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"Gib mir die Hand"
"Gib mir die Hand"
Autos rasen in einem unbändigen, nie enden wollendem Strom an dem Kind vorbei. Obwohl es neblig und schon sehr spät ist – weit nach Mitternacht – scheint die Straße immer noch belebt zu sein.
Das Kind sieht zu, wie die Lichter der vorbeifahrenden PKW näher kommen, für einen Moment blendend hell aufblitzen und dann wieder in die undurchdringliche Nebelwand eintauchen.
Das Kind sitzt unbeweglich auf der kühlen Erde direkt neben der Straße. Es trägt eine dunkelbraune, schmutzige Jacke, zerrissene Jeans und viel zu große Schuhe. Wenn man von der Kleidung absieht, ist es ein ziemlich hübsches kleines Mädchen. Dunkle, zerzauste Locken fallen bis auf die Schultern herab, und die großen, braunen Augen blicken klug aus dem runden, gebräunten Gesicht.
Das Kind ist ganz allein auf dieser Welt, denn es hat keine Familie, keine Freunde, niemanden.
Das Dröhnen der vorbeiziehenden Fahrzeuge scheint es nicht zu kümmern. Überhaupt scheint es, als würde sich das Kind um nichts sorgen. Es blickt nur aufmerksam geradeaus, wo etwas auf der Fahrbahn liegt. Die Fahrzeuge weichen aus, machen einen Bogen darum, doch niemand nimmt es wirklich wahr.
Das Mädchen starrt nun wie gebannt auf das Ding, das da auf der Straße liegt. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein achtlos weggeworfenes Bündel schmutziger Lumpen – wertloser Müll, Abfall, auf die Straße geworfen, niemand kümmert sich mehr darum.
Plötzlich laufen Tränen die Wangen des Kindes hinab, als es erkennt, was geschieht.
Da tritt ein junger Mann an das Mädchen heran. Es dreht sich zu ihm um und fragt leise: „Wer bist du?“
Der Fremde lächelt und antwortet: „Ich bin der, der du möchtest, dass ich bin.“
Das Kind wischt die Tränen mit dem Handrücken fort und sieht den Unbekannten mit erstaunten, jedoch furchtlosen Augen an.
„Gib mir die Hand“ sagt er.