwelt aus Schlafmangel und Erkenntnissen, die unglaublich genug waren, um vielleicht doch wahr zu sein.
Ein Geräusch im Hausflur ließ sie zusammenzucken. Einen Moment starrte sie versteinert auf die Tür zum Flur, sah vor ihrem inneren Auge Joe und einen Schatten in ihr Wohnzimmer treten.
Die Tür zur Nachbarwohnung schlug zu. Olivia stand auf. Sie musste verschwinden, sofort.
Der alte Stadtrucksack war schnell mit dem Notwendigsten gepackt, die drei Umschläge kamen dazu. Obendrauf Pass, Handy, Geldbeutel, ein paar Wertsachen. Die dunkle Jacke, dicker Schal, eine Wollmütze. Olivia stand im Flur, starrte auf ihre Wohnungstür und fragte sich, ob sie den Verstand verlor. War sie wirklich im Begriff, wie in einem drittklassigen Krimi halb verkleidet aus dem Haus zu schleichen?
Ihr Blick fiel auf den Rucksack und die Umschläge darin. Jemand hatte sie benutzt, um an sensible Informationen zu kommen. Diese Informationen waren sehr viel Geld wert. Joe war involviert, er wusste, wo sie wohnte, und besaß einen Schlüssel. Sie schüttelte den Kopf. 4:30 Uhr morgens nach einer durchwachten Nacht war nicht der beste Zeitpunkt, die Gefährlichkeit dieser Situation zu analysieren.
Olivia trat auf den Hausflur, schloss ihre Türe ab. Einer Intuition folgend nahm sie den Kaugummi aus dem Mund und stopfte ihn möglichst tief in das Schloss. Wenn wirklich jemand hineinwollte, ging das nun zumindest nicht mehr ohne Werkzeug. Sie lächelte etwas schief. Das galt natürlich auch für sie – ein Problem für später, und den Schlüsseldienst.
Fünf Uhr morgens, unterwegs in Hamburg
Olivia lief die Treppe hinauf und den langen Gang entlang bis zu einer Feuertür ganz am Ende, die zur Hintertreppe führte. Altbau war nicht nur hübsch, sondern hatte mit seinen Ecken und Winkeln und den ehemaligen Dienstbotenwegen noch ganz andere Vorteile, wenn man unauffällig verschwinden wollte.Minuten später stand sie im Hinterhof und spähte umher. Alles ruhig. Schnell lief sie zur rückwärtigen Mauer und öffnete die niedrige Tür, lief durch den kurzen dunklen Gang durch das Hintergebäude nach draußen. Leichter Regen hatte eingesetzt und die Straßenlaternen spiegelten sich in den dunklen Pfützen. Nie war es in einer Stadt so ruhig wie kurz vor Morgen, dachte Olivia und begann zu zügig in Richtung Bahnhof zu laufen.
„Sie ist nicht hier.“
„Warst Du in der Wohnung?“
„Nein, da…“
„Geh rein. Geh verdammt noch mal rein.“
„Kann ich nicht.. jetzt hör zu. Das Schloss ist verklebt, von außen. Sie ist nicht mehr da.“
„Und vorhin war Licht?“
„Vorhin war Licht.“
„Dann finde sie.“
Olivia lief an dem ersten Taxistand vorbei und erreichte die Taxen auf der Nordseite des Bahnhofs. Sie wählte einen Wagen in der Mitte der Schlange, klopfte ans Fenster und ließ sich in die abgewetzten Polster der Rückbank sinken. „Ganz schön früh unterwegs, junge Dame!“ Sie schaute aus dem Fenster. „Das ist so. Erst zur Großen Allee 54 bitte, dann geht es weiter.“
Während der Fahrer durch die menschenleeren Straßen fuhr, nahm sie ihr Handy aus dem Rucksack, stellte es auf lautlos, wickelte es in einen dünnen Schal und verpackte es in dem Umschlag mit ihrem Namen.
„So, hier sind wir.“ Olivia öffnete die Tür. „Einen Moment bitte, ich muss nur etwas einwerfen.“ Sie warf einen Blick nach oben, alle Fenster waren dunkel. Ein kurzes Zögern, dann warf sie die beiden Umschläge mit ihrem und Jans Namen in den einbruchsicheren Briefkasten der Firma. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nach eine weiteren Stopp am Geldautomaten nahm das Taxi Kurs auf den Flughafen. Olivia lehnte sich zurück und schloss die Augen. Passierte das alles wirklich gerade? Die Scheibenwischer bewegten sich rhythmisch hin und her und lullten sie ein. Entweder war sie auf der Flucht vor skrupellosen Straftätern, oder sie machte sich gerade zum größten Affen aller Zeiten. Sie würde es herausfinden.
„Im Büro, sie ist im Büro.“
„Woher weißt Du das?“
„Handystandort. Ich habe ihre Passworte. Ihr Handy ist im Büro.“
„Dann fahr hin, hol sie raus.“
„Wie denn?“
„Dein Job. Lass Dir etwas einfallen.“
„Und dann?“
„Weiß ich nicht, will ich nicht wissen. Du brauchst das Geld.“
„Ja.“
„Drei Tage. Notfalls auch zwei. Mehr brauchen wir nicht.“
6:15 Uhr morgens, Hamburger Flughafen
Das Ticket nach Frankfurt kaufte Olivia am Flughafen und bezahlte in bar. Durch die Sicherheitskontrolle ging sie zum Gate, wie schon so viele Mal zuvor. Aber dieses Mal war anders. Sie war nicht im Dienste ihrer Karriere unterwegs, sondern sie beendete sie gerade. Über den sicheren Umgang mit Daten würden noch eine Menge von den Sicherheitsleuten ihrer Firma hören. Bevor man sie rauswarf.Einen Moment lang schien sich Joes lange, schlaksige Silhouette aus einer Gruppe von wartenden Menschen heraus zu kristallisieren. Olivia erstarrte. Der Mann drehte sich um, sagte etwas zu seiner Gruppe, ein kurzes Lachen wehte zu ihr herüber. Nicht Joe. Olivia atmete auf. Ihr fehlte eine Nacht, sie stand unter Schock. Kein Wunder, dass sie Gespenster sah.
Der Flug wurde aufgerufen, während sie sich am Waschbecken in der kleinen Toilette Wasser ins Gesicht spritzte. Sie wartete noch ein paar Minuten, ging zum Gate und ins Flugzeug, ließ sich in ihren Sitz sinken. Der letzte Akt konnte beginnen.
Kurz vor acht Uhr morgens, Frankfurt
Ohne Handy unterwegs zu sein war ungewohnt und kompliziert. Nach Studium des ausgehängten Fahrplans saß sie wenig später in der S-Bahn nach Wiesbaden. Der vollbesetzte Wagen zuckelte durch die Vororte Frankfurts, an ein paar Feldern vorbei, wieder in bebautes Gebiet. Um sie herum saßen, lasen oder dösten Pendler auf dem Weg zur Arbeit, bei jedem Halt stiegen mehr Leute zu.Ein Mann mit schwarzem Hoodie und Kapuze ging mit festen Schritten nach rechts und links schauend den Mittelgang des Waggons entlang. Olivia drückte sich noch enger in die Ecke und zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Bevor sie sich abwandte, spürte sie, wie die dunklen Augen sie streiften, dann kam er auf sie zu. Hatte er sie erkannt? Der Schatten? Noch bevor die Gedanken vollständig in ihr erstarrtes Gehirn gedrungen waren, ließ er sich auf den freien Platz schräg gegenüber fallen, öffnete seinen Rucksack und nahm eine Zeitschrift heraus.
Olivia spürte ihr Herz klopfen, atmete tief durch. Auch wenn Joe oder der Schatten realisiert hatten, dass sie ihre Aktionen entdeckt und vielleicht auch mehr oder weniger vollständig durchschaut hatte, konnten sie nicht wissen, wo sie war. Kein Handy, über das Joe sie orten konnte, keine Kreditkartenabrechnung mit dem Flug, auch sonst keine Spur. Hoffte sie. Sie wollte jetzt einfach nur noch ankommen.
„Hast Du sie? Wo warst Du?“
„Im Flugzeug.“
„Wo, verdammte Sch… Wieso?“
„Sie hat ihr Handy im Büro gelassen, und ich bin auf Verdacht zum Flughafen gefahren. Ich kenne sie.“
„Und dann?“
„Habe ich den gleichen Flug genommen. Sie hat mich nicht gesehen, ich saß ganz hinten. Mein Konto ist im Arsch.“
„Dein Problem. Jetzt?“
„Wir sitzen in der S-Bahn Richtung Wiesbaden.“
„Scheiße. Warum Wiesbaden? Egal. Zieh‘ sie aus dem Verkehr.“
„Wie denn? Hier sind überall Leute.“
„Dein Problem.“
Halb neun Uhr morgens, Wiesbaden
In Wiesbaden stieg Olivia aus dem Zug und ließ sich mit dem Pendlerstrom zu den Bushaltestellen treiben. Etwas verloren sah sich sie nach den Hinweisschildern für die Buslinien um und entdeckte direkt vor ihr die Treppe zum Bussteig B, Linie 8. Fünf Minuten Wartezeit, laut der elektronischen Anzeigetafel. Fast geschafft.Wenig später stieg sie aus dem Bus und lief in einem kleinen Pulk von Pendlern von der Haltestelle auf ein imposantes Gebäude zu. Das Bundeskriminalamt.
Die Pendler steuerten zielstrebig die Drehkreuze an, wechselten ein paar Worte mit Kollegen, lachten. Ein ganz normaler Morgen kurz vor neun in einem deutschen Büro. Plötzlich unschlüssig blieb Olivia auf dem großen Vorplatz stehen.
„Liebling.“ Olivia fuhr herum. Diesem Mal war es keine Einbildung. Joe, keinen Meter entfernt. Unrasiert, mit unruhigen Augen und unendlich müde. Die Pendler waren bereits am Eingang, Olivia and Joe standen sie sich alleine gegenüber. „Komm mit. Ich will es Dir erklären. Bitte.“ Er streckte die linke Hand nach ihr aus. Sie wich zurück, sah eine glänzende Messerspitze in seinem rechten Ärmel.
Dieses Mal funktionierten ihre Reflexe. Olivia warf sich herum, umklammerte den Rucksack und begann zu rennen. Hinter sich hörte sie Joes Schritte. Sie wagte nicht, sich umzuschauen, rannte blindlings zwischen überraschten Männern und Frauen hindurch in das große Atrium. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sicherheitsbeamte in Alarmbereitschaft gingen, auf sie zukamen. Eine Pistole war auf sie gerichtet.
Olivia stoppte, hob halb die Hände. Ruhig ging sie auf den Empfang zu. Ein wachsames Gesicht auf der anderen Seite des Tresens. „Guten Morgen?“ „Guten Morgen. Mein Name ist Olivia. Ich möchte einen Verdacht im Bereich Wirtschaftskriminalität anzeigen. Ich glaube, ich bin gefährdet.“ Ein prüfender Blick. „Hier sind Sie erst einmal sicher. Bitte setzen Sie sich, es kommt gleich jemand zu Ihnen.“
Noch bevor sie sich umdrehen konnte, stand Joe neben ihr, die Hände ausgestreckt. Das Messer war verschwunden. Olivia spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie konnte nicht mehr rennen. Sie schrie. Ein Handy klingelte. Ein Sicherheitsbeamter setzte zum Sprung an, zog sie zur Seite, schob sich mit einer Körperdrehung zwischen sie und Joe. Sie verlor den Halt, stürzte auf den glatten Marmorboden. Die Zeit stand still.
Joe war alleine mitten im Raum, mehrere Waffen auf ihn gerichtet. Er hatte das Handy am Ohr. „Ich habe sie … jetzt nicht, keine Zeit. Muss weg hier. Melde mich.“ Joe beendete die Verbindung, ließ die Hand sinken, sah Olivia an. „Du hast gewonnen. Wenn er es merkt, bringt er uns um.“
Sie spürte seine Angst und Erschöpfung, Erleichterung und einen Funken Hoffnung. Er hatte seine Entscheidung getroffen, blickte zu den Sicherheitsbeamten. „Ich möchte aussagen.“
Olivia richtete sich langsam auf. Die Veröffentlichungen an den beiden Orten ihrer Geschäftsreisen. Die gemeinsamen Flüge mit Pascal. Die Begegnungen mit Emmanuelle. Hätte sie ohne die merkwürdigen Vorfälle Verdacht geschöpft? Sicher nicht ausreichend, um eine nächtliche Investigation zu starten und fremde Email-Konten zu hacken.
Ihre Naivität mochte ihrer Karriere einen Knick verpassen, aber sie würde sie nicht das Leben kosten. Es gab sie also doch, die glücklichen Zufälle.