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Gift
Art hielt sich an der Plörre fest, die hier jeder soff, und überredete sich zu jedem Schluck aufs Neue. Umgeben von Kidpunks, die ihn fast alle schief ansahen. Er lächelte geduldig, wo es eher einen dreisten Spruch gebraucht hätte, um das Eis zu brechen. Ein paar Mädels warfen ihm scheele Blicke zu, kicherten mit zusammengesteckten Köpfen und zeigten deutlich genug auf seine Hochwasserhose, damit er trotz des Lärms auch etwas davon hatte. Ab und zu hob er den Plastikbecher, freundlich lächelnd, und prostete ihnen zu. Die Band feuerte die Klänge in die Menge, akustische Stahlmantelgeschosse, man konnte kein gesprochenes Wort verstehen. Art war eigentlich hergekommen, um Anschluss zu finden, wusste bei der Lautstärke aber nicht mal, wie er den ersten Kontakt herstellen könnte.
Im Laufe der nächsten Stunden geriet die Kleinstadtjugend durch Bier, Mucke und Körpereigenes in Tanzwut und durchfegte den kleinen Saal wie farbsüchtige Derwische auf voller Mischpalette. Einer von ihnen, Kaal, schlenkerte aus seinem Orbit und rammte Art in die rätselhafte Schicht Irgendwas, die den Boden bedeckte. Kollateralschaden. Kaal schüttelte den Kopf und kam zu sich. Es tat ihm leid. Er reichte Art die Hand, zog ihn mit Schwung auf die Füße und etwas langsamer an den Tresen, wo er ihm zur Wiedergutmachung ein Bier ausgab.
Auf dem Hocker neben Kaal saß eine junge Rothaarige mit klarem, offenem Gesicht und moosgrünen Augen. Sie nickte ihnen kurz zu, sagte in höflichem Ton "ihr Arschlöcher" und drehte sich wieder weg.
Art sah sie an. 'Schlicht und edel', dachte er. Nicht wie die anderen Mädchen auf dem Saufgelage. Punkerinnen und Gotische, behangen wie Christbäume. Sie hatte keine Nieten in dem schlichten grünen T-Shirt oder Stahlketten an Armen und Hals, keine Piercings und keine Tätowierung. 'Nicht schlecht', dachte Kaal und nahm einen langen Zug vom Bier. 'Hübsches Ding.'
"Moment", fragte er. "Was hast du gesagt?" Ana zog die Nase kraus, nahm den Kopf ein Stück zurück, lächelte und schüttelte den Kopf. 'Wahrscheinlich soll dieses Verhalten bedeuten, nicht nachzuhaken,' dachte Art. Kaal runzelte die Stirn. "Du hast uns nicht gerade Arschlöcher genannt, oder?" Da konnte sie bequem nicken. Er schien zu überlegen, sein Gesicht erhellte sich. "Gut." Kaal fragte, wie sie heiße, was sie mache und ob er richtig läge, wenn er auf 75 C tippe. Sie antwortete ein- bis keinsilbig, immerhin verriet sie ihren Namen, Ana. Und sagte mit leichtem Lächeln, dass man ihren Namen von hinten wie von vorne lesen könne. Kaal streckte die Arme zur Decke und sagte bedeutungsschwanger "o, palindromischer Abendstern", woraufhin sie lachte und sich an ihrem Bier verschluckte. Art schlug ihr etwas zu heftig auf den Rücken und sagte, dass man auch seinen Namen von hinten lesen könne.
Nurmehr hüstelnd fragte sie, wie sein Name laute. Art machte ein feierliches Gesicht und sagte "Tra". Das wollte er wie einen Fanfarenstoß klingen lassen und wenn er keinen Frosch im Hals gehabt hätte, wäre es ihm vielleicht gelungen. So erinnerte 'Tra' an den Ruf einer lispelnden Krähe, die in einen winterlichen See gefallen war. Ana war nicht beeindruckt.
"Und von hinten?", fragte sie. Entschuldigte sich und querte die hopsende und pogende Masse Richtung Toilette.
"Die ist was Besonderes", stellte Art fest.
"Besonders jagenswert", konkretisierte Kaal. Er rieb sich die Hände wie ein schmieriger Händler in der Asterix-Welt. Sprach davon, sie haben zu wollen, kriegen zu müssen, besitzen zu werden. Kann sein, dass Kaal schon überlegte, welche Musik er auflegen würde und welches Öl für ihre helle Haut geeignet wäre. Art war nicht so siegesgewohnt und weniger -sicher. Eher überhaupt nicht.
Der war so ein Typ, für den es keine Phrasen und Floskeln gab, er hatte das Prinzip irgendwie nicht verstanden. Als wäre er durch die Jahrhunderte gefallen oder lebe inmitten einer romantischen Sphäre, die ihn vor der Gegenwart schützte wie Superplasthüllen hydroponische Farmen auf dem Mars. Er schob schöne Worte oder was er dafür hielt in seinem Kopf hin und her, als wären sie die einzelnen Felder eines Rubik-Kubus, aus dem die Frau stiege, wenn die Fläche passte.
Vom Organisatorischen her sahen sie kein Problem. Art hatte keine Freundin. Kaal hatte zwar eine, dürfe aber rummachen und mehr. Ein Konzept, das Art so rätselhaft wie anregend fand. Zugleich war er der Meinung, dass Kaals offene Beziehung ihn in Sachen Ana disqualifizierte. Schließlich hätte Kaal jemanden. Es sei nur fair, dass er Ana bekäme.
"Fair?", fragte Kaal. Er wirkte ehrlich verwundert. Als wäre ihm dieses Konzept in Bezug auf Frauen so fremd, wie es das einer offenen Beziehung für Art gewesen war.
Ana betrachtete sich während des Wartens im Spiegel, streckte die Zunge raus, verlängerte ihre Nase mit zwei Händen und machte noch was Clowneskes. Prüfte dann ihre Schönheitsfehler. Der Leberfleck usw. Alle da. Sie tippte eine SMS an Joy.
Ich werde Ma nie verzeihen, dass wir in dieses Kaff gezogen sind. Fühle mich schon am zweiten Tag wie seit Jahren gefangen. Bin hier auf etwas, das die Landeier Party nennen. Zwei Typen aufgegabelt. Ein Aufreißer und ein Träumer. Beide geil auf mich. Weiß noch nicht, von wem ich mich schnappen lasse. PS: Der Arschloch-Trick funktioniert.
Art fasste sich ein Herz oder seine Eier trieben ihn dazu, der zurückgekehrten Ana zu sagen, wie sehr sie ihm gefiele. Dass er kaum schlafen könne und wenn er doch Schlaf fände, träume er von ihr.
Auf Kaals Stirn steilten Falten des Unglaubens, er schämte sich für Art, der ihm trotz der kurzen Bekanntschaft sympathisch war. Und machte sich bereit, seinerseits Ana anzugraben, wischte Bier vom Tresen in die Haare, damit sie hübsch glänzten und krempelte unauffällig beide T-Shirtärmel hoch. Jetzt waren auch die Tätowierung auf dem rechten Oberarm und die hügeligen Gelände rund um Tri- und Bizepse zu sehen.
Ana reagierte auf Arts hilflose oder mutige Anmache anders als Kaal gedacht hätte. Antwortete stimmlos, aber überzeugend. Als sie ihre Zunge für einen Moment aus Arts Mund nahm, sagte er, wie wunderschön und außergewöhnlich sie sei. Ana kicherte und antwortete mit einem noch längeren Kuss. Kaal rang sich ein hölzernes Lächeln ab und legte den Eroberungsplan ad acta.
Deine Alte ist echt so was von unentspannt. Dass sie dich mir weggenommen hat werd ich ihr nie verzeihen. Lass dir den Träumer schmecken ... kenn dich doch. Kisses, Joy
Kaal, die urbane Legende. Mit dem prächtigsten Iro der Stadt und einer verwegen aussehenden Tätowierung auf dem für einen Sechzehnjährigen erstaunlich muskulösen Oberarm. Und da er wusste oder zu wissen glaubte, was er dem eigenen Ruf schuldig war, nahm er die Niederlage durch Nichtantritt sportlich, und statt Art böse zu sein, nahm er ihn unter seine Fittiche.
Der so fast zeitgleich zur ersten Freundin auch noch einen besten Freund gewann. Kurz darauf den zweitprächtigsten Iro der Stadt hatte, die ersten Nichtschulbücher seines Lebens las und erstaunliche Erkenntnisse über das Zueinanderpassen von Anas und seiner Anatomie gewann.
Für Art bedeutete die Nacht im stickigen, heißen Klubhaus, wo er zweimal umgehauen wurde, die Eintrittskarte in eine neue Welt. Genauer gesagt waren es sogar zwei Karten für drei Welten.
Die von Kaal und Art beschränkte sich anfangs auf tage- und nächtelanges Abhängen in von öligem Rauch vernebelten Zimmern, deren Ränder sich im Takt der Sitar-Improvisationen ins Marijuana zu lösen schienen. Sie vernichteten mit den anderen Couch-, Gras- und Videosüchtigen riesige Vorräte von Tiefkühlpizzen, Literpackungen Eis, Schokolade in allen Form- und Geschmacksvariationen; zogen sich Asterix und Obelix auf Schwäbisch, Kölsch und Plattdeutsch rein, lachten bis nichts mehr ging, diskutierten die drängenden Probleme der Menschheit, entwickelten Masterpläne zur Rettung von Universum und gutem Geschmack und hatten am nächsten Morgen alles vergessen.
Inhalier den Rauch und knips dich weg, verwandle dich in ein audiovisuelles Eingabegerät mit kitzligeren Sensoren, als sie betrunkene Dreizehnjährige haben. Tage- und nächtelang hocken wir neben den anderen Sensoren auf schäbigen Couchen und lassen uns reinziehen, ziehen mit kölsch quatschenden Galliern los, um Piraten und Römer zu verprügeln.
Sehen tausend Todesarten. Zitternde Menschen auf elektrischen Stühlen, denen Qualm aus Köpfen steigt; einen apathisch wirkenden, bis zu den Ellbogen eingegrabenen Schwarzafrikaner, der von hasserfüllten Fratzen auf Storchenbeinen gesteinigt wird; einem zum Tode verurteilten Orientalen bricht aufgrund mangelnder Fallhöhe nicht das Genick, er zappelt mit den Beinen. Wie lang Sekunden sein können. Der erigierte Penis drückt gegen die Stoffhose, auf der sich bald ein dunkler Fleck ausbreitet. Pisse, die von seinen Schuhen tropft.
Neues Eis im Bong, der nächste Zug. Die Reise geht weiter. Ein Blick auf den analogen Wecker: 11 Uhr. Durch die Jalousien in der Küche schneiden Lichtgarben in die Rauchschwaden. Also vormittags. Jemand schließt die Küchentür und legt eine neue DVD ein. Die einzige Lichtquelle ist jetzt das Ausgabegerät. Erneute Vereinnahmung.
Die Art und Ana Welt bestand wochenlang nur aus Zungen auf zarter Haut, leisen Melodien und harten Rhythmen, aus Schweiß und anderen Feuchtigkeiten. Das vierarmige und -beinige Doppelkopfwesen Art und Ana war nach stundenlangem Spiel so ineinander verschlungen, dass manchmal erst der zweite Blick verriet, wo der eine aufhörte und die andere begann.
Der Typ ist irgendwie süß. Denkt wirklich dass es wahre Liebe und son Scheiß gibt. Pass auf dich auf. Love, Ana black widow, howgh!
Als erste Menschen entdecken wir zum ersten Mal die Landschaften des anderen Geschlechts. Da ist keine höhere Wesenheit, die uns aus dem Garten vertreibt, kein Heine, der die Romantik bricht. Alles ist nur aus dem Grund da, um für uns da zu sein. Jedes Wort wahr, weil wir es uns sagen.
Stundenlang ziehen wir unsere Konturen mit den Fingern nach und erforschen Hügel und Täler. Wir beschnüffeln die Höhlen, probieren uns und alles aus, leben Tierzeiten und wissen: Das alles sind wir, das einzig echte Wunder auf der Welt.
Stehen mitten beim Geburtstagsessen deines Vaters kurz nacheinander auf und tun es in dieser Besenkammer von Klo, bis deine Mutter klopft und durch die Sperrholztür zischt, dass wir vermisst würden.
Und was wir uns in den Nächten zuflüstern, alles, was uns in den Sinn kommt, ist grenzenlos, wir sind unendlich und unsterblich. Wir sind all das und jedes Wort ist wahr, weil es das erste Mal gesagt wird.
In der dritten Welt, einer Gemeinschaftsproduktion von Art, Ana und Kaal, sprangen sie nackt von den vielen Brücken der kleinen Stadt, taggten Parolen wie 1-2-3-alletierefrei! und ALLEFARBENDIEICHWILL an die grauen Wände der Hochhaussiedlung. Als sie die falsche Hauswand besprühten, wurden sie von fünf bulligen Faschos durch nachtleere Straßen und über Zäune in die Kleingartenanlage gejagt. Sie versteckten sich in einer leeren Laube und hörten ewige Minuten nur die tiefen Stimmen der Glatzen, die durchs Reich der Gartenzwerge stampften und ihren eigenen Herzschlag.
Schick mir die Jungs mal vorbei. Vielleicht kann ich den andern gebrauchen. *zwinker Muss auf Entgiftung sagt der Kadi. Oder in Knast. Aber keine Sorge, ich schlag mich schon durch. Kennst mich ja. Amüsier dich fein in Bukarest. Forever yours, Joy
Ana-Verlust durch Schüleraustausch. Sie reiste in ein schrecklich klingendes Land Osteuropas. In der Nähe von Absurdistan wahrscheinlich, meinte Kaal. Tränenreicher Abschied ihrerseits. Art wusste gar nicht, wie ihm geschah. Sie würde eine Weile weg sein, erzählte sie Art. Der wirkte verloren, als wäre er eines Morgens auf dem roten Planeten aufgewacht und käme mit dem marsianischen Toasterpatent nicht klar. Sie drückte ihm eine kleine Kiste Erinnerungen in die Hand und einen wilden Kuss auf den Mund. Dann drehte sie sich abrupt um und ging.
Noch schnell vor dem Abflug erledigt! Hab Kaal die Suprarealisten nahe gebracht. Der ist so ein wilder Junge und war sofort Feuer und Flamme, als ich von deren Feldzug gegen die etablierte Literatur erzählte, dass die Lesungen gestürmt haben und so fort. Na, wem sag ich das? Kann sein, dass die mal im Bermuda auftauchen. Mach mit ihm was du willst, achte aber bisschen auf Art, ja? Ist eh nicht dein Typ, bei dir würd er wahrscheinlich ohnehin nicht sprechen. *lächel Muss jetzt Tasche packen. Kuss, Ana PS: Übertreibs nicht.
"Mehr braucht es nicht", sagte Art. Er steckte immer noch in der Ana-Art-Wesenheit, ohne zu realisieren, dass über den Daumen gepeilt die Hälfte des Doppelkopfwesens fehlte. Fest verankert im Nirgendwo und nur von der Unendlichkeit begrenzt, die er mit dem Zeigefinger anstupsen könnte, wenn er sich auf Zehenspitzen stellen würde. Art sagte häufig ihren Namen vor sich her. "Ana", sagte er in den leeren Raum, zu einem Buch oder einem Lied und setzte manchmal "mehr braucht es nicht" hintenan. In den nächsten Tagen löste sich die Ana-Silhouette auf, er stemmte sich gegen die zunehmende Unvollständigkeit, fiel auf den Boden der Tatsachen, blieb etwas trotzig sitzen und wartete, dass ihm jemand die Hand zum Aufstehen reiche.
"Mir reicht das nicht", sagte Kaal. "Das ewige Rumgehänge kotzt mich an. Immer dieselben Fressen, aus denen die gleichen Schwachheiten kondensieren. Ich ersticke in diesem Nebel aus Dummheit." Er kramte in seinem Rucksack, zog ein paar zerfledderte Bücher heraus und knallte sie auf den Tisch. "Hier", sagte er, "Martin Eden, Hunger und Nachtwachen. Das sind Ausblicke, nach denen du keine Halbheiten mehr zu leben wagst. Lies das."
Kaal verließ Arts Jugendzimmer grußlos. Und Art las. Geschichten von autodidaktischen Freigeistern, die sich zum Erfolg boxten, die satirisch, luzide oder wahnhaft an den Gitterstäben der Vernunft rütteln. Nichts außer echter Liebe zu Menschen und Wahrheit galt ihnen etwas. Sie wüteten hungrig gegen die vollgefressene und gleichgültige Welt; schufteten tags und lernten nachts , um der Geliebten aus der besseren Gesellschaft würdig zu werden. Einer zeugte im Irrenhaus einen Narren.
"Und jetzt?", fragte Art.
"Ja, und jetzt?", äffte Kaal ihn nach. "Das muss halt mal wieder aktualisiert werden. Wir müssen die Menschen wissen lassen, was sie sein könnten. Doch erst brauchen wir Stoff. Lesen ist die eine Seite des Schreibens."
Art fragte sich, ob Kaal die Bücher nicht ausgelesen hatte. Der zum Schluss erfolgreiche Schriftsteller begeht mittelbaren Selbstmord. Kreuzgang, der Irrenhäusler, ruft statt der Zeit die Ewigkeit aus, was in Arts Ohren auch nicht gut klang, obwohl er es nicht so ganz verstanden hatte. Einzig der Hungrige erlebte ein wenigstens offenes Ende.
Kaal stahl Dostojewski, Borges und Kafka aus der Bibliothek. Art klaute Bernhard und die ersten übersetzten Werke Bolanos aus der örtlichen Buchhandlung. Sie gründeten einen Orden, den sie zeiten- und ortevereinender Extrakt aller jemals auf diesem Planeten geschriebenen Poesie nannten, kurz Z.U.O.E.A.J.A.D.P.G.P.
Den leiteten sie direkt von chilenischen Suprarealisten her, einem lyrischen Orden, dessen Entstehung und Existenz bisher kaum aufgearbeitet sind und dessen einziger Gedichtband laut Ana nur im Besitz einer Freundin sei. Ein paar Gedichte hatte die per Hand kopiert. Nachrichten aus anderen Welten. Lyrische Unmöglichkeiten: Das seltene Phänomen gleichzeitigen Sonnenauf- und untergangs, das einen schelmischen Inkapriester auf die Idee brachte, daraus eine absurde Prophezeiung über das Apokalypsedatum abzuleiten, das von einem Maya-Spion gestohlen wurde; eine Wolkenformation über Macchu Picu, die das Geheimnis von perfektem Lamaeintopf und Unsterblichkeit verriete, wenn man die Wolkensprache zu entschlüsseln vermochte; der letzte Avatar auf Erden, dem das Wissen um die göttliche Abstammung abhanden gekommen war und der seit Jahrhunderten durch die patagonische Tundra streift, wo er mit übermenschlicher Geduld und Besessenheit mittelmäßige Zeichnungen in den Permafrostboden ritzt.
Um das Buch zu bekommen, mussten sie in die Stadt des Nordens reisen, irgendwo dort sollte sich dieses Mädchen rumtreiben. Ana hatte ungefähre Koordinaten ausgegeben. "Drei Stunden Fahrt für ein Buch?", fragte Art. Der Anlass erfordere besonderes Engagement, sagte Kaal.
"Okay, eine Wallfahrt", dachte Art laut. Joy sei sicher auf der Partymeile zu finden, hatte Ana gesagt. "Aus Recherchegründen ins Nachtleben", sagte Art, "klingt schick."
"Nicht schick. Unbedingt nötig! Die andere Seite des Schreibens heißt Leben. Man muss von der Realität nehmen, um Literatur zu machen. Und dazu gehören auch die weniger gut ausgeleuchteten Orte. Hinein in Kneipen, Puffs und Drogenhöhlen! Überleben, um davon zu erzählen!"
Zeitgenössischer Literatur fehle Echtheit, behauptete Kaal, als sie auf ihren Streifzügen am Hafen angekommen waren und das Wuseln ein- und aussteigender Fährgäste beobachteten. Art nickte, etwas müde von Kaals Literaturtheorie. Außerdem konnte er diesen Gedanken nicht schlüssig nachvollziehen. Literatur sei ohnehin eine andere Realität, wie könne sie da nicht echt sein? Kaal hielt sich mit dieser Frage nicht auf, sondern schimpfte über eine kritisierende Journaille, die Authentizität verlangt und trotzdem Autoren feiert, deren Bücher bei aller Unterhaltsamkeit selbst die Tendenz zur Realitätsnähe vermissen ließen.
Der Mahlstrom ihrer Interessen saugte sie spiralförmig tiefer in die Eingeweide der Stadt, zu den Orten, wo zwar keine Scheiße und Messer durch die Luft flogen, aber Fäkalsprache und Fäuste.
Bei der offenen Lesebühne in einem stickigen Kellerloch schrieb Kaal seinen Namen auf die Schiefertafel. Er würde den letzten Auftritt an diesem Abend haben. Art war verblüfft. "Du hast doch noch nie was geschrieben!", sagte er. Kaal öffnete seinen Kurzmantel, lächelte grimmig bis ironisch und zog einen beidseitig beschriebenen DIN-A4-Zettel heraus. "Doch."
Etwas mehr als zwei Stunden später war die Zuhörerschaft leicht angetrunken und satt vom Gehörten und davon, sich die Beine in den Bauch zu stehen. "Sitzt das Outfit? Dies ist mein Auftritt!", sagte Kaal und stratzte zur niedrigen Bühne. Sie war den Sitzbänken so nah, dass man von dort den Schweiß auf der Stirn der Dichter sehen konnte.
"Zuhörer! Ich bin das erste Mal in dieser Stadt und seiner Literatur und muss euch sagen, was ich sehe, missfällt mir. Es werden Bücher junger Autoren gefeiert, in denen vor allem oder fast ausschließlich Ausschweifungen geschildert werden! Laster- und triebhaftes Verhalten, von dem man nur hoffen kann, dass die eigenen Söhne und Töchter diese Erfahrungen nicht machen. Diese Situation ist, nun ja, etwas schade, aber altbekannt. Neu ist hingegen die Absurdität der Situation. Der Umfang, in dem die Geschichten auf das Leben rückwirken! Wie wir auf unseren jüngsten Streifzügen festgestellt haben ..." Kaal zeigte auf Art, der spontan Sehnsucht nach einer tragbaren Teleportationsmaschine entwickelte. " ... Hier und überall in den großen Städten trollen sich Nachwachsende, maskiert mit übergroßen Brillen, aufgepeppter Hippieklamotte und affektiertem Künstlerhabitus. Und zumeist höchstens halb so kaputt, wie sie zu sein vorgeben.
Auf den Parties in den besseren Vierteln, wenn die Eltern ausgeflogen und ihre Stadtvillen sturmfrei sind, ziehen sie sich im Gefühl jugendlicher Rebellion und abgrundtiefer Verruchtheit mickrige Joints rein und haben verkrampften Teenagersex. Das tut freilich vor allem den Betroffenen weh. Der Knackpunkt ist ein anderer. Was setzt den falschen Underdogs die Strass-Krone auf? Dass sie sich mit fremden Federn schmücken wollen, die weder Schmuck noch echt sind ... "
Kaal machte eine kurze Pause und checkte die Lage. Er besaß ungeteilte Aufmerksamkeit. Art überlegte, ob er aus dem Keller ungesehen entkommen könnte. Aber die Leute standen dicht an dicht, schwitzend und rauchend. Er hätte sich durchdrängeln können, das aber hätte Aufmerksamkeit erregt ...
" ... Freie Liebe und Bewusstseinserweiterung durch Drogen? Darüber lachen die überlebenden 68er heute noch. Wie wäre es mit neuen Irrtümern - einer Abwechslung?"
Weckerklingeln. Fünf Minuten Redezeit hat jeder Lesebühnenaktivist. Die waren um. Danach zeigen die Zuhörer den Daumen nach oben oder unten. "Weiter!", riefen ein paar. "Aufhören!", ein paar weniger. Stehen blieben sie alle, aufmerksam wie den ganzen Abend nicht. "Danke, danke!", sagte Kaal. Zog etwas Flaches, in eine Tüte Eingewickeltes, aus der anderen Tasche des Mantels und legte es auf den Boden hinter sich. "Ein Präsent", sagte er. "Als Dank für eure Aufmerksamkeit. Ihr merkt sicher, wie sehr mir das Thema am Herzen liegt."
"Mach schon!"
"Schon gut", sagte Kaal, "der Schluss liegt ohnehin nahe. Denn was bitte produzieren diese Milieus für Geschichten?", fragte er. "Die letzten Durchsagen können doch nicht alles sein. Müssen wir uns mit tagebuchartigen Schnulzen begnügen, realitätsferner Institutsliteratur, pointengeilen Slamtexten oder den überspannten Fantasien von bildungsbürgerlichen Wochenendkiffern, die ihre fiktive Zerschossenheit feiern? Die alles mit der Sex-, Drogen- und Gewaltsoße übergießen ... ob fix zusammengeschriebener Schnellkochtopf oder literarisches Dreisternemenü – überall Ketchup rüber oder wie? Gibt es denn keine echte Haltung, ja, gibt es denn wirklich keine Helden mehr?"
Kaal verließ die Bühne, ging seelenruhig durch ungefähr fünfzig Spalier stehende Lesebühnen-Fans. Man verfolgte gespannt seine Schritte hin zu Art, der noch einmal die Taschen nach dem tragbaren Teleporter absuchte. Kaal sagte zu Art, in einer Lautstärke, die den Satz an jeden richtete, dass er kurz frische Luft schnappen wolle und gleich wiederkäme.
Oben angekommen, nahm er Art bei der Hand und fing an zu laufen, rannte, was das Zeug hielt, über die Partymeile der Seilerbahn. "Stinkbombe", keuchte er lachend, als sie viele Ecken weiter verschnauften. "Du solltest wenigstens irgend etwas geschrieben haben, bevor du solche Töne spuckst", empörte sich Art. "Hab ich doch", sagte Kaal und hielt grinsend seine Streitschrift hoch. "Was eigenes." Kaal winkte ab. "Kommt schon noch, keine Sorge."
"Und jetzt?", fragte Art. Kaal sagte, dass er ihn zum Trinken einlade. Der Barmann vom vier Ponys machte ein langes Gesicht, als wäre er selbst ein kleines Pferd, als Kaal zwei Apfelschorle bestellte. "Wo kriegen wir jetzt die Geschichten her?", fragte Art. Kaal gestand, dass er auch keine Ahnung habe, wo die sich rumtrieben. "Ich bin aber sicher", sagte er, "die kommen zu uns, wir müssen nur ausdauernd genug nicht nach ihnen suchen." Am besten funktioniere Nichtsuchen im Dunstkreis von Drogen, Parties und durchgemachten Nächten.
Es war genau der Ort, wo Kaal sein wollte. Dort sei alles, was für ihre Literatur benötigt würde. Die Unendlichkeit hätten sie in sich, die andere Seite müsse ins Boot geholt werden. "Erst dann können wir den Styx hinaufrudern und Nachricht vom Urquell in die gegenwärtige Sprache übersetzen", sagte Kaal. Sie suchten das Abgefuckte im Dienste ihrer höheren Macht, der Kunst. Vielleicht gingen sie auch einfach nur verloren.
Zwischen harten Typen und verwirrten Schwätzern, den Geschichten von der Legendenhure und dem König der Landstreicher, die bald Hochzeit feiern werden, wie in den Bars geflüstert wurde. Zwischen Gestalten, die Spitznamen hatten als entstammten sie pastelligen Comicwelten, mit Lebensläufen aus düsteren Graphic Novels.
Da war Doc Snyder, ein alter Säufer, der auf Krücken an die Bar humpelte und jeden mit dem Blick des alten Fuchses musterte, der alles gesehen und fast alles getan hatte. Und Vorträge hielt über die Unzurechnungsfähigkeit einer Regierung, die von einer Frau geführt wird. Über die Gefahr der Überfremdung und dass man deutschen Jungs Arbeitsplätze wegnähme, dabei blinzelte er verschlagen zu Jaan Kolibri, der vom Chef des Amore aus Bukarest nach Deutschland geholt worden war, damit Jaan für ihn anschaffte. Er berichtete von den Problemen mit einem Mitbewohner, der sich über die Frequenz der Freier aufgeregt hatte, die Klo und Dusche blockierten. Aber der mache keinen Ärger mehr, seitdem er wisse, wer sein Zuhälter sei. Man nenne ihn nicht umsonst das beste Pferd im Stall, vertraute er Art mit glänzenden Augen an. Vielleicht bewegte ihn das leise Lied von Linn Bo-Hei Meyer. Einer deutsch-chinesischen Schauspielschülerin, die stets eine billige Federboa um ihren schlanken, porzellanweißen Hals trug und jeden Abend eine schier endlose Zahl Mentholkippen durch ihre Zigarettenspitze rauchte. Wenn sie betrunken war, sang sie manchmal chinesische Liebesweisen, die das Herz öffneten, obwohl oder weil niemand ein Wort verstand.
Dutzende mehr, die er immer wieder traf und erkannte, ohne dass ihm ihre Namen einfielen. Art vergaß sie schnell oder merkte sie nicht. Das war ihm unangenehm, bis er feststellte, dass sich auch kaum jemand an ihn erinnerte.
Sie hingen auf einem Teil der Partymeile ab, der nicht ohne Grund Bermudadreieck genannt wurde. Hier gingen alle verloren, die nichts mehr zu suchen hatten, und wer dort einmal verloren gegangen war, fand sich lange nicht oder nie mehr wieder. Kaal und Art jedes Wochenende mittendrin. Zu Beginn fragten sie noch nach Joy, die jeder zu kennen schien, ohne dass sie jemand in letzter Zeit gesehen hätte. Sie riefen ein paar Mal unter der Nummer an, die Ana ihnen gegeben hatte, erreichten aber nur die Mailbox, auf der Kaal Namen und Handynummer hinterließ.
Am dritten Wochenende meldete sich Joy und verabredete sich mit den beiden irgendwo im Bermuda. Sie sei gerade aus der Entgiftung gekommen, sagte sie und müsse unbedingt feiern. "Entgiftung?", fragte Art. Joy winkte ab. "Nicht dass ichs nötig hätte. Die ham mich bei ner Razzia im Stundenhotel erwischt und dann bin ich lieber dahin als in Knast." Weder Kaal noch Art wollten glauben, dass sie Hure sei. Joy fluchte zwar wie ein neapolitanischer Müllwagenfahrer, redete aber genauso eloquent und kenntnisreich über gesellschaftliches Tagesgeschehen wie über die asklepiadeische Odenstrophe. "Na Jungs, ich bin ja auch keine richtige Nutte. Fick halt gern und krieg Geld dafür. Irgendwie will so ein Studium ja finanziert werden. Macht doch heutzutage jeder."
"Echt?", fragte Art.
"Du bist süß. Wenn ichs doch sage."
Art sah sie mit großen Augen an. Versuchte das zu verdauen. Wechselte das Thema. "Hast du das Buch?", fragte er. Joy wirkte das erste Mal überrascht, erinnerte sich dann an Anas SMS und die Geschichte mit den Suprarealisten. "Nicht hier", sagte sie, "heute wird gefeiert."
Sie schnappte sich Kaal, zog ihn auf die Tanzfläche, sie waren in einem dieser vollgestopften Clubs, die die ganze Nacht Minimal-Techno spielen, und betanzte ihn wie eine Go-Go-Tänzerin ihre Stange. Kaal stellte sich als ihr perfekter Partner heraus, es schien ihm zu reichen, ihre Titten und den Arsch zu begrabschen und als Eigenleistung minimale Beinbewegungen.
"Joy ist meine Femme fatale", sagte Kaal, "die hat vom Leben was gesehen, das abgebrühte Ding. Genau was ich brauche." Sie sei auch äußerlich genau sein Typ. Rabenschwarzes Haar und ozeanblaue Augen. Als sich herausstellte, dass die Haare getönt waren und sie farbige Kontaktlinsen trug, meinte er lapidar, dass es wohl kaum auf Äußerlichkeiten ankäme.
Kaal verbrachte die Zeit mit, auf und in Joy, wovon er detailliert erzählte, wenn er Art mal traf, was immer seltener geschah. Führte aus, was genau sie in welcher Stellung getan hätten, wer wie oft gekommen sei und welche Geräusche sie gemacht habe. Art nickte, lächelte und vergaß. Kaal rauchte jetzt Opium, was in Joys Kreisen en vogue war. Dort wurden Partner getauscht, schwarze Klamotten getragen und Kurzhaarschnitte, Sartre, Crowley und Baudelaire verehrt. Das Ganze zu einem antibürgerlichen Lebensstil stilisiert, den zumeist gutbürgerliche Eltern bezahlten, der Staat oder, wie in Joys Fall, Freier.
Art durchstreifte die Bars im Bermudadreieck auf der manischen Suche nach Transen und Ladyboys, in denen er die verkörperte Sehnsucht nach Vereinigung von männlichem und weiblichem Prinzip zu sehen glaubte. Er meinte in deren Gesichtern etwas entdeckt zu haben, das ein Schlüssel zu gewissen Geheimnissen sei und zeichnete sie, um sich diesem Schlüssel anzunähern. Studien für die Produktion des neuen Helden.
Von Woche zu Woche sah er Kaal vor seinen Augen verfallen. Joy steckte tiefer in der Scheiße als sie wahrhaben wollte, wie man im Dreieck munkelte und rauchte Opium wie ein chinesischer Mandarin. Und Kaal? Er sei schließlich ihr Mann, und als dieser müsse er auf Joy achtgeben. Sein Gesicht wurde schmal und schmaler, die Wangenknochen traten hervor wie bei hungernden Lagerinsassen, riesige Augenringe. Zombiefizierung. Er werde zu einem lebenden Toten, einem todesverliebten Schreckgespenst, wie Art ihm vorhielt.
"Leben kann man das nicht mehr nennen", sagte er, "das ist kaum mehr Instandhaltung!"
Kaal lachte freudlos. "Ich blicke in die Abgründe", sagte er. "Es geht alles um das große Werk."
"Mittlerweile", sagte Art, "blickt der Abgrund aus dir heraus. Und du hast noch immer keine einzige Zeile geschrieben." Kaal zuckte die Schultern und wendete sich ab.
Art packte und riss ihn herum und schlug ihm immer wieder die flache Hand ins Gesicht. "Wach auf!", rief er, "wach auf!" Kaal hob behäbig die Hand wie unter großer Anstrengung oder als verstände er die Aufregung nicht und hielt damit Arts Hand fest. "Entspann dich", sagte er, "lass gut sein."
Wenige Wochen später
Ana und Art hatten ihr Wiedersehen auf einer Freiluftgoa gefeiert. Nach 48 Stunden grünem Tee, durchtanzten Nächten, langem Imarmhalten und Indieaugenschauen und ununterbrochener Beschallung durch sphärische Beats standen sie kurz vor der Transformation zu Klangkörpern.
Auf dem Heimweg hielten sie an einem See und sahen die Sonne aufgehen. Rotorangenes Licht luscherte durch die Wolken, stieg höher, flutete den Wasserspiegel und ließ tausend Goldboote über den See tanzen. Da war sie wieder, die Unendlichkeit. Beide wussten es, spürten es. Und wer unendlich ist, der fürchtet nichts. Auch keinen Zug von Kaals Pfeife. Ana freute sich tierisch, Joy zu treffen, die ihr in langen Nächten erzählte, was alles geschehen war. Vor allem Geschöntes und Erfundenes, manchmal auch falsch Erinnertes.
Um das Geld für den Konsum zu organisieren, begann Kaal das Zeug im Städtchen zu verkaufen. "Opium", sagte er, "ist feinste Biokost." Er verteilte Gratisproben und hatte bald genügend freakige Goanauten und von ihrer A-Droge gelangweilte Kiffer als Absatzmarkt gefunden. "Damit sie nicht mehr anschaffen muss", sagte er und gab die Scheine Ana, die einmal in der Woche zu Joy fuhr. Sie brauche eine Auszeit von Kaal, hatte Joy gesagt und den direkten Kontakt abgebrochen.
Die gewonnene Zeit und Kaals Scheine investierte sie in Heroin, Morphium, Polamedon, Methadon, Buprenorphin, Codein, vorzugsweise flüssig, also injizierbar. Sie war wirklich froh, Kaal zu haben, denn die Freier zahlten nicht viel für Wracks.
Ana hatte einen Zweitschlüssel zur Wohnung und brachte jedesmal den Einkauf mit, also das, was Joy noch zu essen bereit und imstande war. Erdbeermilch, Joghurt und Schokoriegel.
Einmal fand sie Joy mit der Spritze in der Armbeuge gegen die Couch gelehnt. Kinn auf der Brust, ein dünner Speichelfaden hing aus dem Mundwinkel. Ana fühlte ihren Puls. Herzschläge eines Kolibris. Ana drehte Joy in die stabile Seitenlage, in ihrer Hilflosigkeit wusste sie sich nicht besser zu helfen, rief den Krankenwagen, hielt ihre Hand und weinte.
Sorry Ana baby, war keine Absicht. Joy
Schreib einfach ne Nachricht bevor du solchen Blödsinn machst. Will dich nicht verliern! Umarme dich, Ana
Beim nächsten Mal kam sie zu spät. Ana beatmete Joys kalte Lippen, legte sie auf den Boden und machte eine Herzmassage, wie sie es in irgendeiner Krankenhaus-Sitcom gesehen hatte. Stand dann auf und ging kopflos durch die kleine Wohnung, lief dort stundenlang umher. Ich habe einen Geist gesehen, dachte sie, nein, ich selbst bin einer. Auf dem Tisch lag ein Zettel. 'Injizierte mir hochprozentiges Gift. Bei Bewusstlosigkeit: 112. Küsse, Joy.'
'Sie hat die Nachricht geschrieben', dachte Ana mit unheimlicher Gemütsruhe. Sie sah auf ihre Hände und hatte den Eindruck, dass sie aus großer Höhe auf die Greifwerkzeuge eines Androiden oder einer mechanischen Puppe schaute.
Ana hockte sich wieder über ihre tote Freundin, zog ihr mit Puppenhänden die Nadel aus dem Arm, legte Joy auf den Rücken, faltete ihre Hände über der Brust und schloss die Augenlider.
'Tot, tot, tot', hallte es in ihr. Sie fürchtete um ihren Verstand, verließ die Wohnung und tippte den Notruf.
"Ich will sie nicht mehr vor mir sehen", sagte Ana, "wie sie daliegt. Die Nadel im Arm, bleich und wächsern die Haut."
"Nimm." Kaal reichte ihr die Pfeife. "Ich muss sie auch vergessen", sagte er und rauchte.
Art sagte nichts oder sehr wenig, hockte nur in seinem Sessel, sah das Kommen und Gehen von Kaals Kunden, die ein paar Züge nahmen und feststellten, dass es ein Jammer sei mit Joy. Ihre glänzenden Augen mit den Stecknadelpupillen erinnerten ihn an Reptilien. Wenn Art rauchte, spürte er keinen Unterschied zu vorher. Alles war geisterhaft. Er hatte das Gefühl, hinter sich zu schweben, während er hörte, wie über die Tote und andere gesprochen wurde, die am Gift krepiert waren.
Der eine hatte sich im Vollrausch übergeben und war an seiner Kotze erstickt. Ein anderer war auf einer Allee in Sekundenschlaf gefallen und hatte das Auto mit zwei Beifahrern um einen Baum gewickelt. Nur ein Hund hatte überlebt, dem musste ein Bein amputiert werden. Den sähe man manchmal durch die Stadt humpeln, an der Leine vom Vater des Toten. Der Alte hätte so ein graues Gesicht bekommen. Ein Mädchen war von ihren Eltern in der Badewanne gefunden worden. Überdosis Kokain, Herzstillstand. Auf einem Beistelltisch war ein spanisches Gedichtbuch von Neruda gelegen und die Notiz, dass alles ungerecht sei und das Leben eine einzige Falschheit. Sie verfluchte, dass sie gezeugt und geboren worden war. 'Küsse, eure euch liebende Tochter' habe darunter gestanden. Und der eine ... und der andere. Alle tot.
Art saß in seinem Sessel und überlegte, warum er sich so unwirklich fühle. Ob er zuviel oder zuwenig geraucht habe. Er ging zu Ana ins Nebenzimmer, legte sich neben sie und zeichnete ihre Gesichtszüge mit seinem Zeigefinger nach. Sie riss ihm die Hose runter.
Er sah auf das schlaffe Schwengelchen. Anas Finger im funzeligen Licht begrabbelten sein Geschlecht, er spürte, wie sie es in den Mund nahm. Art dachte, sie habe den Penis eines Toten im Mund und konnte sich gerade noch zurückhalten, das zu sagen.
Irgendwann bekam er doch eine Erektion. Sie drehte ihm den Rücken zu, zog ihre Jogginghose knapp unter den Hintern, schob den Slip beiseite und zerrte ihn rein. Er reagierte mechanisch, stieß zu, stieß auf Widerstand, sie verkrampfte sich, er wollte aufhören. Sie fauchte, dass er nicht wagen solle aufzuhören, sie müsse ihn spüren, das Leben. Ana heulte, verkrampfte immer wieder, schrie, flehte, beschwor ihn, aufzuhören, weiterzumachen, bis sie zitternd und heulend zusammenbrach. Später in dieser Nacht klingelte die Polizei. Man hatte eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Polizisten nahmen alle drei mit.
Ana bekam immer öfter ihre Heulanfälle. Art wurde stiller, zog sich zurück und sagte wirre Sätze, wenn er mal sprach. Kaal kotzte jeden Morgen, nachdem er den ersten Kopf geraucht hatte. Sie beschlossen aufzuhören. Nachdem sie das Opium in einem letzten Exzess ausgekostet hätten.
Die Eltern waren verreist. Ana, Art und Kaal hatten das Haus auf dem Land für sich, rauchten, gingen spazieren, sahen Filme von Fritz Lang und lasen sich Gedichte von Whitman, Boudet und Lerner vor. "Wo ist eigentlich das Buch der Suprarealisten?", fragte Art. Ana und Kaal sahen ihn an als wäre er ein Marsmensch, und antworteten nicht.
"Das ist das Leben", sagte Kaal einmal, "das wahre Leben. Vis a vis der Tod. Nur wenn man dem Tod ins Auge blickt, spürt man das wahre Leben." Art kam die Sprache bekannt vor, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Er nickte müde und schlief bald darauf im Sitzen gegen die Wand gelehnt ein.
Ana weckte ihn mit einem Kuss. Ob es okay sei, wenn sie mit Kaal schliefe, fragte sie, sie habe so große Lust darauf. Art nickte stumm, ohne dass ihn die Bedeutung der Worte erreichte. 'Alles ist hohl', dachte er, 'die Welt eine einzige Phrase'. Sie stand auf und ging, drehte sich noch einmal um und lächelte ihn an. "Du weißt, dass ich dich liebe, oder?"
Das hatte sie noch nie gesagt. In einem Moment der Klarheit sah er Ana wie auf einer Bühne. Der auf den Oberarm verrutschte Hemdausschnitt zeigte ihre Schulter, die Falte zwischen Oberschenkel und Pobacken lugte knapp unter dem Saum hervor, er betrachtete sie, bis Ana vom dunklen Flur verschluckt wurde.
Nieselregen wehte gegen die Fenster. 'Hyperralität', dachte Art zusammenhanglos. Er driftete weg, wenige Minuten Schlaf oder Bewusstlosigkeit. Dann eine Bö wie ein Sturmdämon, schwere Regenfracht peitschte gegen das Panoramafenster, schüttelte das Grünzeug und drückte es gegen die Scheibe.
Aschegeschmack auf der Zunge. Art fühlte sich kraftlos und Sorge um die andere Hälfte, spürte etwas wie die Ahnung von doppeltem Alleinsein, Einsamkeit. Und schlafwandelte zu Anas Jugendzimmer, öffnete die Tür und hörte das Keuchen.
Anas Hinterkopf bewegte sich mit gleichmäßigen Rucken über Kaals Mitte und erinnerte Art an eine Maschine, die er noch nie gesehen hatte. Zwei ihrer Finger rutschten im selben Rhythmus bis zum Knöchel in Kaals Anus und wieder hinaus. 'Hat sie bei mir nie gemacht', registrierte Art.
Er spürte Flüssigkeit in die Augen steigen, kämpfte gegen die Tränen, aber der Körper gehorchte nicht. Art setzte sich auf einen Stuhl und heulte hemmungslos. Ana stoppte das Lutschen und fragte, die Finger in Kaals Arsch, was los sei. "Komm doch zu uns", sagte sie. Art schüttelte den Kopf, stopfte sich eine Pfeife und sah zu, wie Ana küssend und leckend Kaals Körper hinaufwanderte. Als sie bei seinem Oberkörper angekommen war, drückte Kaal sie auf die Matratze, griff mit der Hand nach ihrem Geschlecht und streichelte die kleine Spitze. Sie machte diese leisen Geräusche - etwas zwischen Stöhnen und Schnurren, das Art bisher nur unter vier Augen gehört hatte - zog Kaals Kopf zu sich herab und flüsterte ihm etwas.
Er positionierte sich über ihrer langsam aufgehenden Schere. Anas forderndes Flüstern. Ihre Beine umklammerten seinen Hintern und drückten ihn hinein. Art wollte eingreifen und den anderen Mann von seiner Geliebten reißen. Er war schon halb aufgestanden, da fiel ihm ein, dass alles abgesprochen sei und also seine Richtigkeit habe. Dachte zerstreut, dass Kaals Anatomie genauso gut zu Ana passte wie seine eigene.
Nach abgeschlossenem Akt krabbelte er aufs Bett und legte sich rechts neben Ana, die in der Mitte lag. Sie legte die Arme um Art und Kaal und sagte leise, dass sie ihre beiden Männer liebe. Bald schlief er trotz des störenden Arms ein und bis zum nächsten Morgen durch.
Er hatte von einem brennenden Schloss auf einer hohen Klippe geträumt, gegen die ein dunkelblaues Meer brandete. In dem Schloss war er auf einem schlanken Stuhl ohne Armlehnen gesessen und hatte in einen leeren Saal gestarrt. Nun, nach dem Aufwachen, war er mit dem Nichts der Nüchternheit und der noch schlafenden Ana allein.
Art ertrug die Vorstellung nicht, sie anzusehen oder zu berühren, von ihr angesehen oder berührt zu werden, kletterte leise vom Hochbett und ging in die Küche. Auf dem Tisch lag eine Nachricht.
Ich hätte es nicht ausgehalten, Euch nach der letzten Nacht ins Gesicht zu sehen. Trampe zum Meer und werfe mich den Haien zum Fraß vor wie Martin Eden. Das letzte Gift lasse ich hier. Mit dem Teufelszeug will ich nichts mehr zu tun haben. Ich werde nicht mit ansehen, wie nach Joy meine besten Freunde zugrunde gehen.
'Haie?', dachte Art und hätte fast gelächelt. Er nahm den Giftbrocken, setzte sich auf die Veranda und sah über das weite Feld hinter dem Haus.
Es war ein warmer Morgen im Spätsommer. Die Luft roch nach dem nächtlichen Regen frisch und die kultivierte Landschaft glänzte unter der Sonne. Grillen zirpten durch die dörfliche Ruhe. Trotz dieses ganz und gar üblichen Anblicks dachte Art, der Himmel wäre kurz davor, etwas Unglaubliches zu tun: Sich umstülpen vielleicht oder auf die glänzenden Felder sinken und alles Land und jeden Menschen unter sich ersticken. Art wartete, bis das Gefühl im Morgen versickert war.
Dachte kühl, dass es auch für ihn Zeit sei, einmal eine Entscheidung zu treffen. Er zerhäckselte den Brocken, füllte das rauchfeine Pulver in eine Fotodose und ging auf Klo. Kippte es in das Becken, pisste drauf und drückte die Spülung.