Glück
Es war 3 Uhr morgens und er stand in seinem Badezimmer. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war, noch wie lange er hier schon stand. Das war nichts Ungewöhnliches. Er wusste, dass er schlafwandelte und war mehrfach an verschiedenen Orten aufgewacht. Doch dieses Mal war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Er blickte an sich herab und versuchte immer noch zu verstehen, dass dies wirklich war. Aber es änderte nichts: seine Kleidung, seine Hände, einfach alles war voller Blut. Langsam kroch die Panik in ihm hoch, doch er konnte sich nicht bewegen.
Das Klingeln seines Telefons erlöste ihn aus der Starre. Ihm wurde bewusst, dass es 5 Uhr morgens sein musste und er in einer Stunde seinen Dienst antreten musste. Leise glucksend schüttelte er den Kopf: für heute würde er sich wohl krankmelden müssen. Er schickte eine kurze Nachricht an seinen Chef, der auch ein sehr guter Freund von ihm war. Ihm war bewusst, dass er spätestens am Nachmittag mit einem Besuch rechnen musste. Das gab ihm den nötigen Elan: Er zog seine Kleidung aus und warf sie in eine Ecke. Darum würde er sich später kümmern. Das Wichtigste war jetzt eine Dusche. Er schrubbte das Blut und den Dreck solange weg, bis sein Körper rot glühte. Dabei ließ er das Wasser solange laufen, bis er sicher war, dass alles den Abfluss weggespült wurde.
Nachdem er sich angezogen hatte, packte er die schmutzige Kleidung in einen Müllsack. Was sollte er damit nur tun? Die einzige sichere Möglichkeit war, sie zu verbrennen. Da er dies schlecht im Hinterhof machen konnte, entschied er sich dazu, dies bei seinen Eltern im Ofen zu erledigen. Ihm würde schon eine Ausrede einfallen.
Während er einen Kaffee trank, versuchte er nachzuvollziehen, was eigentlich passiert war. Er konnte sich noch gut an den gestrigen Tag erinnern. Nach der Arbeit war er noch mit Kollegen in der Bar gewesen, sie hatten gegessen und getrunken. Aber es war nicht – wie üblich – ausgeartet und er wusste, wann und wie er nach Hause gekommen war. Er hatte dann sogar noch den Fernseher eingeschaltet und war anscheinend davor eingeschlafen. Was war also in der Zwischenzeit passiert? Er hatte keine Ahnung. Die Angst kroch in ihm hoch: Hatte er jemanden getötet? Oder jemanden zusammengeschlagen? Warum sollte er das tun? Hatte er sich gewehrt? Warum war er überhaupt nochmals aus der Wohnung gegangen?
Er hatte keine Antwort auf diese Fragen. Sicher war, dass er schlafwandelte. Aber noch nie war er dabei außerhalb seiner Wohnung gewesen. Hatte er vergessen, abzuschließen? Schlagartig fiel ihm ein: was, wenn er gar nicht draußen war? War etwas in seiner Wohnung geschehen?
Er stand auf und durchsuchte seine Wohnung: Küche und Bad waren unauffällig, das hatte er ja bereits gesehen. Vorsichtig schaute er ins Wohnzimmer: es war alles so wie immer. Auch im Schlafzimmer konnte er nichts Verdächtiges entdecken.
Das ließ nur eine Möglichkeit zu: er war außerhalb der Wohnung gewesen. Und wer weiß, was dort passiert war. Er war ein friedliebender Mensch und schreckte vor Gewalt zurück. Er konnte sich nicht erklären, was mit ihm passiert war. Sollte er auf die Straße gehen und sich umschauen? Vielleicht würde er etwas entdecken, dass das Blut an seinem Körper erklärte. Doch er fürchtete sich vor dem, was er entdecken könnte. Er raufte sich die Haare: wie um alles in der Welt sollte er herausfinden, was passiert war?
Plötzlich hörte er Sirenen, die immer lauter wurden. Nervös sprang er auf und blickte aus dem Fenster: Er sah Polizei und Krankenwagen in die Straße einbiegen und vor seinem Haus halten. Die Polizisten und Sanitäter liefen in den Eingang des Hauses gegenüber und bereits jetzt sammelten sich die Menschen davor. Die Polizisten bauten eine Absperrung auf. Ihm wurde heiß und kalt: Hatte er etwas damit zu tun? War dort die Lösung, was gestern Nacht passiert war?
Kurzentschlossen zog er sich an und ging auf die Straße. Er näherte sich langsam der Menschenmenge und fragte einen Passanten: „Was ist denn passiert?“ „Keine Ahnung – die haben noch nichts gesagt.“
Er beschloss zu warten. Eine halbe Stunde später wurde eine Trage mit einem Leichensack aus der Tür geschoben. Ein Raunen ging durch die Menge: eine Leiche wurde gefunden – das war etwas, was man nicht oft erlebte. Ihm blieb die Luft weg: hatte er etwas damit zu tun? Panisch lief er nach Hause. Er ging in seiner Wohnung auf und ab und beobachtete das Geschehen vom Fenster aus. Immer mehr Fahrzeuge der Polizei trafen ein. Ihm wurde bewusst: da war nichts Natürliches passiert. Die Polizei ermittelte. Das sah nach einem Verbrechen aus. Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Sollte er sich bei der Polizei melden? Sollte er verschwinden? Den nächsten Flug nehmen – egal wohin? Er raufte sich den Kopf – bald hatte er wohl keine Haare mehr. Er wusste weder ein noch aus.
Er versuchte, realistisch zu bleiben: Was konnte passieren? Es war ja gar nicht sicher, ob er etwas damit zu tun hatte. Das konnte alles nur Zufall sein. Und wenn, die Polizei würde doch gar nicht auf ihn aufmerksam werden. Oder doch? Hoffentlich hatte niemand gesehen, was passiert war. Und falls er dort gewesen war, hoffentlich hatte ihn niemand gesehen.
Da traf es ihn wie der Blitz aus heiterem Himmel: seine DNA war offiziell erfasst worden. Er bekam keine Luft und japste danach. Er hatte sich bereit erklärt, seine DNA bestimmen und erfassen zu lassen. Damals war es ihm egal gewesen. Und die damalige Untersuchung wurde dann kostenfrei durchgeführt. Jetzt konnte ihm der Entschluss von damals zum Verhängnis werden.
Er beruhigte sich: es war ja nicht gesagt, dass seine DNA gefunden wurde. Wahrscheinlich war er gar nicht dort gewesen. Doch ihm schauderte bei dem Gedanken: Was, wenn doch? Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Was sollte er nur tun? Wer konnte ihm helfen? Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt.
Es klingelte. Panik erfasste ihn, er konnte nicht atmen, sich nicht bewegen. Es klingelte nochmals und eine fremde Stimme rief: „Bitte machen Sie die Tür auf!“
Er bewegte sich langsam zur Tür und rief mit zitternder Stimme: „Ich komme!“ Er hatte keinen Spion und konnte sich nicht darauf vorbereiten, wer vor seiner Tür stand. Er drückte die Türklinke nach unten und machte die Tür auf. Vor ihm standen Polizisten – viele. „Sie sind festgenommen, drehen Sie sich um!“ Als ihm die Handschellen angelegt wurden, wurden ihm seine Rechte vorgelesen. Und ihm wurde klar, dass er damals einen Riesenfehler gemacht hatte. Hätte die Polizei seine DNA nicht gehabt, hätte er mehr Zeit gehabt. Zeit, zu verschwinden. Zeit, zu überlegen, was zu tun ist.
Jetzt hatte er ein großes Problem: er hatte keine Erinnerung an das, was passiert war. Die Polizei hatte DNA von ihm gefunden. Das waren eindeutige Beweise. Das war ein Riesenschlamassel.
Und zugleich fragte er sich: War er wirklich in der Lage, einen Menschen zu töten? Warum? Was war passiert? Er fand keine Antwort.
Sie waren auf der Straße angekommen. Die Menschenmenge von gegenüber hatte sich nun vor seinem Haus versammelt. Er wurde grob in ein Polizeiauto geschoben und die Tür wurde zugeschlagen. Wer weiß, was ihm jetzt bevorstand.
In der Menschenmenge stand ein Mann mit zufriedenem Gesicht. Er nickte und wandte sich von der Menge ab. Er zückte sein Telefon und tippte eine Nummer. Als er am anderen Ende ein „Ja!“ hörte, sagte er: „Der Auftrag ist erledigt. Unser Plan ist aufgegangen und der Kerl ist verhaftet.“ „Sehr gut. Was für ein Glück, dass uns dieser Kerl begegnet ist. Ein Schlafwandler, der uns bei dem Mord beobachtet und der zugleich die Schuld auf sich nimmt.“ „Ja, Glück muss man haben.“
Beide lachten und beendeten das Gespräch. Das Polizeiauto fuhr mit lauter Sirene los.