Gift
Fasziniert schaute sie über die gelb- grüne Wiese hin zum Waldrand. Die Bäume standen dicht an dicht, die Zwischenräume waren dunkel. Angst und Faszination kämpften in ihrem Inneren.
Sie wollte weg, hinein in den Wald, sich von ihm verschlucken lassen und all seine Geheimnisse lüften. Eventuell konnte sie sogar eines seiner Geheimnisse werden.
Dem Gegenüber stand die Angst, dass ihr weder die Geheimnisse, noch das, was aus ihr werden könnte, gefallen würde. Es gab niemanden, der es genau wusste, denn alle, die hineingegangen waren, kehrten nicht zurück. Es lief auf viele Spekulationen hinaus. Nie hatte man jemanden schreien hören und andere gruslige Geräusche machte der Wald nicht. Es kam auch nie etwas Gefährliches aus ihm heraus, also müsste es gut dort sein, besagte die eine Theorie. Gerade weil er so still war und nichts aus ihm herauskam, könne es dort nur schlimm sein, besagte die andere.
Ein Blick zurück in ihr Dorf und all ihr Schmerz und all ihre Trauer umklammerten ihr Herz. Die Menschen hassten sie, verurteilten sie, machten sie zur Schuldigen von allem. Und zum Teil hatten sie Recht. Sie war anders, sie verstand die Dinge anders, sah sie anders. Jeder meinte, sie müsse doch verstehen, dass sie falsch liege. Ansonsten wären doch alle anderen im Unrecht. Wie wahrscheinlich war das denn schon? Aber immer wenn sie es tat wie die Anderen, sagte wie die Anderen und sah wie die Anderen, fühlte sie sich krank, schlecht und böse. Es war keine Lösung, sie konnte nicht gleich sein. Sie war einfach anders.
Sie trat etwas näher an den Wald. So weit, bis sie seine Kühle spüren konnte. Sie roch den Wald. Immer noch hielt sie die Angst zurück. Was würde sie verlieren, was sie nicht schon verloren hatte? Ihr Leben war die letzte Sache in ihrem Besitz. Aber was war ihr Leben wert, in ihrem Zustand der Seltsamkeit? Es wäre nie richtig, vielleicht würde die Ablehnung der Anderen sie in den Wahnsinn treiben. Vielleicht brachten sie die anderen Dorfbewohner eines Tages einfach um oder noch schlimmer, Sie brachte die Dorfbewohner um. Der Gedanke ließ sie erschaudern. Sie sah sich als Halbwahnsinnige, die mordend durchs Dorf lief und alle umbringt, selbst diejenigen, die sie trotz allem liebte. War dieses seltsame Ungewisse, dort vor ihr, nicht der bessere Weg für alle?
Noch einen Schritt näher an den Wald heran. Das Schicksal sollte entscheiden. Hielt sie jemand auf, würde sie zurückgehen, wenn nicht, würde sie hineingehen. Sie wusste, dass man sie aus der Ferne beobachtete. Die Dörfler beobachteten sie immer. Noch einen Schritt, niemand kam. Es folgten mehrere langsame Schritte und nichts rührte sich. Es fehlte nur noch ein Schritt und es passierte nichts. Ihr Fuß berührte den Waldboden und etwas Seltsames geschah. Es fühlte sich an, als würde sie mit dem Boden verwachsen, ihr Puls wurde langsamer und sie hatte das Gefühl sich zu strecken. Länger und immer länger wurde sie. Bald konnte sie in die anderen Baumkronen sehen. Beim Versuch, sich zu bewegen, raschelte ihr Kopf seltsam. Alles wurde so langsam, das Hier und Jetzt wurde so intensiv. Beim Blick an sich herab realisierte sie, dass sie zu einem großen Baum geworden war. Erst war sie panisch und bekam Angst, doch dann fühlte sie sich seltsam befreit von allem. Es erklärte auch, warum niemand, je wieder aus dem Wald gekommen war. Sie alle waren der Wald. Sie war genau an der Stelle zum Baum geworden, an dem sie den Boden betreten hatte, nur die Art war ihr unbekannt. Sie trug Früchte, die aussahen wie Äpfel, doch es waren keine. Was auch immer sie waren, sie beinhalteten, all ihre Trauer und Wut. All diese Gefühle machten die Früchte groß, rot und giftig. Sie waren jetzt ein Teil, den sie abschütteln konnte. Mit Hilfe des Windes entledigte sie sich ihrer. Die falschen Äpfel landeten auf der Wiese.
Nicht lang danach folgten die Dörfler, die sie beobachtet hatten und warfen einen Blick in den Wald hinein. "Ist sie wirklich hineingegangen?" Der Angesprochene nickte: "Ich hoffe sie ist endlich tot." "Egal wie, wir sind sie endlich los, war ja kaum zum Aushalten mit ihrer Rumheulerei. Hey guck mal ein paar Äpfel." "Wo kommen die denn her?" "Hat sie wahrscheinlich verloren, können wir ja mitnehmen, dann ist ihr Verschwinden doppelt gut."
Sie fühlte nichts als Frieden, jetzt war es ihr egal, was die Dörfler über sie sagten und ihr war es egal, dass sie ihr Gift mit sich nahmen.