- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Glück
Tom öffnete die Tür und blickte in die kleine Arena. In ihrer Mitte standen ein Tisch und zwei Stühle mit je einem kleinen Eimer. Auf dem Tisch lag im Lichtkegel eines Scheinwerfers gut sichtbar ein Revolver.
Tom fixierte die Rückenlehne des Stuhls und holte Luft. Er ging vier unbeholfene, aber schnelle Schritte und stützte sich mit seinem schweren Oberkörper auf die Lehne wie ein Greis auf seine Gehhilfe. Den Blick fest auf die Sitzfläche gerichtet, umkreiste er den Stuhl und setzte sich. Unwillkürlich legte er seine schwitzigen Hände ineinander, die Ellenbogen auf die Stuhllehnen und starrte auf den staubigen Bretterboden.
Um Tom herum wurde es ruhig - offenbar war es laut gewesen. Erst jetzt bemerkte Tom die Menschen, die an einem Geländer etwa vier Meter über ihm im Kreis standen und nun nach und nach ihre Gespräche ruhen ließen. Weit geöffnet jagten Toms Augen von einer Person zu nächsten, ohne mehr als eine undurchdringliche Wand aus Gesichtern wahrzunehmen.
Als es totenstill war - nur eine Frau sprach noch halbaut vor sich hin oder mit jemand anderem, Tom nahm sie kaum wahr -, öffnete sich in der Wand gegenüber eine weitere Tür, die Tom bis eben noch nicht bemerkt hatte. In ihr stand ein junger Mann. Er war gut gebaut, hatte anders als Tom noch all seine blonden Haare auf dem Kopf und ein auffallend schönes, ebenmäßiges Gesicht. Aber seine Mundwinkel verzogen sich bitterlich auf dem Weg zum Stuhl, die Schultern sackten zusammen und rutschten nach vorne und seine Hände wurschtelten nervös an seinen Hosentaschen herum. Als der Unbekannte seinen Stuhl erreichte, war er von einem Häufchen Elend nicht mehr zu unterscheiden. Kurz trafen sich ihre Blicke. Und sofort wandten sie sich wieder voneinander ab. Tom schluckte.
Aus derselben Tür folgte ein vielleicht sechzig Jahre alter, hagerer Mann im Smoking. In einer Hand hielt er ein rotes Tuch, mit der anderen legte er zwei Patronen auf den Tisch und ließ eine dritte in seiner Brusttasche verschwinden. Ohne zu zögern nahm der Mann den Revolver auf, öffnete die Trommel und legte die erste Patrone in eine der sechs Kammern, schloss die Trommel, zielte auf den Boden und zog ab. Der Knall war ohrenbetäubend. Irgendwo schrie eine Frau - klang es entzückt? -, und Toms Magen drehte sich. Er würgte mit aller Macht, die seinem leeren Magen verblieb, in Richtung des Eimers neben sich, ohne ihn auch nur annähernd zu treffen. Tom starrte auf den kümmerlichen Fleck Erbrochenes, mehr flüssig als fest, gelblich-grüner Schleim.
Der Mann im Smoking kramte ungerührt eine große, goldene Münze aus der Tasche. Er schnippte sie in die Luft, fing sie und klatschte sie mit der flachen Hand auf die Mitte des Tisches. Dann schob er sie langsam in Toms Richtung, bis sie über einer identischen, in den Tisch eingelassenen Münze lag, die Tom erst jetzt bemerkte. Das Profil eines Adligen blickte würdevoll an ihm vorbei.
Plötzlich wurde es unruhig in der Menge oben an der Brüstung. Tom hörte Rufe und sah Hände nach oben schnellen, in ihnen wedelnde Bündel grüner, gelber und lila Geldscheine. "Drei auf Aufgabe des Dicken in Runde zwei! - Seven on the tall guy's death in round one!" Ein Schauer jagte Toms Rücken herunter und er schüttelte sich kaum sichtbar. Mit ein bisschen mehr Glück könnte er dort oben stehen. Stattdessen sah er dem Mann im Smoking zu, wie dieser den Revolver wieder in die Hand nahm und - nachdem das Gewusel von oben nachließ - in die Luft hielt. Er öffnete erneut die Trommel, ließ die leere Hülse herausfallen und legte die zweite Patrone ein. Dann warf er das rote Tuch über den Revolver und drehte darunter die Trommel - ein Mal, zwei Mal, drei Mal -, sodass sie insgesamt vielleicht zehn Sekunden lang surrte. Eine Klingel ertönte und die Zuschauerränge verstummten. Nur eine Frauenstimme hallte noch nach, irgendwo zu Toms Linken, aufgeregt und laut. Der Mann im Smoking reichte Tom den geladenen Revolver.
Geschmeidig glitt der hölzerne Griff in Toms glitschige rechte Hand. Der Revolver wog sicher zwei Kilo und strotzte vor Gewalt. Toms Mund war trocken und schnappte nach Luft, ohne sich zu öffnen. Fünf zu eins standen seine Chancen, Runde eins zu überleben. Was hätte er für solch eine Quote gegeben, als er noch versuchte, das Ersparte seiner Mädels zurückzugewinnen. Beider Leben hatte er verspielt. Und jetzt saß er da, und kriegte die Waffe nicht hoch.
Tom runzelte die Stirn und starrte mit kalter Wut auf das Ding in seiner Hand. Dann führte er es mit einer stockenden Bewegung nach oben, sein Herz in der Panik seines Lebens, presste die Mündung gegen seine verschwitzte Schläfe, um das Zittern seiner Hand zu stoppen, sog Luft durch seine zusammengepressten Zähne, kniff die Augen zusammen, erfühlte den Abzugshebel mit seinem Zeigefinger - und erstarrte. Und so saß er da, fertig angerichtet, nahm nichts wahr als das viel zu heiße Scheinwerferlicht auf der Glatze und das kalte Metall an der Stirn. Sein Kopf war leer, als hätte er Platz geschaffen für die Kugel im Lauf des Revolvers.
Und wieder diese Frauenstimme, erst unverständlich, dann laut und gebieterisch: "Drück ab, du Feigling!" Und Tom drückte ab, mit Wucht, der Hahn der Waffe holte aus und schnellte zurück auf eine der sechs Kammern und - "klick" - nichts geschah. Tom riss die Augen auf und hämmerte die Waffe vor sich auf den Tisch. Er beugte sich in Richtung des Eimers neben sich, würgte kurz, aber spuckte nicht. Mit dem Ärmel seines besten Jackets wischte er sich den Schweiß von Stirn, Wangen und Oberlippe. Er spürte, wie sich Atem und Herzschlag ganz langsam beruhigten und das Zittern seiner Hand nachließ. Aber das Adrenalin war noch da. Und er kannte es, kannte es nur zu gut, diese Droge seines Lebens. Wie eine Insel nach einem Erdbeben stieg aus einem Meer aus Todesangst ein Funke Lust in ihm auf. Ganz zart erst, aber doch unverkennbar, dieselbe Lust, die ihn die letzten Jahre ins Casino und zum Pokern in Hinterzimmer in ganz Europa trieb. Die Lust am Alles-oder-nichts.
Auf den Rängen brach wieder Hektik aus. Tom hob seinen zurückgewonnenen Kopf und suchte den linken Teil der Ränge vorsichtig nach der Frau ab, die ihn eben herausgefordert hatte. Sein Blick strich vorbei an wohlgekleideten Männern zwischen vierzig und siebzig, vorbei an aufreizenden jungen Frauen und kleineren Gruppen junger Männer. Alles war in Aufruhr, alles bis auf ein Augenpaar, das Tom offenbar schon eine Zeitlang fixiert hatte, und ihn nun mit Spott und Abscheu erwartete. Sie hatte ein bildhübsches Gesicht, trug ein hautenges, knallrotes Kleid über einem schlanken Körper und hielt lässig eine Zigarette in der rechten Hand. Tom wusste sofort, dass sie ihn heute sterben sehen wollte. Nicht irgendjemanden, sondern ihn.
In Toms rechtem Augenwinkel machte sich der Mann im Smoking daran, den seit Toms Etappensieg geschrumpften Schönling gegenüber in den Abgrund zu schicken. Die Trommel surrte, das Publikum verstummte, der Schönling ergriff den Revolver und Tom wünschte sich gar nicht so insgeheim einen lauten, einen gewaltigen, einen alles zerreißenden Knall. Sein Gegenüber tat sich noch schwerer als Tom. Er hielt den Revolver mit etwas Abstand zur Schläfe und die Waffe wand sich wie ein wilder Schlangenkopf in der Luft. Tom ertrug es nicht und blickte zur Seite, unwillkürlich in Richtung des kalten Augenpaars über dem roten Kleid. Es hatte wieder auf ihn gewartet, und gerade als Tom es gefunden hatte, hörte er ein sanftes "klick", und der zarte Mund unter den harten Augen brach in ein schallendes Lachen aus, noch bevor Tom sich zum Tisch zurückdrehen konnte.
Mit dem Ende von Runde eins stieg Toms Puls wieder an. Aber sein Kopf war klarer als noch zuvor. Er begann zu kalkulieren. Hunderttausend hatten sie ihm versprochen, plus fünfundzwanzigtausend Bonus, falls sie bis Runde drei kämen. Für jedes freiwillige doppelte Abdrücken kämen fünfundzwanzigtausend hinzu. Runde zwei würde so ablaufen wie Runde eins. Die Chance, dass er davon käme, lag an sich wieder bei fünf zu eins. Würde er zwei Mal hintereinander abdrücken, läge sie nur noch bei zwei zu eins.
Als Tom den Revolver wieder in der Hand hielt, war er schon leichter als beim ersten Mal. Trotzdem schmerzte sein Rücken vor Anspannung, als er wieder mit geschlossenen Augen dasaß und Luft holte. Die Waffe lag in seiner Hand vor ihm auf dem Tisch. Er versuchte, seinen Atem zu kontrollieren und alles um sich herum auszublenden. So wie er es unzählige Male vor wichtigen Turnieren getan hatte. Toms Gesichtszüge entspannten sich ein wenig und seine Atemzüge wurden ruhiger. Er suchte nach dem Funken Lust und versuchte, sich die Kugel im Lauf als eine leichte Roulettekugel aus Plastik vorzustellen. Wenn er sich schon nicht unter Kontrolle hatte, würde er wenigstens simulieren. Wie viele Gegner hatte er so schon besiegt? Tom öffnete seine Augen und hob die Hand mit dem Revolver. Nichts zitterte. Während er die Waffe an den Kopf führte, blickte er in die verängstigten Augen einen Meter vor sich. Toms Mund war gleichgültig, die Stirn glatt und mit nicht mehr benetzt als ein paar Schweißtropfen direkt am Haaransatz, einmal rund um den Kopf. Sobald die Waffe an Toms Schläfe ruhte, drückte er ab, ohne zu zögern. Nichts als ein "klick". Und sofort noch einmal. "Klick." Der Schönling verlor noch mehr Blut im Gesicht, während die Schickeria über den Doppelschlag in große Aufregung ausbrach. Tom blickte nach links oben, fand die Frau in Rot und starrte sie regungslos an, bis er in den noch immer spöttischen Gesichtszügen leise Zweifel zu erkennen glaubte – oder war es Angst? Langsam legte Tom die Waffe ab, als wäre sie eine viel zu teure Vase, die er in einem Geschäft aus Versehen in die Hand genommen hatte.
Toms plötzlicher Mut beflügelte die Spekulationen der Zuschauer. Verluste wollten mit riskanteren Wetten oder höheren Einsätzen wieder wett gemacht, Gesichter vor der weiblichen Begleitung gewahrt werden. Tom war nun im Spielermodus und hatte seine Mimik unter Kontrolle. Der Hund gegenüber mied seinen Blick und knetete wahlweise seine Hose oder den eingezogenen Schwanz. Tom war zu allem entschlossen. Das Spiel seines Lebens gehörte ihm.
Der Junge war wieder dran - und hatte Glück. Leer hallte das Echo des Hahns durch den Raum - wieder ein Jauchzen von den Rängen -, aber alles wartete ab, ob er ebenfalls ein zweites Mal abdrücken würde. Doch einen Augenblick später lag der Revolver wieder mutlos auf dem Tisch. Runde drei also, seufzte etwas tief in Tom.
Die Aufregung im Saal stieg noch einmal an. Denn Runde drei würde das Spiel definitiv entscheiden. "Klassisch" hatten sie Runde drei genannt. Oder vielmehr er, der Russe. Tom hatte nach schmerzlosen Selbstmordvarianten gesucht, nach denen ihn Bine nicht von der Straße oder dem U-Bahn-Gleis würde kratzen müssen. Dann schrieb ihm in einem Forum "TheRussian" an und fragte, ob es um Geld gehe. Tom bejahte. "How much?" - "800K in total, at least 200K to survive. Euros." Zweihunderttausend Schulden hatte er mittlerweile bei verschiedenen Rockern. In wenigen Tagen würden sie durchschauen, dass er das Geld nicht würde zurückzahlen können. Er war ohnehin so gut wie tot. Und bevor sie sich gegen seine Familie wandten, sie bedrohten und ihn unter Druck setzten, da doch lieber freiwillig den Abgang machen. "I might have a solution for your troubles", hatte der Russe geantwortet, und erzählte Tom von einem "exklusiven" Glücksspiel mit hohen Chancen für den Sieger. "... And finally, round three is classic: one bullet, gun passes from one player to the other until the gun blows, without in between spinning. Double clicks are possible in round three also."
Tom würde auch in Runde drei beginnen. Er war nun nach außen vollkommen ruhig und hatte sich einen Plan zurecht gelegt, an den er sich - das war essentiell - unbedingt halten würde: Erst zwei Mal hintereinander, dann Schuss drei durch den Jungen, wenn der sich traute, Schuss vier durch Tom, Schuss fünf durch den Jungen. Vor Schuss sechs würde Tom aufgeben. Denn gewinnen könnte er dann nicht mehr - und dann doch lieber ohne Publikum den Abgang machen. Wenn er dann noch lebte.
Ein letztes Mal brachte der Mann im Smoking den Revolver zum Surren und überreichte ihn Tom. Tom führte die Waffe an den Kopf, drehte sich dabei in Richtung der Frau in Rot und beschoss sie mit Genugtuung, während der Hahn wieder eine leere Kammer traf. Mit seinem breitesten Grinsen wandte er sich dem Jungen gegenüber zu und drückte ein zweites Mal ab. Wieder geschah nichts.
Die Menge tobte. Sowas hatte sie noch nicht gesehen. Tom war zufrieden. Die fettesten Männer schrieen neue Wetten durch den Saal. Der Mann im Smoking zupfte etwas nervös an seiner Fliege und machte unwillkürlich einen kleinen Schritt vom Tisch zurück. Tom schob die Waffe betont langsam über den Tisch. Er war sich sicher: Der Junge würde nun aufgeben. Das wäre ihm zu viel. Und tatsächlich rutschte sein Gegenüber noch nervöser auf seinem Stuhl herum als bislang. Nur noch zwei zu eins stehen deine Chancen, du kleiner Welpe, wollte Tom ihm zurufen. Aber Sprechen war verboten. Stattdessen starrte Tom ihn unentwegt an, ohne dass der seinen Blick erwiderte. Nachdem die Wetten platziert waren, griff der Junge zur Waffe und drückte ab. Nichts passierte. Und Tom begann wieder zu schwitzen. Denn der Verräter machte keine Anstalten, die Waffe wieder auf den Tisch zu legen. Er hielt sie in der Hand und schien sich zu sammeln. Je länger er so verharrte, umso lauter wurde das Publikum. Keiner hatte mit einem weiteren Abdrücken gerechnet. Würde er es noch einmal wagen, stünden Toms Überlebenschancen beim nächsten Versuch nur noch bei eins zu eins. Und viele Leute im Saal hätten viel Geld verloren.
Aber der Junge ließ nicht locker. Tom sah zu, wie er sich in einer mutigen Idee festbiss. Nur die Fassung bewahren, dachte Tom, nur cool bleiben. Sein Gegenüber hob langsam wieder die Waffe in Richtung seiner Schläfe. Sein Blick war so entschlossen wie den ganzen Abend noch nicht. Aus dem Publikum kamen zornige Beleidigungen. Nur die Frau in Rot schrie dem Hund Mut zu. Tom ignorierte sie und starrte durch sein Gegenüber hindurch auf die karge Steinwand dahinter. Nur verschwommen nahm er wahr, dass der Junge ein zweites Mal abdrückte.
Der Knall war noch lauter als der Testschuss des Manns im Smoking. Der Schönling hatte sich sein halbes Gesicht weggeschossen. Der Kopf war aufgeplatzt, das rechte Auge verschwunden, das linke hing halb aus der Höhle heraus. Langsam kippte der große, athletische Körper zur Seite. Es war mucksmäuschenstill.
Tom schmeckte Eisen auf seiner Zunge. Offenbar hatte er mit offenem Mund gestarrt. Er sprang auf und riss die Arme in die Höhe. Mit geschlossenen Augen schrie er, so laut er konnte. Noch nie hatte er sich so großartig gefühlt, noch nie einen solchen Sieg errungen. Er öffnete die Augen und drehte sich, die Arme weiterhin erhoben, wie ein Boxer um die eigene Achse, ekstatisch. Vereinzelt ließen sich die Zuschauer zu anerkennendem Klatschen bewegen. Die Frau in Rot war verschwunden - oder lag sie nur zusammengesackt auf dem Boden? Tom meinte, durch die Menge hindurch einen Rotschimmer zu erkennen, aber was interessierte es ihn. Triumphierend blickte Tom zum Mann im Smoking, der ihn mit einem Nicken in Richtung der Tür lotste, aus der Tom vor zwanzig Minuten gekrochen war. Nach einem kurzen Blick auf den schönen toten Mann am Boden wandte sich Tom zur Tür und schritt mit einem Lächeln aus der Arena.
Er lächelte auch noch, als er eine Minute später tot in seinem eigenen Blut auf dem Boden der Katakomben lag, hinter ihm der Mann im Smoking mit dem Revolver in der Hand.