Was ist neu

Glück

Mitglied
Beitritt
13.02.2003
Beiträge
6

Glück

Glück


Robert wollte eigentlich nie so enden. Jetzt schien er der Spiesser, der im Anzug in eine Trend Disco sitzt zu sein. Der schlimmste Alptraum eines Teenagers. Dennoch schien ihm diese junge Dame, welche von einem Jugendlichen wohl ebenfalls als Spiesser abgetan worden wäre, mit ihren steten Blicken etwas mitteilen zu wollen. Sollte er den entscheidenden Schritt wagen? Sie gar ansprechen. Eigentlich war ihm nicht nach weiblicher Gesellschaft zu Mute, in den letzten Jahren war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Das Gefühl ein Grabstein zu sein, der in einer Gewitternacht auf einem düsteren, verwahrlosten und einsamen Friedhof stand, schutzlos dem Regen ausgesetzt, dazu verdammt verlassen zu sein, für eine Person zu stehen die nicht mehr existiert, dieses Gefühl war ihm inzwischen vertraut. Doch vielleicht war diese hübsche Brünette mit dem kantigen Gesicht, auf welchem die roten Lichter ein anziehendes Schattenspiel vollzogen, diejenige, die ihm Blumen hinlegen würde, ein paar Minuten dastehen und an seine Personen denken würde.
Eine lallende Stimme riss in jäh aus seinen Gedanken: „Rob! Was ziehst du wieder für ein Gesicht? Komm und amüsier dich mit mir und den Anderen!“ Robert versuchte seine Angewidertheit, die sich in ihm aufbaute als er seinen betrunkenen Freund betrachtete, runterzuschlucken. „Nein, danke, Phil. Ich bin nicht in Stimmung.“ Phil setze einen gelangweilten Ausdruck auf und entgegnete: „Das warst du nie seit deine Frau gestorben ist! Gib dir mal einen Ruck, es gibt hier viele nette Mädchen.“ Robert seufzte tief. „Eigentlich gibt es vor allem eines, das mir gefällt.“ Er nickte unauffällig zu dem Mädchen an der Bar. „Na also, geh hin und sprich sie an!“ Phil hatte das laut genug gesagt, damit das Mädchen den Kopf zu ihnen drehte. Jetzt oder nie dachte Robert und stand auf. Er bewegte sich auf sie zu und sprach sie an. Sie lächelte erfreut, anscheinend hatte sie darauf gewartet.
Robert hatte nie Probleme gehabt mit Frauen zu reden. Und so verlief es auch diesmal ohne Probleme. Zwei Stunden später hatte er ein Rendezvous in der Tasche.
Als er seinen Blick von der Decke abwandte und sich zu seiner Frau drehte glitt ein Lächeln über seine Lippen. Sie war noch genau so schön wie vor zwei Jahren als er sie in der Bar angesprochen hatte, obwohl sie jetzt schon im 6. Monat schwanger war. Sie war schön, auch wenn sie selbst es beschämend fand und es nicht mochte wenn er sie so anstarrte. Sie fühlte sich dick wie sie sagte.
Der Friedhof war leer, stattdessen war eine Wiese da. Kein Grabstein der verwittert. Saftiges Grün und blühende Blumen, Sonnensschein statt Regen. Die Frage ist ja ob man ohne eigene Erfahrungen durchs Leben kommt. Robert hatte sich vor vier Jahren, als seine erste Frau gestorben war, gewünscht es wäre möglich. Dem Schmerz zu entweichen, nie etwas riskieren, andere für sich leben lassen. Ein Leben ausserhalb des eigenen Lebens zu führen irgendwo, jemanden die Kontrolle über sein Leben geben. Doch das war vorbei. Er war froh sein Leben zurückgeholt zu haben, jede Erfahrung war dem werdenden Vater recht. Er strich Julia über den Rücken und schlief dann wieder ein.
Wann ist ein Mensch glücklich? Glück ist im Grunde nur durch den Neid anderer Personen definiert. Wenn man beneidet wird, wenn man etwas Beneidenswertes hat ist man glücklich. Deshalb gibt es kein Glück für die Menschen, wenn jemand etwas hat, fehlt es jemand anderem. Die Illusion alles zu haben kann man solange aufrechterhalten wie man weiss, dass einem nichts fehlt, doch sobald einem etwas fehlt merkt man, dass man gar nichts hat. Das Glück scheint einen verlassen zu haben. Hoffnung machte sich in Robert breit, er wird nichts mehr verlieren und somit immer von jemandem beneidet. Irgendjemand beneidet einen immer, weil man immer etwas hat, dass jemand gerne hätte. Doch das vollkommene Glück, das war es das Robert zu haben schien: Eine wunderschöne Frau, frischer Vater und seit es ihm persönlich besser ging, hatte er auch beruflich mehr Erfolg.
Als er am Abend des nächsten Tages nach Hause kam, sass Julia weinend auf der Bettkante. „Was ist los?“ Angst machte sich in seinen Augen breit. Diese Angst, die einem Augen und Ohren offen hält, obwohl man vor lauter Angst weder hören noch sehen will. Tausend Gedanken schossen ihm in den Kopf, doch nur einer blieb: Das Kind. „Julia, bitte was ist passiert?“ – „Ich wurde entlassen, in meinem Vertrag stand, dass ich eine Schwangerschaft spätestens im vierten Monat melden muss. Das habe ich nicht getan!“ – „Beruhige dich“ er nahm sie in den Arm „das ist kein Problem, uns geht es gut. Wichtig ist unser Kind, alles andere ist Nebensache. Du hättest ohnehin aussetzen müssen…“ – „Ich kann nicht den ganzen Tag hier Rumsitzen, das halte ich nicht aus“ Ihr Blick schien unruhig in dem inzwischen dunklen Zimmer umherzuschweifen. "Ich muss mich hinlegen, ich brauche etwas Ruhe“ sagte Julia. „Ja, ist gut. Ich treffe mich in 20 Minuten mit Tim zum Bowling. Aber ich kann es auch absagen, wenn du möchtest, dass ich bei dir bleibe…“ – „Nein schon in Ordnung geh und amüsier dich..“
Robert blickte nochmals besorgt zu Julia, zuckte dann mit den Achseln und verliess das Appartement.
Als er zurückkam fiel ihm auf wie ruhig es war. Es war nun stockdunkel, doch irgendwie wirkte diese Dunkelheit nicht wie sonst. Ihm wurde bewusst wie zerbrechlich sein Leben war, die Heirat mit Julia nach nur eineinhalb Jahren wurde von vielen als überstürzt empfunden. Dennoch war er seiner Sache sicher. Er wusste, dass Julia nicht der Typ von Frau war die alles auf die leichte Schulter nimmt, sie geriet in den letzten Jahren mehrere Male aus der Bahn, aber er konnte sie immer retten. Vor einem viertel Jahr war sie in einer psychiatrischen Klinik, es hiess sie sei manisch-depressiv und ihr wurden Medikamente verschrieben. Doch die musste sie aufgrund der Schwangerschaft absetzen. Robert wollte nichts mehr als in der friedlichen Illusion der Vollkommenheit leben. Ihn überkam die plötzliche Angst, dass er eines Morgens aufwachen könnte und herausfinden, dass er nichts hatte. Er war immer für Julia da und hatte auf sich selbst verzichtet um sie aus ihren Tiefs zu holen. Warum sollte das alles umsonst gewesen sein?
Er öffnete die Türe. Sofort kam ihm der säuerliche Geruch von Erbrochenem entgegen. Sie ist schwanger, vielleicht hat sie zu viele Salzgurken gegessen, er versuchte sich zu beruhigen, in seinem Geiste seine glückliche Zukunft schwinden sehend. Die Küche war leer. Der Grabstein schien langsam aus dem Boden durch den, von den ersten Regentropfen feuchten, Rasen zu brechen. Er war nie weg. Er war nur unter die Erde gesunken. Für eine Weile. Doch noch war er nicht ganz sichtbar. Er ging ins Wohnzimmer. Auch leer. Sein Atem wurde schwer…er hatte Angst. Die Stimme des Leiters des Sanatoriums kam ihm in den Sinn: „Im Nichts lässt es sich nicht leben, aber mit Nichts lässt es sich durchaus leben. Ihre Frau ist von schweren Depressionen betroffen und stark Suizid gefährdet.“ Ihm wurde übel. Er bewegte sich ins Badezimmer. Leer. Schnell öffnete er den Medikamentenschrank. Auf den ersten war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Er atmete tief ein und bewegte sich auf das Schlafzimmer zu. Der Grabstein ist nun ganz emporgestiegen, der Friedhof wieder verlottert. Ein Blitz schlägt in die Trauerweide am nahe liegenden Fluss ein. Robert erschrickt. Angst, er beginnt zu schwitzen. Dort liegt Julia auf dem Bett. Sie atmet. Sein Herz beginnt wieder langsamer zu schlagen. Langsam nähert er sich ihr, das überwältigende Gefühl der Ohnmacht beinahe verschwunden. Er schluckte den bitteren Kloss runter und berührte Julia an der Schulter. Sie roch nach Alkohol. Er wollte sie wecken, aber sie antwortete nicht. Sie war ganz bleich und neben ihr war Erbrochenes. Der Grabstein war wieder da, schwarz und bedrohlich trohnte er über den verwelkten Blumen. „Julia! Was hast du getan?!“ Tränen kullerten Roberts Augen runter. „Verdammte Scheisse!!“ Er schleppte sie in die Dusche und drehte das kalte Wasser auf. Das Gefühl nackt im Regen zu liegen. Und jeder Regentropfen der auf der Haut auftrifft zerpsringt in tausend kleine Tropfen und jeder dieser tausend kleiner Tropfen verdampft und entzieht dem Körper Wärme. Und nachdem die Wärme weg ist, fühlt man sich erleichtert. Aber auf eine unangenehme Weise. Warum muss man Leiden um sich später wieder besser zu fühlen?
Julia hustete. Sie erbrach noch einmal. Robert wusch sie ab, trug sie ins Bett und sass auf die Bettkante. Sie schlief sofort ein. “Warum tust du das? Warum lässt du mich leiden? Ich liebe dich und unser Kind!”
Manisch-Depressiv, hatte man ihm gesagt, erlebe man als aussenstehender als wäre sie extrem launisch. Wechsel von Minute zu Minute. Von einem Hoch in ein Tief, vom Himmel in die Hölle. Das Gefühl einfach seine sieben Sachen zu packen und wegzureisen, oder das Gefühl ein Messer zu nehmen und jedes Lebewesen abzuschlachten, das sich in der Nähe befindet, es ist dasselbe. Es ist eine Krankheit. Robert sass in der Küche, beachtete das Wechselspiel der Fliessen. Schwarz. Weiss. Je nachdem wie schnell man seinen Blick umher streifen liess wechselte sich die absolute Dunkelheit mit vollkommenem Licht innerhalb kurzer ab oder der Übergang zögerte sich länger hinaus, aber irgendwann stiess er immer auf die nächste Fliesse, die nächste Farbe. Manisch-Depressiv. Manche betroffenen sind eher manisch. Aber nicht alle.
Julia betrat die Küche, sie lächelte. “Danke.” Sie seufzte. “Robert, mach dir keine Sorgen. Dem Kind geht es gut. Das spüre ich.” Robert blickte zu ihr auf. Er schien dem weinen nahe zu sein. “Verdammt, Julia, ich will nicht, dass dir etwas zustösst. Verstehst du nicht? Wenn es dir schlecht geht, dann geht es mir auch schlecht...ich...manchmal vergesse ich, dass ich vielleicht zu egoistisch bin. Dir geht es gut, mir auch. Versteh mich, wenn es dir schlecht geht will ich dir nicht helfen damit es mir besser geht. Im Gegenteil. Wenn es dir besser gehen würde indem es mir schlecht geht, würde ich den Preis bezahlen.” Julia ging auf ihn zu. “Ich versteh dich. Und ich bin dir dankbar. Aber lass uns von etwas erfreulicherem reden. Es war nur eine Phase. Du weisst wieviel mehr der Job bedeutet hat. Aber genug davon. Ich bin in zu guter Laune um darüber zu reden.” Sie lächelte, aber irgendwie schien es das Lächeln einer Kosmetikverkäuferin zu sein, die keine Lust hatte ihren Job zu machen, sondern den Kunden schnellstmöglich loswerden wollte.
Eine Phase. Die Ewigkeit kann man auch als eine Phase betrachten. Oder als Ewigkeit. Es ist Ansichtssache. Das Angenehme geht meistens schneller vorbei als das Unangenehme. Adam und Eva haben Kleider angezogen weil sie Schutz suchten, sie wollten keine Ewigkeit in Angst leben. Denn Angst ist unangenehm.
Als Robert am nächsten Abend von der Arbeit nach Hause kam, hatte er wieder Angst. Konnte er ein Kind lieben das ihm indirekt so viel Schmerzen im Vorfeld bereitet hatte. Ist es nicht Glück ein Kind zu haben, das man lieben kann? Aber ist es nicht auch Glück, dass das Kind noch lebt? Ein anderes Paar hatte vielleicht weniger Glück und würde Robert beneiden.
Wahrscheinlich die übliche Angst vor der Veränderung, dachte Robert. Vater werden ist ein grosser Schritt und Mutter werden auch. Julia kämpfte wahrscheinlich schwerer damit, als er selber. Er musste für sie dasein.
Er öffnete die Türe. Es war dunkel in der Wohnung. “Julia?” Keine Antwort. Vorsichtig betrat er das Wohnzimmer. Wieder der Grabstein. Reste verwelkter davor. Der Stein ist kahl. Keine Verzierungen. Er scheint nur da zu sein um den Tod zu symbolisieren. Nicht um die Liebe zu zeigen, die für den Toten noch immer empfunden wird. Er ist schwarz. Und doch war er wahrscheinlich einst weiss. Aber das ist lange her. Das weiss ist dem schwarz gewichen. Das schöne Wetter ist einem kalten, unfreundlichen Gewitter gewichen.
Er stösst die Türe ins Schlafzimmer auf. Erleichterung. Julia sitzt vor dem Spiegel. Ein alter Holzrahmen der am Boden steht und einen Spiegel hält. Kerzen. Weisse Kerzen, mit dicken schwarzen Dochten die brennen. “Julia? Ist alles in Ordnung?”
Julia dreht sich um, sie ist nackt und über ihren Bauch und ihre Brust ist ein schwarzes Kreuz gemalt. Das schwarze Kreuz des Todes. Der Längsbalken zieht sich vom Hals bis zum Bauchnabel. Der Querbalken von der linken Brust zur rechten. Sie weint. “Es ist tot.”
Der Grabstein ist verschwunden. Kalte Erde. Dunkelheit. Das Gefühl zu wissen, da oben steht ein Grabstein. Kein prunkvoller. Ein kalter abweisender, der da steht um den Tod zu markieren, nicht Liebe die dem Toten zukommt.
Er blickt sie an, dann schweift sein Blick zu dem leeren Glas neben der eine leere Schachtel Tabletten liegt. Robert sah und hörte nichts mehr. Tränen liefen ihm die Wangen runter. “Julia, was hast du getan?” Julia lächelte, die Tränen liefen ihr unentwegt auf den runden Bauch und spülten die schwarze Farbe weg, unter der Farbe kam ihre weisse, bleiche Haut zum Vorschein.
Weiss beginnt, Schwarz gewinnt.
“Ich werde mein Kind sehen, aber nicht hier. Ich liebe dich Robert. Aber ich sehe wie du an mir zerbrichst, ich bin krank, das haben die Ärzte gesagt. Ich will, dass es dir gut geht.” Flüsterte sie.
Robert nahm eine Klinge aus dem Rasierapparat von seinem Nachttisch und ging auf Julia zu. Auch er lächelte. Er nahm sie in den Arm. Und schnitt sich seine Unterarme auf. “Du bist nicht krank. Du bist menschlich und deshalb liebe ich dich. Ich bin es Leid die Fliegezu sein, die den Sadisten, der ihr die Beine ausreisst, befriedigt.”
Julia sank langsam in Roberts Arme zusammen, er drückte sie an sich und dann verliess auch ihn alle Kraft. Im Zimmer war es dunkel, doch draussen schien die Sonne.

Ende

 

Hallo Sternenhimmel!

Ich finde die Story zwar nicht gerade überwältigend; schlecht ist sie aber nicht. Das Ende hinterlässt ein etwas bedrückendes Gefühl bei mir, und insofern ist die Story wohl gelungen. Den tragischen Verlauf von Roberts Leben hast du gut dargestellt, und auch der bildliche Vergleich mit dem Grabstein, der im Text immer wieder zur Sprache kommt, gefällt mir gut.

An der Stelle, an der Jahre vergehen, würde ich noch eine Leerzeile setzen – liest sich dann einfach besser.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom