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Glück
"Mama, warst du früher glücklich und auch mit Papa?"
Ich habe gerade Mittagspause und mich in einem nahe gelegenen Café auf ein kleines Mittagessen und eine Tasse Kaffee niedergelassen. An einem Tisch neben mir sitzen eine ältere Dame und eine mittleren Alters. Beide Damen sehen gepflegt und attraktiv aus und verbringen offensichtlich einen gemütlichen Tag zusammen. Unwillkürlich werde ich Zeuge der Frage, die die Tochter ihrer Mutter stellt.
Ihr Gespräch hat sich unmerklich von alltäglichen Dingen zu einer tieferen Bedeutung entwickelt. Obwohl ich es absolut nicht mag, Gespräche zu "belauschen", spitze ich bei dieser Frage die Ohren und bin neugierig auf die Antwort der Mutter. Die erfolgt nach reiflicher Überlegung.
"Kind, das kann ich dir wirklich nicht sagen. Ich, wir haben damals nicht so über solche Dinge nachgedacht. Es war, wie es war. Wir haben uns verliebt, geheiratet, Kinder bekommen und wir hatten alle Hände voll zu tun. Dein Vater und ich, ja, wir haben uns geliebt. Aber wir haben das nie laut gesagt. Wir kümmerten uns einfach umeinander, so gut wir konnten, jeder auf seine eigene Weise. Dein Vater hat hart gearbeitet und Geld verdient. Ich habe mich um ihn, euch und den Haushalt gekümmert. Wir hatten nie wirklich Zeit, über unsere Beziehung nachzudenken, und ich hatte gar keine Zweifel. Hätte es auch anders, besser und angenehmer sein können? Zweifelsohne. Es ist uns damals einfach nicht in den Sinn gekommen, die Dinge anders zu tun". Die Tochter nickt und denkt sichtlich über die Worte ihrer Mutter nach.
"Aber was habt ihr getan, als ihr euch gestritten habt? Wir als Kinder haben das je kaum bemerkt." Fasziniert warte ich auf die Antwort.
"Natürlich hatten wir unsere Meinungsverschiedenheiten! Dein Vater war ein Schatz, konnte aber, wie du weißt, manchmal auch sehr schwierig sein. Damals war es eben bei uns und auch in anderen Familien, die wir kannten, ein ungeschriebenes Gesetz, Streitigkeiten oder Worte nicht in der Öffentlichkeit oder vor den Kindern auszutragen. Das tat man einfach nicht. Wir haben daher immer versucht, sie unter einander zu lösen. Das ist uns nicht immer gelungen, aber dein Vater und ich haben unser Bestes getan, um euch nichts merken zu lassen. Aber warum fragst du so?" Die Tochter seufzt.
"Na ja, Zwischen Robert und mir stürmt es manchmal besonders heftig. Wir haben uns zurückgehalten, als die Kinder noch zu Hause waren, aber jetzt, wo Elly als letzte ausgezogen ist, wird es nur noch schlimmer. Robert gibt meinen Wechseljahren die Schuld, und ich verändere mich tatsächlich, sage auch mehr meine Meinung, aber ich glaube nicht, dass das die einzige Ursache für unsere Spannungen ist. Manchmal habe ich einfach die Nase voll von allem."
Ein Lächeln huscht über das Gesicht ihrer Mutter. "Ach, du glaubst, dass es bei uns anders war, nachdem ihr ausgezogen wart?"
Einen Moment lang scheint die Mutter in ihren Erinnerungen zu verschwinden. Ihre Tochter schaut sie lange und aufmerksam an.
"Das hast du aber nie erwähnt", sagt sie dann.
"Warum auch?", antwortet ihre Mutter. "Hätten wir euch damit belasten sollen? Das hätte doch keinen Sinn gemacht."
"Nein, nicht unbedingt, obwohl wir für euch da gewesen wären, das weißt du. Aber wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vielleicht besser auf diese Phase meines Lebens vorbereitet gewesen. Jetzt habe ich manchmal keine Ahnung, was mit mir passiert.
"Mach es dir nicht zu schwer, Liebes." Die alte Frau nimmt liebevoll die Hand ihrer Tochter.
"Wie heißt diese Fernsehsendung noch mal? Gute Zeiten, schlechte Zeiten"? Und ist das nicht genau das, was man sich in einer Ehe gegenseitig verspricht? Dass man immer füreinander da sein wird? Für uns war das eine Selbstverständlichkeit, und wir vertrauten darauf, dass nach den schlechten Zeiten auch wieder gute Zeiten kommen würden. Ich kann dir leider keinen Rat geben, Robert und du, ihr müsst das selbst herausfinden. Aber hab Vertrauen in dich selbst."
Die Mutter drückt sanft die Hand ihrer Tochter und fragt dann: "Sollen wir um die Rechnung bitten und den Markt besuchen? Alleine schaffe ich das nicht mehr."
Mit vollem Herzen verlange auch ich die Rechnung und verlasse kurz darauf zusammen mit den beiden Damen das Café. Als sich unsere Blicke zufälligerweise treffen, nicke ich der älteren Dame freundlich zu.
War das Leben früher wirklich so einfach, und Glück so normal? Ich werfe einen Blick auf meine Handtasche, in die ich heute Morgen die Papiere für den Antrag meiner Scheidung gesteckt habe. Die Handtasche fühlt sich jetzt viel schwerer an als noch heute Morgen.