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Glück und Unglück

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02.06.2001
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Glück und Unglück

Die Dinge waren aus dem Gleichgewicht geraten. Wynton Rensfield wusste, dass für ihn kein Platz mehr im Weltengefüge vorgesehen war. Er hatte nie etwas auf esoterischen Unsinn gehalten, aber für ihn stand außer Zweifel, dass eine böse, überirdische, möglicherweise dämonische Macht ihn wie ein Insekt zu zerdrücken im Begriffe war.
Wie sonst ließ sich seine unfassbare Pechsträhne erklären? Er starrte in das ovale Loch der Bierdose. Auf dem Speisetisch harrten zehn Dosen 'Rock' ihrer Vernichtung. Das Zeug schmeckte scheußlich, aber es war fast um die Hälfte billiger als sein Lieblingsbier.
Hauptsache, man wurde von dem Fusel betrunken.
Wynton seufzte und begann, seine Post zu sichten. Die Elektrizitätswerke kündigten sachlich mit, dass sie die Leitung kappen würden, sollte Wynton binnen einer Woche nicht die ausständigen Beträge überweisen. Eine Elektronikkette pries 'kriminell günstige Fernsehgeräte' an - 'Nur stehlen ist billiger'. Sehr originell.
Wynton fand den Gedanken, einen Breitwandfernseher zu erstehen absurd, würde er doch bald keinen Strom mehr beziehen. Außerdem hatte er im Moment keine 3888 Mäuse flüssig.
Ein Reisebüro veranstaltete ein Gewinnspiel. Man konnte zwei Wochen Hawaii gewinnen. Auf dem Hochglanzprospekt boten Hula-Tänzerinnen ihre optischen Qualitäten feil, während im Hintergrund eine orangenfarbene Sonnenscheibe effektvoll im Meer absoff.
Wynton kicherte bei der albernen Vorstellung, er würde mit einer der kessen Tänzerinnen eine flotte Sohle aufs Parkett legen.

Und dann war da noch ein Brief in einem roten Umschlag. Gelangweilt riss er das Kuvert auf, ohne sich um den Absender zu kümmern. Es handelte sich um eine Einladung. Phil 'Wise Guy' Donnahue erlaubte sich, Mister Wynton Rensfield zum allseits beliebten, gesellschaftlichen Höhepunkt dieser wunderbaren Welt einzuladen: Dem Klassentreffen der Ford High.
Dem Brief war ein gestochen scharfes Gruppenbild beigelegt, auf welchem sich Wynton in der zweiten Reihe stehend wiedererkannte. Kunststück - Phil hatte sein Gesicht mit blutrotem Signalstift umrandet, was aussah, als würde ihm ein sadistischer Serienkiller zu erkennen geben, wer als nächstes sein Leben aushauchen würde.
Verschwommen glaubte sich Wynton an eine ähnliche Einladung vor mehreren Jahren zu erinnern.
Phil Donnahue ersuchte ihn um eine 'telefonische Bestätigung Deiner Anwesenheit kommenden Freitag'. Phil konnte ja nicht ahnen, dass böse Serviceleute von AT&T schon vor Monaten seine Telefonleitung lahmgelegt hatten.
Wynton trank die Dose leer und zerknüllte sie.
Warum eigentlich nicht? Vielleicht würde ja auch sein bester Freund Jimmy Lasker kommen. Was mochte bloß aus diesem Pizzagesicht geworden sein?
Und Anne Elson - hatte sie ihren Traum verwirklicht und war eine berühmte, in aller Welt gefeierte, mit Rosen überhäufte Opernsängerin geworden?
Aber eigentlich wollte er nicht ihren Erfolg mit anhören, er wollte sie als Verlierer antreffen, gedemütigt, alt und verbraucht.
Ah, welche, Labsal würde das für ihn sein!
Ein letztes Aufflackern seines sterbenden Kerzenlichtes, wie in dieser alten Mär. Je länger er- darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke, an dem Klassentreffen teilzunehmen.
Er trank noch ein paar Dosen Bier und eilte sodann zur nächsten öffentlichen Telefonzelle.

Aber er traf sie nicht als Verlierer an, weder gedemütigt, noch alt und verbraucht.
Im Gegenteil, ihm erschien es, als wäre er in den 15 Jahren seit dem Abschluss um das dreifache gealtert, während seine Schulkollegen kaum ein Jährchen mehr auf den Buckeln hatten. Keiner von ihnen war zu echter Berühmtheit gelangt, doch er verspürte heftige Stiche in der Magengegend, wenn er sie von ihren erfolgreichen Jahren in diesem und jenem Unternehmen reden hörte, von ihren wundevollen Kindern, ihren Ehepartnern, ihren Häuschen im Grünen, ihren geschmackvollen Apartments am Rande einer Großstadt, ihren Plänen, die hochgeflogen wie größenwahnsinnige Hausgänse waren, ihren Wünschen, ihren Träumen, ihren Sehnsüchten.
Anne Elson schwärme von ihrer letztjährigen Reise durch Südeuropa; John Wilding, der Radikale unter ihnen, war auf einem russischen, Eisbrecher durch arktische Gefilde geschippert ("Nichts besonderes, nur ein bisschen kalt"); Harry Kamsky war zum Top-Manager einer Warenhauskette aufgestiegen und bewohnte ein riesiges Apartment im güldenen Herzen von Manhattan.
Wynton ertrug die Melange aus geheuchelter Bescheidenheit und Protzerei nur dank des reichlich fließenden Alkohols. Nach etwa zweitausend Glas Bier und fünfhundert bittersüßen Cocktails beschloss er leichthin, seinen eigenen Werdegang zu beschönigen.
Keine Rede mehr davon, dass er binnen drei Wochen die Wohnung räumen musste, weil er das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen konnte. Schon gar nicht, nachdem diese fetten Schweinepriester in Washington die Sozialhilfe gekürzt hatten. Er hatte alle Wertsachen veräußert, sogar seine Silbermünzen, an denen sein Herz gehangen hatte. Seine Stereoanlage war plötzlich kaum noch ein Zehntel des Kaufpreises wert gewesen. Und selbst seine Uhr aus Titan, ein Geschenk seiner Eltern, war dem Gesetz der freien Marktwirtschaft zum Opfer gefallen.
Ein Bier später war Wynton im Verlagswesen beschäftigt. Nüchtern betrachtet hatte man ihm dort vor vielen Monden gekündigt. Und natürlich konnte keine Rede von einer Heirat mit Alyson sein. Sie hatte nicht schnell genug ihre - und ein paar seiner - Sachen packen können, als sich abzuzeichnen begann, dass sein Leben mit Schallgeschwindigkeit bergab ging.
Aber im Moment waren das Nebensächlichkeiten.
Viel zu schön waren diese Lügen, die ihm süß wie Wein über die Lippen liefen.

Gegen zwei Uhr morgens brach auch Harry Kamsky auf. Sein Gesicht glühte wie ein überhitztes Bügeleisen. Er lallte seine Abschiedsworte und stieg in das Taxi, das ihm Marvin Kruger in dessen Apartment die Feier stattfand, telephonisch bestellt hatte.
Wynton wusste, dass es an der Zeit war sich höflich zu bedanken und abzuhauen, ehe Mrs. Kruger im Schlafrock hereinspaziert käme und ihm stille Vorwürfe machte. Ein Mann sollte schließlich wissen, wann es an der Zeit war zu gehen.

"Tja, dann mache ich mich besser auch auf den Weg.", sagte Wynton, angenehm überrascht davon, wie klar er sprach. War dies ein Zeichen für seine Alkoholsucht, wenn sie denn tatsächlich existierte?

"Lass uns lieber noch ein bisschen über die Wahrheit sprechen.", sagte Marvin plötzlich und lächelte nicht unfreundlich.

Erwischt, dachte Wynton, doch er schämte sich seiner Lügen keineswegs. Dennoch zeigte er- sich gespielt überrascht und gab vor, nicht zu wissen, wovon Marvin spreche.

"Wir beide wissen, dass dein Leben ein Trümmerhaufen ist. Es hat keinen Zweck zu leugnen."

"Woher weißt du das? Spionierst du mir etwa heimlich nach?"

Marvin zuckte mit den Achseln.

"Das ist doch völlig nebensächlich. Sehen wir lieber den Tatsachen ins Auge. Du bist das, was man eine gescheiterte Existenz nennt."

Er ließ die Worte wirken, und einige nüchterne Momente später nickte Wynton behäbig.

"Ich schäme mich dessen nicht. Ich habe gelernt, es zu akzeptieren."

"Wirklich?" , fragte Marvin.

Abermals dachte Wynton nach. "Wirklich."

"Das nehme ich dir nicht ab."

"Ist mir egal. Ich bin müde und-"

Er wurde mitten im Satz unterbrochen.

"Vielleicht kann ich dir helfen.", sagte Marvin geheimnisvoll.

"Das glaube ich nicht.", erwiderte Wynton und stand auf. Er war tatsächlich müde und wollte nach Hause, nachdem er in seinen Hoffnungen enttäuscht worden war.

"Setz dich.", forderte ihn Marvin rau auf.

Wynton wollte widersprechen, hielt dann aber den Mund und kam der Aufforderurig nach. Was hatte er schon zu verlieren?
Marvin rückte den Sessel näher an Wynton.

"Was ich dir jetzt sage, muss unter uns bleiben."

Der verschwörerische Ton in Marvins Stimme erschien Wynton zunächst lächerlich.

"Erfahre ich endlich, wer Kennedy wirklich auf dem Gewissen hat?"

"Nein, besser, viel besser“", flüsterte Marvin. "Weißt du, dass ich ein ziemlich vermögender Mann bin?"

Wynton verneinte.

"Dieses bescheidene Apartment ist Teil meines eigenen Potemkinschen Dorfes. Ebenso wie mein Mercedes. Und das Inventar meines Heimes. Die Wahrheit, die sich dahinter verbirgt, würde den Neid derer, die versagten, hervorrufen. Ich verfüge über ein hübsches Vermögen an Geld. Genug, um den Rest meiner Tage unbesorgt zu leben.
Und ich meine 'leben'. Nicht stumpf dahinvegetieren, wie du es zu tun im Begriffe bist."

Wynton war fassungslos: Erlaubte man sich nur einen weiteren, üblen Scherz mit ihm?

"Ich verrate dir das Geheimnis meines Erfolges.", fuhr Marvin unbeirrt fort, "Ich hatte eine Idee und die Mittel, diese Idee zu realisieren. Erinnerst du dich an ein Gespräch, das wir kurz vor Ende unserer Schulzeit führten? Wir sprachen über das unbekannte Land, die Zukunft. Das stammt 'von Shakespeare, glaube ich.
Wie dem auch sei: Ich wusste - wusste! - dass innerhalb weniger Jahre ein neues Speichermedium die gute alte Schallplatte ablösen würde - die Compact Disc."

"Ja, ich erinnere mich.“

Marvin lächelte sardonisch. "Natürlich tust du das. Aber weiter im Text: Nach der Schule fand ich keine Universität, die mich aufzunehmen bereit war. Meine Zensuren waren einfach zu schwach, ich hatte keinen reichen Daddy, der mir das nötige Kleingeld zusteckte im Gegensatz zu dir war ich sogar im Sport eine ausgesprochene Niete.
Also schrieb ich mich in ein kleines, staatliches College in Bradford ein. Ich nahm einen lausigen Job in einem auf Touristen spezialisierten Restaurant an und sah mein Leben wie einen toten Fisch in einem Fluss dahintreiben. Meine einzige Chance sah ich darin, einen Geldgeber für meine Idee zu finden, ein auf CDs spezialisiertes Geschäft zu eröffnen. Vergebens. Es war frustrierend: Niemand war auch nur bereit, mir einen Zehner zu leihen, geschweige denn, einen fünfstelligen Betrag.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis derartige Läden wie Pilze aus dem Boden schießen würden. Und ich würde dem Treiben ohnmächtig gegenüberstehen. Doch eines Tages verriet mir ein Freund, wie ich das Glück erzwingen könnte: Er verwies mich an die Adresse eines, nun, eines Unternehmens eben. Und ich rate dir gut, dich ihrer Dienste zu versichern. Das Glück lässt sich erzwingen, Wyn."


Die 'Fortuna, Inc.' residierte in der Crestallen Street. Diese lag zwar am anderen Ende der Stadt, aber Marvin hatte Wynton Geld für ein Taxi zugesteckt, und so sprach nichts mehr dagegen, sich an besagte Unternehmung zu wenden.
Hausnummer 13 prangte an der Fassade eines wenig beeindruckenden, zweigeschossigen Betonklotzes der aussah, als hätte ihn ein kommunistischer Städteplaner entworfen, den man in der UDSSR wegen mangelnder architektonischer Kreativität des Landes verwiesen hatte.
Wynton trat in das Vorzimmer ein, das nicht weniger enttäuschend war, als das Äußere. Die Wände waren mehr schlecht als recht mit Kalk übertüncht worden, das Inventar des Raumes schien wurmstichig zu sein, auf dem Boden floss mattfarbenes Linoleum. Eine der grellen Neonröhren blinzelte unentwegt und die Sekretärin versah ihr Handwerk auf einem unzeitgemäßen IBM-Rechner, dessen Ventilatoren asthmatisch keuchten.
Die Sekretärin blickte auf.

"Guten Morgen, Sir."

Wynton starrte sie eine Sekunde lang an. Ihre gepflegte Erscheinung stand völlig im Gegensatz zu dem erbärmlichen Zustand des Vorzimmers.

"Äh, ich glaube, ich gehe besser wieder.", sagte Wynton, der sich nun sicher war, Opfer eines Scherzes geworden zu sein.

"Sprechen Sie doch erst einmal mit Mister Doohan, ehe Sie sich gegen unsere Dienste entscheiden."

Sie fügte ein gewinnendes Lächeln hinzu. Wynton überlegte. Warum eigentlich nicht? Betrinken konnte er sich noch früh genug. Und in Selbstmitleid suhlen ebenfalls. Er hatte tatsächlich nichts mehr zu verlieren.
Ein schauerlicher Gedanke.

"Na schön."

Sie schien von einem Ohr zum anderen zu grinsen. "Wenn Sie mir bitte Ihren Namen nennen."

"Wynton Rensfield."

"Ihre Anschrift.“

Wynton nannte ihr seine Adresse.

"Ihre Telefonnummer?"

"Ich habe kein Telefon."

Unnötigerweise stieg Röte in sein Gesicht und Wynton schalt sich selbst einen Narren dafür.

"Sind Sie verheiratet?"

"Nein." Das Frage- und Antwortspiel zog sich über mehrere Minuten hinweg. Als sie damit fertig waren, druckte die Sekretärin die Daten mittels eines Nadeldruckers aus, der infernalisch kreischend ein Blatt Papier füllte.
Sie entnahm das Blatt dem Papierschacht und drückte einen Knopf auf der Gegensprechanlage.

"Verzeihen Sie, Sir, Mister Rensfield ist hier."

"Danke."', erklang die Antwort kurz. Die Sekretärin reichte ihm das Blatt Papier.

"Bitte geben Sie dieses Blatt Mister Doohan. Zweite Tür links."

Wynton nickte verwirrt. "Vielen Dank."

„Ich habe zu danken, Mister Rensfield."

Ihre Blicke trafen sich nur kurz. Dann wandte sie sich wieder dem Computer zu.


Das Büro war klein und stand in punkto Ungemütlichkeit dem Vorzimmer in nichts nach. Ein Schreibtisch mit zerkratzter Arbeitsfläche, zwei Stühle, ein kleines Kästchen, auf welchem eine Kaffeemaschine stand und an den Seitenwänden riesige Schränke.

"Mister Rensfield? Ich bin John Doohan."

Die beiden Männer schüttelten sachlich die Hände. Doohan bat ihn, sich zu setzen und Wynton tat wie ihm geheißen.

"Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder hätten sie lieber eine Cola?"

Wynton, der lieber ein Bier gehabt hätte, verneinte dankend.

Doohan setzte sich ihm gegenüber und warf einen kurzen Blick auf den Papierbogen, ehe er diesen achtlos in eine Schublade des Schreibtisches warf. Auf der Ablage befand sich neben Unmengen an Papierblöcken und einem Kugelschreiber ein Diktiergerät.
Doohan drückte einen Knopf daran.

"Alles, was wir nun bereden, wird streng vertraulich gehandhabt, Mister Rensfield.“, begann Doohan.

Wynton schätzte ihn auf etwa 40 Jahre ein. Seine Statur- war nicht weiter ungewöhnlich; er war höchstens 1,80 groß, möglicherweise ein wenig übergewichtig.
Doch da waren seine Augen, die tief in sein Innerstes zu blicken schienen.
In seine Seele.
Und hieß es nicht, die Augen seien das Tor zur Seele? Wynton fühlte sich unwohl, bedrängt, hatte Angst.

„Woher wussten Sie, dass ich kommen würde?"

"Mister Kruger hatte mich diesbezüglich informiert."

Marvin! Er hatte ihn gedrängt, hierher zu kommen. Aber weshalb lag ihm Jahre, nachdem sie einander aus den Augen verloren hatten, soviel an ihm?
Was für ein Spiel wurde hinter seinem Rücken betrieben?
War etwa das Klassentreffen nur ein - wie hatte es Marvin genannt - Potemkinsches Dorf?
Nein, ausgeschlossen. Er musste endlich aufhören, solche Gedanken zu spinnen - sie waren der erste Schritt zur Paranoia. Und das war nun wirklich das letzte, was er in seiner Situation brauchen konnte.

"Informiert?", wiederholte Wynton, "Das riecht mir sehr nach-"

Doohan hob die linke Hand.

"Mister Rensfield, wir entwickeln uns zu einer Informationsgesellschaft und da können wir, die wir uns als ein Dienstleistungsunternehmen verstehen, nicht außen vor sein. Glauben Sie mir, Information ist das A und 0 unseres Wirtschaftssystems. Wir von der 'Fortuna Inc.' sehen es als unsere Pflicht an, Daten zu sammeln, zu analysieren, zu speichern und hinsichtlich unserer Interessen zu koordinieren und einzusetzen.“

Verstößt das nicht eklatant gegen das Datenschutzgesetz?“, fragte Wynton.

"Nicht, solange wir diese Daten nicht missbrauchen oder sie an Unbefugte weiterleiten.", antwortete Doohan.. "Aber eine Diskussion darüber würde zu weit führen. Befassen wir uns lieber mit den vollendeten Tatsachen."

Doohan ergriff einen der Blöcke und blätterte darin. Bedauernd schüttelte er den Kopf.

"Sie sind ein Pechvogel par excellence. Das ist wirklich schade, denn Sie hätten sich großes Glück verdient, Mister Rensfield!"

"Sie führen doch nicht etwa Buch über mich?", keuchte Wynton, zunehmend davon überzeugt, dass er im falschen Film sei.

"Wir sammeln Informationen.", sagte Doohan freundlich lächelnd, "All diese Schränke sind randvoll mit Informationen. Und dies sind nur die wichtigsten Informationen in Kürze gehalten. Unsere eigentlichen Archive ... Aber was rede ich da. Das muss Sie doch langweilen! Gehen wir in medias res: Die 'Fortuna, Inc.' wird Sie auf den richtigen Wege geleiten - Auf den Pfad des Ihnen zustehenden Glücks. Natürlich nur mit Ihrem Einverständnis. Es soll ja Leute, geben, die ihr Unglück geradezu genießen."

Erneut lachte Doohan.

"Mein Gott.", entfuhr es Wynton schaudernd, "Heißt das, ich wurde observiert?"

"Sie standen seit Jahren unter Beobachtung, ganz recht. Einmal wöchentlich erhielten wir einen detaillierten Bericht über Sie."

"Ich werde Ihr Vorgehen den Behörden melden und-"

Doohan winkte gelangweilt ab. "Sie haben keinerlei Beweise, und ohne Beweise wird Ihnen niemand Glauben schenken. Und selbst wenn es Ihnen gelänge, jemanden von unserem Geschäftsgebaren zu überzeugen, unsere Archive werden unauffindbar sein und unsere Mittelsmänner schweigen eisern."

"Wie können Sie das so bestimmt sagen? In jedem System existieren Schwachstellen."

"Nicht in unserem.“, wehrte Doohan ab, „Schließlich sind unsere Kunden unsere Mittelsmänner. Da schneidet sich niemand in das eigene Fleisch, Mister Rensfield."

Fast eine Minute herrschte unangenehme Stille in dem Raum.

Dann sagte Wynton: "Ich wurde von einem Ihrer Kunden observiert?"

"Exakt.", bestätigte Doohan. "Sollten Sie unsere Dienste in Anspruch nehmen wollen, würden wir gleiches von Ihnen erwarten."

Falscher Film, ging es Wynton erneut durch den Kopf, doch Doohans durchdringender Blick sprach entschieden gegen diese Annahme.

„Ich mache Sie jetzt mit unserem Vorgehen vertraut.", fuhr Doohan fort., "Unser System beruht auf der Balance von Glück und Unglück. Nur der, dem Unglück widerfährt, weiß das Glück zu schätzen. Und ist Glück der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nach nicht ein grundsätzliches Recht des Menschen?"

Plötzlich knallte Doohan mit der Faust auf den Schreibtisch. Der Kugelschreiber fiel zu Boden, was Doohan im Eifer seiner Rede entging.

"Natürlich ist es das! Aber Glück steht unmittelbar im Wechselspiel mit Unglück! Des einen Glück, des anderen Unglück. Sie verstehen?"

Wynton nickte.

"Ziehen wir Ihren Freund Mister Kruger als Beispiel heran. Mister Kruger hatte eine goldrichtige Idee, zu deren Realisierung es ihm an finanziellen Mitteln gebrach. Da ergab es sich unverhofft, dass einen nahen Verwandten von Mister Kruger das Zeitliche segnete - klugerweise hatte dieser wenige Monate zuvor sein Testament geringfügig abgeändert und Mister Kruger erbte eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes.
Nun konnte Mister Krüger endlich seinen lange gehegten Traum erfüllen."

Großer Gott, dachte Wynton, die schrecken selbst vor Mord nicht zurück!

"Mit dem Schicksal des Verblichenen hatten wir nur indirekt zu tun.", sagte Doohan beschwichtigend, als hätte er Wyntons Gedanken gelesen.

"Ich verstehe", sagte Wynton, bemüht, sachlich zu klingen, "Jeder Ihrer Kunden trägt sein Scherflein zum Glücke eines anderen Kunden bei, im Vertrauen, auch ihm werde geholfen werden."

"Korrekt.", sagte Doohan und faltete seine Hände, "Ich erkenne mit Freude, Sie haben unser System begriffen."

"Was ist, wenn ich mich weigere, in Ihre Dienste zu treten?", wollte Wynton wissen.

"Dann übernehmen wir keine Verantwortung für etwaiges Unglück Ihrerseits. Stellen Sie sich nur vor, die Drogenfahnder entdeckten nach einem anonymen Tipp unter Ihrer Bettmatratze hundert Gramm reines Heroin!"

Er ließ die Drohung im Raum stehen.

"Wo muss ich unterschreiben?"

Doohan blickte ihn erneut eindringlich an.

Ah, Sie werden vernünftig! Sehr gut."

Aus einer Schublade entnahm Doohan einen vorgefertigten Vertrag.

„Im Grunde verpflichten Sie sich zu gar nichts. Offiziell nehmen Sie an einem vierwöchigen Kurs teil, der Ihnen 'die Wege des Glücks' ein wenig näher bringen soll. Das ist natürlich Unsinn, einen solchen Kurs bieten wir nicht an. Des weiteren verlangen wir keine 672 Dollar von Ihnen, wie es auf dem Zettel steht.
Bezahlen werden Sie uns dann, wenn wir es Ihnen sagen. Eigentlich ist dieser Vertrag nutzlos, aber wir gehen lieber auf Nummer sicher ... Wo ist bloß mein Kugelschreiber? Ich dachte, ich hätte ihn-"

"Er ist auf den Boden gekullert.", erklärte Wynton, der jetzt seine letzte Chance gekommen sah.

Doohan schob den Stuhl zurück und beugte sich zu Boden. In diesem Augenblick riss Wynton das immer noch eingeschaltete Diktiergerät an sich und öffnete den Deckel, um die Kassette herauszunehmen. Inzwischen hatte Doohan den Schreiber aufgehoben. Er reichte diesen Wynton, der entgeistert das Diktiergerät anstarrte. Der Kassettenschacht war leer.

"Ich weiß, es ist nicht ganz fair, aber wir überlassen nichts dem Zufall. Wenn Sie bitte hier unterschreiben wollen.“, sagte Doohan fröhlich und deutete auf eine leere Stelle in dem Papier.


Wynton hatte gedacht, er könnte es nicht tun.
Aber er tat es.
Er war der Amboss, auf welchem das Unglück eines gewissen Herbert Smith mit Sorgfalt geschmiedet wurde.
Die Dinge, die Wynton Rensfield in tiefste Verzweiflung gestürzt hatten, gerieten ins Gleichgewicht. Die böse Macht wich von ihm. Wynton wurde bei jener Verlagsanstalt, welche ihn Monate zuvor entlassen hatte, wieder als Lektor eingesetzt.
Somit konnte er sein Apartment behalten.
Herbert Smith hingegen hatte weniger Glück: Sein Job fiel einer unerwarteten 'Rationalisierungsmaßnahme' zum Opfer'
Völlig aus der Luft gegriffene Gerüchte zerrten am ohnedies brüchigen Band seiner Ehe mit Leonora.
Unbekannte zerstachen die Reifen seines Wagens.
Einige Postsendungen verschwanden spurlos.


Der neunte Wochenbericht seiner Nemesis Wynton Rensfield endete mit den Worten: 'Das Zielobjekt scheint sich in sein Schicksal zu ergeben.'

Doohan blätterte die letzten beiden Berichte durch. Mehrmals lächelte er, was Wynton missfiel.

"Wann, denken Sie, wird er bereit sein, auf unser Angebot einzugehen?"

Wynton zuckte mit den Achseln.

"Ich habe keine Erfahrung in diesen Angelegenheiten. Ich kann also nur vermuten - vielleicht schon nächste Woche."

Doohan nickte und machte sich eine Notiz auf einem Zettel.

"Ich verlasse mich ganz auf Ihre Einschätzung, Mister Rensfield! Sie sind ein ungemein effektiver Mitarbeiter, wann ich das bemerken darf. Ein Naturtalent."

Bei diesen Worten fröstelte es Wynton. War er tatsächlich eiskalt genug, eines Menschen Leben in dessen Grundfesten zu erschüttern, ja, es zu zerstören?

"Wann endet mein ... Engagement?"

Doohan starrte ihn mit diesem durchdringenden Blick an, den er zu hassen gelernt hatte.

"Alsbald wir Ihnen hierfür die Erlaubnis geben.", erwiderte er.

"Ich verstehe.", bemerkte Wynton und seufzte leise.

Er war müde. Die Observierung der letzten Wochen war enorm anstrengend gewesen. Glücklicherweise würde sich seine außerberufliche Tätigkeit nunmehr auf einen Tag in der Woche beschränken. Er fragte sich, wie es Mitarbeitern mit Familie möglich war, ihre Arbeit ordnungsgemäß zu verrichten.

"Mister Rensfield, Sie dürfen gehen. Seien Sie für Ihre hervorragende Arbeit bedankt."

Mühsam erhob sich Wynton aus dem Stuhl und machte sich bereit zu gehen.

"Ich habe noch zwei Fragen."

Doohan sah zu dem stehenden Mann auf. "Welche da wären?", sagte er kühl.

"Marvin Kruger war auf mich angesetzt worden, richtig?"

Ein widerwärtiges Grinsen legte sich auf Doohans Lippen. "Das zu beantworten bin ich nicht bevollmächtigt."

Gemeiner Dreckskerl, fuhr es Wynton durch den Kopf. Im Grunde wusste er, dass es so gewesen war - er wollte ja nur eine Bestätigung dieses Verdachtes.

"Na schön. Zweite Frage: Wer steht hinter der 'Fortuna´? Wie lange existiert dieses Unternehmen bereits?"

„Das sind zwei Fragen."

Wut stieg in Wynton auf. Er hatte es satt, wie eine Schachfigur behandelt zu werden, derer man sich entledigt, wenn sie überflüssig geworden ist.
Er schritt auf Doohan zu, packte ihn am Kragen seines Sakkos und zog ihn fast mühelos hoch. Er war längst nicht mehr die Sportkanone, die er dereinst gewesen war, doch seine Kraft war immer noch beträchtlich.
Und Rage setzte bekanntlich verborgene Kräfte frei. Wie einen nassen Sack schüttelte er Doohan durch.

"Beantworten Sie meine Fragen“, schrie er ihn an.

„Lassen Sie mich los.", sagte Doohan ungerührt, bar jeglicher Emotion.

"Ich habe Ihnen zwei Fragen gestellt und diese will ich sofort beantwortet wissen!"

An der Tür ertönte ein zaghaftes Klopfen. "Mister Doohan? Ist etwas nicht in Ordnung?"

Es war die Sekretärin.

"Nein", rief Doohan, "Alles in bester Ordnung."

Dann wandte er sich wieder Wynton zu.

"Ich bin einverstanden."

Entgegen einer inneren Stimme, die ihm zu blindwütiger Gewalt anstachelte, entließ er Doohan aus seinem Griff. Dieser fiel in seinen Stuhl zurück und lockerte den Hemdkragen.
Erstaunlich rasch errang er wieder Fassung und ein spöttisches Lächeln umspielte sein Gesicht.

"Glauben Sie mir", begann er und hustete einige Male, "Diese Situation ist nicht neu für mich. Was Ihre erste Frage betrifft: Ja. Ja, wir hatten Mister Kruger auf Sie angesetzt. Er war der Unbekannte, der Sie überfallen hatte. Allerdings ging es ihm nicht um Ihr Portemonnaie, sondern darum, Ihrer Karriere Abbruch zu leisten."

Wynton musste sich setzen, um das Gesagte zu verdauen: Es war Marvin gewesen, der ihm in einer Seitenstraße tückisch aufgelauert und ihn sodann brutal niedergeschlagen hatte.
Und es war Marvin gewesen, der verheerende Gerüchte über ihn lanciert hatte.
Es war Marvin gewesen, der ihn in den Ruin getrieben hatte. Unfassbar! Konnte man sich so sehr in einem Menschen täuschen?
Aber was waren das nur für heuchlerische Töne: War er gleichfalls nicht im Begriff, Mister Smith in den Abgrund völliger Hoffnungslosigkeit zu stoßen?

"Ihre zweite Frage kann ich nicht zufriedenstellend beantworten, selbst wenn ich dies wollte.“, fuhr Doohan fort, "Meine Ansicht ist die, dass unser Unternehmen vor Jahrhunderten gegründet wurde, um Hass und Zwietracht zu säen.
Denn vergessen Sie nicht: Des einen Glück ist des anderen Unglück."

"Ihr Unternehmen musste enorm mächtig sein, wenn es mir einfach so meinen alten Job wiederbeschaffen konnte.", sagte Wynton, dessen Stimme fast zu einem Flüstern geriet.

"Wir haben eben überall unsere Leute, um es salopp zu formulieren. Aber das wahre Ausmaß der Macht des Unternehmens dürfte unser aller Vorstellungsvermögen sprengen. Leider bin ich in der Firmenhierarchie nicht weit genug oben, um alle unsere Archive durchstöbern zu können, doch es dürfte außer Frage stehen, dass die 'Fortuna' nur eine von vielen Unternehmungen dieser Art ist.
Vielleicht ist es die Gesamtheit dieser Unternehmungen, welche die wahre Macht dieser Welt wiederspiegelt. In gewisser Weise sind es diese Ungerechtigkeiten und Intrigen, die das Weltengefüge in der nötigen Balance halten. Es ist die Umverteilung von Glück und Unglück, die Ausgeglichenheit garantiert, Mister Rensfield. Genießen Sie Ihr neues Glück. Wer weiß, welche unangenehmen Überraschungen die Zukunft bereit hält."

Wynton nickte verstehend. Langsam erhob er sich.
Er hatte genug gehört.
Er fühlte sich unendlich müde, körperlich wie auch geistig.

"Es ist also möglich, dass man mir erneut den Boden unter den Füßen wegzieht."

"Niemand ist davor gefeit. Auch ich nicht. Oder Miss Bush."

"Wer?"

"Die Sekretärin."

Wynton begann laut zu lachen. Der verwirrte Ausdruck in Doohans Gesicht trug nicht gerade zu einer Beruhigung des Lachanfalls bei.


Die Dinge sind ins Gleichgewicht geraten, dachte Wynton, während er auf dem Diwan fläzte und eine 'Coors'-Dose nach der anderen trank.
Es gab keine Gerechtigkeit..
Es gab kein Glück oder Unglück.
All diese Begriffe waren künstlich definiert und keineswegs unabänderlich. Es lag tatsächlich in seiner Macht, das Glück auf seine Seite zu ziehen. Aber was war das für ein Glück, das Mitmenschen zerstörte, ihre Leben aushöhlte, sie allem, was sie liebten beraubte?
Wieder erschienen ihm diese Gedanken heuchlerisch; genoss er denn nicht sein Glück?
Ja, das tat er.
Und war ihm das Unglück des Mister Smith nicht einerlei?
Ja, das war es.
Auf diesen beiden Prämissen wollte er sein Leben völlig neu errichten.
Endlich hatte er sich überwunden. Er bejahte sein Recht auf Glück – koste es, was es wolle.

 

Rainer, Rainer, Rainer, was soll ich sagen?
Gute Geschichte! Diese hier ist gut geschrieben und auch irgendwie spannend. Eine Verwandlung des Protagonisten, die durchaus zu denken gibt. Wenn ich das so sagen darf, das ist die beste Geschichte, die ich von Dir gelesen habe.
Die Idee ist in ihrem Wesen nicht neu. Spielen wir einfach einmal mit den Ängsten der Menschen. Aber nicht jeder hätte es so gut schreiben können wie Du. Das spricht für Dich.

 

Danke. Ich wusste doch, dass ich schon rein zufällig mal deinen Geschmack treffen müsste! :D

Die Grundüberlegung war natürlich die Frage, ob "Glück" und "Pech" nicht bewusst gesteuert werden können - was ziemlich paranoid klingt, wenn man´s recht überlegt.

Was den Stil selbst betrifft: Ich bin klarerweise immer noch sehr unzufrieden mit mir selber, aber wenn ich nicht ganz arg daneben liege passt das schon.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Rainer!

Ich verstehe gar nicht, warum die Geschichte hier nicht öfter kommentiert wurde - hab sie auf gut Glück (hehe) angeklickt, weil ich wissen wollte, was sich hinter dem Titel verbirgt, bin hängengeblieben und ab dem Klassentreffen war ich dann auch gefesselt. :-)

Auch meinen Geschmack hast Du mit dem Thema getroffen; ich liebe Stories und Filme dieser Art; geht ein bisschen so in Richtung von "The Game" oder sogar "Quitters" von King: Ein Mann gerät an eine zwielichtige Agentur, die sein Leben völlig durchleuchtet und die Kontrolle zu übernehmen scheint. So etwas mag ich und auch die Grundsatzfrage nach der Steuerung von Glück ist interessant und faszinierend - hab ich sogar mal in Philosophie eine Klausur drüber schreiben müssen (und ne 1 bekommen :cool: ).

Stilistisch fand ich die Geschicte anfangs nicht so stark; da lesen sich Deine letzten Werke aus Horror und SF doch besser - für meinen Geschmack, denn ich weiß schon, dass ich da recht heikel bin und es gerne sehr glatt und schnörkellos mag und das Pathetisch-Schwülstige schnell Leid bin. Deswegen haben mir manche Formulierungen nicht so zugesagt; das wäre vielleicht anders, wenn die Erzählung 100 Jahre früher spielen würde.
Später im Text allerdings störte mich das immer weniger und ich weiß nicht genau, ob es daran liegt, dass der Stil sich veränderte oder ob ich mich einfach nur daran gewöhnte - jedenfalls passte es ab der zweiten Hälfte wieder für mich.

Positiv zu vermerken sind meiner Meinung nach noch zwei weitere Dinge:

a) Auch als klar wurde, welche Ziele das Unternehmen verfolgt zu dem Wynton geschickt wurde, blieb Spannung erhalten, weil die Story immer noch verschiedenene Wendungen hätte nehmen können - Wynton hätte sich weigern und auflehnen, die Abmachung hätte schieflaufen können, usw.

b) Du schreibst immer wieder, dass Du mit Deinen Werken nur unterhalten willst und das ist Dir hier auch geglückt - zusätzlich regt diese Story auch ein klein wenig zum Nachdenken an, weil der Gedanke, das eigene Schicksal so in die Hand zu nehmen natürlich seit jeher faszinierend ist.
Deswegen war das hier für mich Unterhaltung mit einem Spritzer Tiefgang dabei - so, wie ich es gerne mag. ;-)

Ich hätte da aber noch ein paar Kleinigkeiten, zumal ich in Kritiklaune bin ... *Rotstift auspack*

Vielleicht würde ja auch sein bester Freund Jimmy Lasker kommen. Was mochte bloß aus diesem Pizzagesicht geworden sein?
Offenbar war Jimmy auf der Schule sein bester Freund gewesen und er wird ihn jetzt erst nach langer Zwit wiedersehen - um Missverständnisse zu vermeiden, schlage ich vor, deshalb: "Vielleicht würde ja auch sein ehemals/damals bester Freund Jimmy Lasker ..." zu schreiben.
Ah, welche, Labsal würde das für ihn sein!
Invasion der Kommata? ;-)
(Und das war einer der für mich schon fast schmerzhaft pathetischen Sätze, aber das ist ja subjektiv empfunden.)
Je länger er- darüber nachdachte,
Dennoch zeigte er- sich gespielt überrascht und gab vor,
Seine Statur- war nicht weiter ungewöhnlich;
Und die Invasion der Bindestriche ...
Nüchtern betrachtet hatte man ihm dort vor vielen Monden gekündigt.
Hm - zu gewollt pathetisch. Bei den "vielen Monden" denke ich an die Lagerfeuererzählung eines alten Medizinmannes, wenn Du verstehst, was ich meine. In einem Märchen, einer Fantasyerzählung oder einer altertümlichen Schauergeschichte mag das gut klingen und die Athmosphäre verstärken - hier wirkt es meiner Meinung nach unpassend.
Aber auch hier betone ich - das sehen andere vielleicht wieder nicht so. :-)
Viel zu schön waren diese Lügen, die ihm süß wie Wein über die Lippen liefen.
Ich bin zwar eher die Gemüsesaft-Expertin, aber grundsätzlich: Weine müssen ja nicht unbedingt süß sein, oder? Mich hat diese Stelle ein Sekündchen stutzen lassen und deswegen plädiere ich für: "... die ihm wie süßer Wein über die Lippen liefen." Dann wird nicht von Wein an sich ausgegangen, der ja auch mal anders beschaffen sein kann. :-)
das ihm Marvin Kruger in dessen Apartment die Feier stattfand, telefonisch bestellt hatte.
Da Du sonst auch die Neue Rechtschribung verwendest, kommt hier wohl ein "f" hin.
Sehen wir lieber den Tatsachen ins Auge: Du bist das, was man eine gescheiterte Existenz nennt.
Ich habe den Punkt mal durch einen Doppelpunkt ersetzt - erscheint mir einfach ausdrucksstärker zu sein. (Mann, bin ich heute pinselig.)
ich hatte keinen reichen Daddy, der mir das nötige Kleingeld zusteckte im Gegensatz zu dir war ich sogar im Sport eine
Interpunktion!
"Nicht, solange wir diese Daten nicht missbrauchen oder sie an Unbefugte weiterleiten.", antwortete Doohan..
Zum Einen - ein Punkt zuviel, zum Anderen: Wenn der Satz nach der wörtlichen Rede noch weitergeht kommt vor die Anführungszeichen kein Punkt - allenfalls ein Frage- oder Ausrufezeichen. (Diese Schreibweise, von der ich nicht ganz sicher bin ob sie nicht falsch, sondern "nur" unorthodox ist, zieht ich durch den ganzen Text hindurch.)
Da ergab es sich unverhofft, dass einen nahen Verwandten von Mister Kruger das Zeitliche segnete
Das ist interessant: Ich kenne diese Wendung nur andersherum, nänmlich: " ... dass ein naher Verwandter von Mister Kruger das Zeitliche segnete."
Dieser Ausdruck geht ja auch den alten Brauch zurück, auf dem Sterbenbett die zeitlichen (i.d. weltlichen) Dinge zu segnen, bevor man sie verlässt. Deswegen irrtiert es mich, dass hier der Bezug anders gesetzt wird und die Person nicht selber das Zeitliche segnet, sondern von ihm gesegnet wird - Fehler von Dir oder österreichischer Eigenausdruck? >:-)
"Ich verstehe", sagte Wynton, bemüht, sachlich zu klingen. "Jeder Ihrer Kunden
Punkt statt Komma hinter "klingen", weil es in der nächsten wörtlichen Rede groß weitergeht.
"Ah, Sie werden vernünftig! Sehr gut."
Anführungszeichen vorne.

Der Anfang der Geschichte las sich für mich noch ein wenig schleppend - irgendwie fände ich da eine Verkürzung reizvoll.
Vielleicht könnte man den Beginn ein wenig raffen, indem man die Vorgeschichte von Wyntons Leid weglässt und ihn stattdessen sich gerade auf den Weg zum Klassentreffen begeben lässt und währenddessen könnte er sein Schicksal und die Gedanken an seine ehemaligen Mitschüler Revue passieren lassen.

Ansonsten hat das Lesen Spaß gemacht und insgesamt ist es eine gute Geschichte. :-)

Und wer noch Zweifel daran hat, dass Du selbst mit diesen dunklen Mächten im Bunde sein solltest, der lenke sein Augenmerk bitte auf jene Stelle, wo Du bereits anno 2001 das Thema des aktuellen Challenges prophezeihst:

Gehen wir in medias res:
Noch Fragen? :susp: :cool: :D


Ginny

 

Lieber Rainer!

Eine umwerfend interessante Geschichte – ich hab sie schon vor ein paar Tagen gelesen, und zwar war das so: Ich hab sie mir ausgedruckt und wollte sie unterwegs lesen. Da ich aber noch ein paar Minuten Zeit hatte (der Bus fährt nur alle zehn Minuten), dachte ich, ich les mal schnell die ersten zwei, drei Absätze... Als ich dann endlich zum Bus ging, mußte ich mir zuvor nochmal eine Geschichte ausdrucken, denn Deine hatte ich ja dann schon fertig gelesen... :D

Dein Grundgedanke ...

Die Grundüberlegung war natürlich die Frage, ob "Glück" und "Pech" nicht bewusst gesteuert werden können - was ziemlich paranoid klingt, wenn man´s recht überlegt.
... klingt für mich gar nicht paranoid. Eigentlich gibt es ja auch genug Leute, die ihr Glück oder das eines anderen bewußt steuern. Denk bloß mal an die Parteibuchwirtschaft – tausche Deinen Doohan gegen ein hohes Tier in einer Partei und Wynton gegen einen, der Arbeit, Wohnung oder sowas braucht... Oder sagen wir einfach „Vitamin B“... ;)

Wie bei allen Geschichten von Dir, die ich bisher gelesen habe, gefallen mir ganz besonders gut auch die vielen Gedanken, die Du eingeflochten hast, bzw. Deine Art, Dinge oder Zustände zu beschreiben, zum Beispiel:

Hausnummer 13 prangte an der Fassade eines wenig beeindruckenden, zweigeschossigen Betonklotzes der aussah, als hätte ihn ein kommunistischer Städteplaner entworfen, den man in der UDSSR wegen mangelnder architektonischer Kreativität des Landes verwiesen hatte.
Die Häßlichkeit eines Gebäudes so zu beschreiben, darauf muß man erst mal kommen! :thumbsup:
Sie fügte ein gewinnendes Lächeln hinzu.
– herrlich!

Natürlich sind auch die Charaktere, insbesondere der von Wynton, perfekt gezeichnet, und das, obwohl die Geschichte nicht gerade eine Deiner neuesten ist. Die Darstellung der Charaktere zieht sich bis ins kleinste Detail – ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob Du das beim folgenden Beispiel bewußt so gemacht hast, ...

“Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder hätten sie lieber eine Cola?“
... daß sogar die Getränke, die Doohan anbietet, aufgrund ihres Coffeingehaltes ins Bild des Geschäftstüchtigen passen, aber es macht sich gut so...

Aber ich will Dir nicht nur den Honig ums M... ins Gesicht schmieren, einen Punkt habe ich inhaltlich schon zu kritisieren: Für mich macht sich Wynton viel zu spät Gedanken über die Rolle von Kruger. Schon, als Doohan ihn erwartet hatte, hätte er sich doch eigentlich denken können, daß Kruger es wohl gewesen ist, der ihn bei Doohan angekündigt hat. Und daß Kruger auf dem Klassentreffen bereits zu Wynton sagte, er hätte schon alles über ihn gewußt, hätte ihn meiner Meinung nach auch später stutzig werden lassen müssen, als er Genaueres über das Unternehmen erfuhr. Meiner Meinung nach hätte er das sofort kombinieren müssen, zumindest einen Verdacht haben, wenn er sich auch nicht wirklich sicher sein konnte. – Das war aber der einzige Punkt, der mich ein bisschen störte, mein Gesamturteil aber nicht schmälert. ;)

Anmerkungen hab ich allerdings ein paar, was aber auch in der Länge der Geschichte liegt, und viele sind auch keine Fehler, sondern stilistische Änderungsvorschläge. Wie das mit den Bindestrichen und den Beistrichen bei der direkten Rede ist, weiß Du ja mittlerweile – ich lasse sie in meiner Aufzählung aus, ebenso das, was Ginny noch so erwähnt hat. ;)
Was mir bei ziemlich allen Deiner Geschichten immer wieder auffällt ist, daß Du, wenn Du Fehler machst, sie in einzelnen Abschnitten häufst und dann weite Strecken völlig fehlerfrei sind. Vielleicht findest Du ja für Dich selbst mal raus, ob diese Stellen eine Gemeinsamkeit haben?

»Er hatte nie etwas auf esoterischen Unsinn gehalten, ...«
- müßte es nicht heißen „von ... gehalten“ oder „auf ... gegeben“?

»Hauptsache, man wurde von dem Fusel betrunken.«
- besser fände ich „er“ statt „man“

»Wynton fand den Gedanken, einen Breitwandfernseher zu erstehen absurd«
- erstehen, absurd

»Man konnte zwei Wochen Hawaii gewinnen.«
- würde noch ein „-Urlaub“ an Hawaii anfügen

»eine orangenfarbene Sonnenscheibe«
- orangefarbene (ein n zuviel)

»einzuladen: Dem Klassentreffen der Ford High.«
- dem

»Verschwommen glaubte sich Wynton an eine ähnliche Einladung vor mehreren Jahren zu erinnern.
Phil Donnahue ersuchte ihn um eine 'telefonische Bestätigung Deiner Anwesenheit ...«
- würde das „eine“ vor ‚telefonische Bestätigung ...’ weglassen, dann wiederholt es sich nicht
- deiner

»Und Anne Elson - hatte sie ...«
- würde das „Und“ killen

»Im Gegenteil, ihm erschien es, als wäre er ...«
- würde nach Gegenteil einen Doppelpunkt machen „Gegenteil: Ihm ...“

»in den 15 Jahren seit dem Abschluss um das dreifache gealtert«
- fünfzehn (sind auch noch ein paar andere Zahlen in der Geschichte, die sich ausgeschrieben besser machen würden... ;))
- um das Dreifache

»während seine Schulkollegen kaum ein Jährchen mehr auf den Buckeln hatten.«
- kam mir beim Lesen komisch vor, wäre in dem Fall richtiger mit „auf dem Buckel“, weil es (lt. criss) ein feststehender Begriff ist (er hätte es aber nicht als Fehler angezeichnet)

»doch er verspürte heftige Stiche in der Magengegend, wenn er sie von ihren erfolgreichen Jahren in diesem und jenem Unternehmen reden hörte, von ihren wundevollen Kindern, ihren Ehepartnern, ihren Häuschen im Grünen, ihren geschmackvollen Apartments am Rande einer Großstadt, ihren Plänen, die hochgeflogen wie größenwahnsinnige Hausgänse waren, ihren Wünschen, ihren Träumen, ihren Sehnsüchten.«
- wundervollen
- ein bisschen viel „ihren“ sind da aneinandergereiht – anders formuliert könnten es weniger sein...

»Anne Elson schwärme von ihrer letztjährigen Reise«
- schwärmte

»war auf einem russischen, Eisbrecher«
- ohne Beistrich

»"Nein, besser, viel besser“", flüsterte Marvin.«
- ein Anführungszeichen zu viel

»ich hatte keinen reichen Daddy, der mir das nötige Kleingeld zusteckte im Gegensatz zu dir war ich sogar im Sport eine ausgesprochene Niete.«
- nach „zusteckte“ würd ich einen Punkt machen

»druckte die Sekretärin die Daten mittels eines Nadeldruckers aus«
- wie gefällt Dir „auf einem Nadeldrucker“? – ich finde Wortkombinationen wie hier, wo vier Wörter hintereinander mit „s“ enden, nicht gut zu lesen... ;)

»"Alles, was wir nun bereden, wird streng vertraulich gehandhabt, Mister Rensfield.“«
- müßte es nicht heißen „streng vertraulich behandelt“?

»Und hieß es nicht, die Augen seien das Tor zur Seele?«
- ich würde das „Und“ weglassen

»Aber weshalb lag ihm Jahre, nachdem sie einander aus den Augen verloren hatten, soviel an ihm?«
- ihm, Jahre nachdem ...

»Verstößt das nicht eklatant gegen das Datenschutzgesetz?“, fragte Wynton.«
- hier fehlt das erste Anführungszeichen

»Und selbst wenn es Ihnen gelänge, jemanden von unserem Geschäftsgebaren zu überzeugen«
- würde das „Und“ streichen „Selbst, wenn ...“

»Da ergab es sich unverhofft, dass einen nahen Verwandten von Mister Kruger das Zeitliche segnete«
- dass ein naher Verwandter von Mister Kruger das Zeitliche segnete. (lt. Österr. Wörterbuch „das Zeitliche segnen“)

»Sein Job fiel einer unerwarteten 'Rationalisierungsmaßnahme' zum Opfer'
Völlig aus der Luft gegriffene Gerüchte ...«
- ein schließendes Anführungszeichen zu viel, dafür fehlt das Satzzeichen

»Sie sind ein ungemein effektiver Mitarbeiter, wann ich das bemerken darf. Ein Naturtalent."«
- wenn

»"Welche da wären?", sagte er kühl.«
- würde fragte statt sagte schreiben

»ihre Leben aushöhlte, sie allem, was sie liebten beraubte?«
- liebten, beraubte


So, das wars,
alles liebe,
Susi :)

 

Danke euch fürs Lesen und vor allem die Fehlerkorrekturen. Werde mich am WE mal über die Story machen. Sollte ich wider Erwarten doch noch reich und berühmt werden, werde ich euch natürlich namentlich erwähnen! :D
Ehrlich, ich find´s toll, dass ihr euch die Mühe macht! Ich bin bei den Anderen viel zu faul dafür, ahem...

 

Servas Rainer,

ein früher Innreiter, herrlich! War sehr spannend. Ich fand manche Gebilde wie "vor vielen Monden", etc. eigentlich typisch für Dich. das machts irgendwie unverwechselbar. Vor allem der Anfang, da Marvin beim scherzhaften Vorwurf des Nachspionierens die Achseln zuckt und man dann bis zum Ende liest...

Beim Wein hat Ginny irgendwie recht.

Die neuen Geschichten von Dir lesen sich anders. Ich kann eigentlich gar nicht so recht erklären warum. Bei den neuen ist irgenwie mehr Rainer drin, wenn ich das so sagen darf.

Bei den Anführungszeichen der direkten Reden hast ein paar Hadern drinnen. Wenn Du willst, such ichs am Wochenende raus.

- Denk bloß mal an die Parteibuchwirtschaft – tausche Deinen Doohan gegen ein hohes Tier in einer Partei und Wynton gegen einen, der Arbeit, Wohnung oder sowas braucht... Oder sagen wir einfach „Vitamin B“. -

Oh wie wahr, wie wahr! Das ist steuerbar, und wie!

Im Grunde empfand ich die Aussage als folgende: die Welt ist schlecht, die Götter pecken sich darüber ab, und die Menschen hauen sich gegenseitig eins rein. Denn Wyntons neues Glück ist das Unglück eines anderen. Eine Kettenreaktion.

spätnächtliche Grüße

Echna

 

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