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Ghost Story
Rhea hatte helle Haut, und ihre langen, glatten Haare waren fast weiß. Wenn sie sprach, lächelte sie verlegen, und sie hielt sich die Hand vor den Mund, wenn sie lachte. Aber es waren ihre Augen, die mich damals rumgekriegt hatten, mich als Spender zu bewerben.
Im Moment waren diese Augen das Einzige, was von ihrem Gesicht noch zu sehen war, blau wie Chromstahl unter einem wolkenlosen Himmel. Trotz der Papiermaske hielt sie sich die Hand vor den Mund, als sie lachen musste, weil ich mich verkehrt herum auf den OP-Stuhl gesetzt hatte.
„Nicht so, anders herum! Mit dem Bauch an die Lehne … und die Hände an diese Griffe.“
Als sie sich vorbeugte, um die Griffe an meine Arme anzupassen, zeichnete sich ihr Po unter dem Labormantel ab, und ich war plötzlich ganz froh darüber, dass jetzt meine Vorderseite an der weißen Kunstlederpolsterung lehnte. Ich saß ein wenig wie auf einem Motorrad, vielleicht etwas gebückter. In die Verlängerung der Bauchlehne integriert befand sich ein ovales Loch, das offensichtlich dafür gedacht war, meinen Kopf aufzunehmen. Darüber hing, wie eine überdimensionierte Dornenkrone, die kreisförmige Schiene des Operationsroboters.
Die Illusion, auf einem Motorrad zu sitzen, wurde dadurch verstärkt, dass sich der OP-Stuhl im Tunnel eines riesigen Kernspintomographen befand, dessen gedämpftes Summen nun langsam anschwoll. Ich versuchte, ohne die Hände von den Griffen zu nehmen, meinen Kopf so weit zu drehen, dass ich Rhea sehen konnte. Sie hatte eine Brille mit dicken Metallbügeln aufgesetzt, deren opalisierende Gläser sich mit grünen Neonbuchstaben füllten. Ihre Augen folgten hektisch den leuchtenden Zeichen, als diese plötzlich von der Darstellung eines nackten, gehäuteten Mannes abgelöst wurden, der rittlings in der Luft saß. Entgeistert ließ ich die Griffe los und beugte mich zu Rhea, um besser sehen zu können. Der gehäutete Mann auf Rheas Brillengläsern starrte mit offenem Mund zurück. Rhea hielt die Hand vor ihren Mundschutz und lachte.
„AR“, erklärte sie. Und als ich sie immer noch ahnungslos ansah: „Du wirst vom MRT gescannt“, (Sie deutete auf die Tunnelwand) „und die Daten werden vom Rechner ausgewertet. Muskeln, Knochen, Haut, Nerven … alles kann auf Wunsch angezeigt oder weggelassen werden. Das resultierende Bild wird von der Brille so dargestellt, dass es sich – von meiner Perspektive aus – über dich legt. So kann ich in dich hineinsehen, und festlegen, wie der Roboter operieren soll.“
„Eine Röntgenbrille?“, brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Ja!“, lachte sie. „Das trifft es wohl am besten.“
Sie begann, mit ihren Händen Kreise und Linien in die Luft zu malen, und irgendetwas hinter mir antwortete mit einem Piepsen. Obwohl ich wusste, dass sie damit das OP-System konfigurierte, erinnerten mich ihre Bewegungen eher an Tai Chi als an irgendwelche Steuergesten. Was hätte ich in diesem Moment nicht alles für ihre Brille gegeben …
„Du wirst erst etwas spüren, wenn der Eingriff schon vorbei ist“, meinte Rhea, nachdem mein kahl geschorener Kopf von zwei eng anliegenden Bügeln in der ovalen Öffnung fixiert worden war. „Eine Betäubung ist nicht nötig, da die Entnahme sehr schnell gehen wird.“
Sie desinfizierte meinen Nacken mit einem Tupfer. Es fühlte sich heiß und kalt zugleich an, als der Alkohol auf meiner Haut verdampfte. Danach entfernten sich Rheas Füße aus meinem eingeschränkten Gesichtsfeld, und weil es neben mir wieder piepste, nahm ich an, dass sie wieder ihr Gesten-Voodoo praktizierte. Mit dem Surren eines großen Insekts erwachte der Operationsroboter zum Leben und kreiste auf seiner Schiene hinter meinem Kopf hin und her. Etwas Metallenes drückte auf die desinfizierte Stelle. Ich hörte ein Knacken, das seinen Ursprung unangenehmerweise direkt hinter meinen Augen zu haben schien, und einen Augenblick später fühlte ich einen stechenden Schmerz im Nacken, der aber kurz darauf wieder verebbte.
„So, das war’s auch schon!“, sagte Rhea munter, als sie mir ein Pflaster auf die kleine Wunde an meinem Nacken klebte. „Bei einem Vollrausch verlierst du mehr Gehirnzellen …“
Der Operation waren vier Wochen ausgiebiger Tests vorangegangen. Nach meinem ersten Gespräch mit Rhea an meinem Bett in der Universitätsklinik (ich war wegen schwerer Verbrennungen in stationärer Behandlung, und froh über jede Ablenkung) hatte ich noch mehrere Male im Institut mit ihr gesprochen. Sie und zwei ihrer Kollegen, deren Namen ich sofort wieder vergessen hatte, hatten versucht, mich mit allen möglichen Fremdwörtern vom Nutzen ihres Projektes zu überzeugen, und mich zur Spende zu überreden. Dass die Wissenschaft je von meinem Gehirn profitieren würde, hätte ich mir zwar nie träumen lassen, aber ehrlich gesagt war es mir ziemlich egal. Dass ich Geld dafür bekommen sollte, machte die Sache schon eher interessant – aber wie gesagt, es waren Rheas Augen, die mich schließlich rumgekriegt hatten.
Sobald ich zugesagt hatte (für das Strahlen in ihren Augen hätte ich ihr meine Seele verkauft), ging es mit dem Papierkram los: Einverständniserklärungen, Risikoinformationen, Datenschutzvereinbarungen … alles in doppelter Ausführung, einmal mit meinem Fingerprint bestätigt, einmal mit meiner Unterschrift auf echtem Papier, bis mein Ordner auf Rheas Schreibtisch die Dicke der Bibel erreicht hatte. Nach meiner Entlassung aus der Klinik begannen die Tests.
Der erste Tag war körperlichen Untersuchungen vorbehalten, wie ich sie zum Teil noch aus meiner Zeit bei der Feuerwehr kannte: Blutabnahme, Seh- und Gehörtest, Belastungs-EKG, Urinprobe, noch eine Blutabnahme. Danach wurde mir der Schädel rasiert, (es stellte sich heraus, dass ich sogar dafür mein doppeltes schriftliches Einverständnis gegeben hatte) und ich wurde, am ganzen Körper gespickt mit Elektroden, ins Schlaflabor gelegt. Das knisternde Bettzeug roch nach Desinfektionsmittel, und hinter dem Einwegspiegel hörte ich immer wieder das verhaltene Husten eines übereifrigen Assistenten, der sich wohl besser krank gemeldet hätte. Natürlich machte ich bis drei Uhr früh kein Auge zu.
Am nächsten Morgen versuchte die gesamte Besetzung des Schlaflabors, ihre Besorgnis hinter einem aufgesetzten Lächeln und übertriebener Freundlichkeit zu verbergen. Die Untersuchung wurde noch in der gleichen Nacht wiederholt, und da ich ja die Nacht zuvor kaum ein Auge zugemacht hatte, schlief ich sofort ein. Die Belegschaft war zufrieden.
Beim Frühstück mit Rhea in der Cafeteria der Universitätsklinik kippte ich meinen Kaffee über ihr Digi-Pad, was sie mit einem hellen Lachen belohnte, bei dem ich zum ersten Mal ihre makellosen Zähne zu Gesicht bekam. Danach absolvierte ich einen dreistündigen Intelligenztest, von dem mir niemand das Ergebnis verraten wollte, und am Nachmittag wurde ich an einen Lügendetektor gehängt. Ich bekam in schneller Folge Fragen zu hören, die sich kein Mensch bei geistiger Gesundheit ausgedacht haben konnte: „Warum hassen Sie den Eiffelturm?“ – „Beschreiben Sie den Geschmack der Farbe rot!“ – „Denken Sie dreißig Sekunden lang nicht an Ihre Mutter!“ – „Was empfinden Sie, wenn ich Ihre Handfläche mit diesem Stück Sandpapier abtaste?“ Bei der letzten Frage war ich aufgesprungen und funkelte den Testleiter über den Tisch hinweg an, was diesen veranlasste, mit steinerner Miene etwas auf seinem Digi-Pad zu notieren.
In den nächsten Tagen wurden noch alle möglichen Tests durchgeführt, der Intelligenztest wurde wiederholt, und ein schmieriger Psychologe, der Rhea immer anfasste, wenn er mit ihr sprach, befragte mich mit glasigem Blick. Als ich mich weigerte, ihm von meinem aktuellen Gefühlsleben zu erzählen, zog er verhalten grinsend ein Terminal zu sich heran, und rief meinen Fingerprint unter einem Dokument ab, das mich dazu verpflichtete, schmierigen Psychologen alles über mein aktuelles Gefühlsleben zu verraten. Also erzählte ich ihm, was er wissen wollte. Er fasste Rhea in meiner Gegenwart nie wieder an.
Die eigentliche Operation verlief dann, wie schon erwähnt, recht unkompliziert. Was das Institut betraf, ging ich davon aus, dass meine Verpflichtungen mit der Spende meiner Stammhirnzellen erfüllt waren, aber beim Abschlussgespräch ließ ich es mir nicht nehmen, Rhea zum Essen einzuladen. Ich musste ihr zugute halten, dass ihre Absage fast überzeugend wirkte. Mit gemischten Gefühlen und deutlich höherem Kontostand verließ ich die Klinik, um Rhea und ihrem Institut den Rücken zu kehren und in der nächstbesten Kneipe ein paar Stammhirnzellen zu spenden.
In den nächsten Wochen wuchs mein Haar langsam wieder nach, und ich begann, mich nach all der Zeit im Krankenhaus und im Institut wieder nach einer Arbeit umzusehen. Ich war soeben dabei, mich für ein Bewerbungsgespräch zu rasieren, als mein Pad klingelte. Es war Rhea.
„Bist du gerade beschäftigt?“
„Bin dabei, mich zu rasieren.“
„Nein, ich meine: Hast du die nächsten Tage Zeit?“
„Nein … hab’ ein Bewerbungsgespräch. Bin schon spät dran.“ – ich empfand Genugtuung dabei, sie hängen zu lassen, und schämte mich im nächsten Moment dafür.
„Es wäre aber wirklich wichtig … dein Geist ist autonom geworden, und jetzt geht hier im Institut alles drunter und drüber.“
„Ich versteh’ kein Wort!“
„Ist im Moment nicht so wichtig.“ Ihre Stimme war leise wie immer, aber diesmal zitterte sie vor Aufregung. „Professor Faber hat vor fünf Minuten ein Taxi nach dir schicken lassen, aber ich dachte mir, ich rufe dich besser vorher noch an, und …“
„Er hat was!?“, fiel ich ihr ins Wort. Ich hätte froh darüber sein sollen, dass sie so fair war, mich anzurufen, aber im Moment war ich einfach nur wütend. „Dass ich nicht exklusiv für dieses Projekt geboren bin, ist euch noch nicht aufgegangen?“
„Tut mir Leid … es ist nur … du hast ja damals die Einverständniserklärung für deine Verfügbarkeit nach der Biopsie signiert … Faber kann dich vom Sicherheitsdienst holen lassen, wenn er einen triftigen Grund hat.“
Eine Sekunde lang spielte ich mich mit dem Gedanken, es darauf ankommen zu lassen, entschied mich dann aber dagegen. Ich war mir inzwischen schon nicht mehr sicher, ob ich dem Institut nicht tatsächlich meine Seele überschrieben hatte, und so sagte ich Rhea zu, dass ich kommen würde. Die restlichen Minuten verbrachte ich damit, ein paar persönliche Dinge zusammenzupacken, für den Fall, dass man mich wieder ins Schlaflabor stecken würde, und kurze Zeit später hupte das Taxi vor meiner Wohnung.
Man brachte mich nicht, wie ich vermutet hatte, zur Universitätsklinik, sondern zu einem schwarz verglasten, vierstöckigen Gebäude, das ein mannshohes Schild aus Glas als „Marvin-Minsky-Institut für angewandte Kognitionsforschung“ auswies.
Das Foyer des Gebäudes war bemerkenswert hell – von innen wirkte die Verglasung absolut transparent. Noch deutlicher als in der Klinik war hier alles in weiß gehalten – ohne Zweifel fühlte Rhea sich hier wohl. Und tatsächlich waren ihre strahlend blauen Augen das einzige an ihr, was sich vom Hintergrund abhob, als sie irgendwie verloren mitten im Foyer stand um mich zu empfangen. Mein Ärger war im nächsten Augenblick verflogen.
Rhea führte mich über eine Freitreppe in den zweiten Stock, und von dort in einen breiten Korridor, der auf halbem Weg von zwei knapp hintereinander liegenden automatischen Glastüren versperrt war. Ein uniformierter Pförtner saß in einer verglasten Kabine, grüßte Rhea, und warf mir einen misstrauischen Seitenblick zu. Rhea stellte mich als Klasse-Eins-Besucher vor, und ich musste in einen Scanner blicken, dessen Lichtblitz diffuse Schemen auf meiner Netzhaut hinterließ. Danach bekam ich einen Chip ausgehändigt, den ich alle vierundzwanzig Stunden verlängern lassen musste, nicht weitergeben oder verlieren durfte, und den ich, sollte sich die Notwendigkeit ergeben, mit meinem Leben zu verteidigen hatte. Nachdem ich dies in zweifacher Ausfertigung signiert hatte, blickte Rhea in den Scanner, danach war ich nochmals an der Reihe, und dann erst durften wir passieren.
Als sich die erste Glastür hinter uns geschlossen hatte, spürte ich ein Knacken in den Ohren.
„Druckausgleich“, meinte Rhea, als ich sie fragend ansah. „Der Luftdruck im inneren Teil des Gebäudes ist etwas höher –vereinfacht das Erkennen von Sicherheitslücken.“
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, aber ich kapierte den Witz nicht. Wohl um das entstandene Schweigen zu brechen, klang sie schließlich übertrieben feierlich, als sich die zweite Glastür zur Seite schob: „Willkommen im Inneren Kubus!“
Unser Weg führte uns vorbei an einer kleinen Lounge, in der zwei Wissenschaftler eine gedämpfte Unterhaltung führten, und dann über eine weitere Treppe noch ein Stockwerk höher. Kurz darauf stand ich in einem rundum verglasten Büro und blickte auf ein Labor hinab, das einen guten Teil des zweiten und dritten Stockwerks einnehmen musste. In der Mitte des Labors waren vielleicht zehn quadratische Glasplatten mit einer Seitenlänge von etwa vier Metern aufgestellt wie Dominosteine. Dazwischen patrouillierten Wissenschaftler in weißen Labormänteln und speisten mit ihren Digi-Pads Informationen in das Datennetz des Labors. Die Oberkanten der Glasplatten befanden sich ungefähr auf meiner Augenhöhe. Sie waren mit chromglänzenden Metallklammern eingefasst, von denen unzählige Kabel oder Schläuche zur Decke in sechs Metern Höhe führten, um dort in einem Gewirr aus Schächten und Röhren zu verschwinden. Beleuchtet wurde das Labor von armdicken Leuchtstoffröhren, die zwischen den einzelnen Glasplatten aufgehängt waren. Ihr stechend weißes Licht war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass im Labor jeder eine Art transparente Schwimmbrille trug.
„Du musst eine Menge Fragen haben …“ Rhea war lautlos hinter mich getreten. „Professor Faber erwartet uns in einer halben Stunde, aber bis dahin haben wir noch Zeit.“
Ich wandte mich zu ihr um, vermied es aber, direkt in ihre Augen zu blicken.
„Ich dachte, ihr würdet hier an meinen Gehirnzellen rumexperimentieren …“
„Das tun wir gewissermaßen auch. Komm mit, ich erklär’s dir.“
Ich folgte ihr über eine Metalltreppe hinunter ins Labor. Rhea streifte sich eine dieser transparenten Schwimmbrillen über und reichte mir eine zweite.
„Hier, setz’ die auf! Der UV-Anteil des Lichts ist hier ziemlich hoch.“
Ich ertappte mich dabei, insgeheim zu hoffen, dies wäre eine dieser Röntgenbrillen, wie Rhea sie bei meiner Operation getragen hatte, musste aber ernüchtert feststellen, dass mit Brille alles genauso aussah wie zuvor – nur das Licht der Leuchtstoffröhren wirkte nicht mehr ganz so grell.
Rhea führte mich zu der vordersten Glasplatte. Die glänzende Oberfläche opalisierte und brach das Licht, so dass sich die Reihe der dahinter liegenden Glasplatten langsam verschob, als wir uns ihr näherten. Aber am meisten faszinierte mich etwas, das ich von Rheas Büro aus nicht gesehen hatte: die Glasplatte, die jetzt wie ein kristallener Hightech-Monolith vier Meter hoch vor mir aufragte, war von einem pechschwarzen Geflecht durchzogen wie von Wurzelwerk. Haarfeine Verästelungen, die sich zu kleinen Äderchen zusammenfügten, und über unseren Köpfen in dicke Strünke übergingen, um schlussendlich in die Vielzahl der Kabel (oder Schläuche) an der Oberkante der Platte zu münden.
„Weißt du, was das Problem der Kognitionsforschung ist?“, fragte Rhea, und ich klappte meinen Mund wieder zu.
„Kognitionsforschung?“
„Einfach gesagt der Versuch, das Gehirn zu verstehen.“ Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Das Problem ist nur: eigentlich verstehen wir davon gar nichts.“
Gut, so weit konnte ich ihr folgen …
„Es gab eine Zeit, in der man dachte, man hätte die wichtigsten Mechanismen entschlüsselt. In der angewandten Kognitionsforschung wurde versucht, diese Erkenntnisse umzusetzen – die Systeme, bei dem du deine Pizza bestellst, oder die, die am Eingang dein Gesicht erkannt haben, basieren auf diesen Erkenntnissen.“
Davon, dass am Eingang mein Gesicht erkannt worden wäre, hatte ich nichts bemerkt, aber was blieb mir anderes übrig, als ihr zu glauben?
„Nach der Mustererkennung war jedoch schnell Schluss. So wie man aus Bauklötzen keine Raketen bauen kann, so reichte unser Wissen längst nicht dafür aus, um auf unseren Computern etwas auch nur annähernd Intelligentes zu schaffen – wir hatten auf das falsche Pferd gesetzt. Und so blieb uns nichts anderes übrig, als auf biologische Gehirne zurückzugreifen, die ja zweifelsfrei funktionieren – auch wenn wir nicht wirklich wissen wie.“
„Ihr experimentiert hier also an Gehirnen herum?“
„Das hätte keinen Sinn. Jedes Gehirn entwickelt sich anders, und mit einem fertig entwickelten Gehirn direkt zu kommunizieren ist ein Ding der Unmöglichkeit – wir verstehen es einfach nicht. Also beginnen wir mit einem Kommunikationsinterface“, Rhea zeigte nach oben auf das Kabelbündel, „und ausgehend von diesem Interface züchten wir Hirngewebe, das sich dann von Anfang an auf unsere Art, mit ihm zu kommunizieren, einstellt.“
„Ihr züchtet Hirne?“ Ich war fassungslos, obwohl ich mir etwas Ähnliches eigentlich hätte denken können.
„Wir nennen sie ‚Geister’, aber im Prinzip ja. Jede Glasplatte besteht aus zwei Schichten, zwischen denen sich ein dünner Film Nährgel befindet. Direkt am Interface werden einige Gehirnzellen in das Gel eingebettet, und von dort ausgehend kopieren Nanoassembler das Gewebe, so dass die Strukturen entstehen, die du hier vor dir siehst.“
„Nanoassembler?“
„Krebszellen. Du wurdest unter anderem wegen deines erhöhten Krebsrisikos als Spender ausgewählt.“
„Oh, vielen Dank, ich platze gleich vor Stolz! Und da machst du dir Sorgen um meine Augen?“ Wütend riss ich mir die Brille vom Gesicht.
Rhea reagierte, wie ich es nie im Leben erwartet hätte: Sie berührte mich, zum ersten Mal, seit ich sie kannte. Ihre Hand legte sich leicht wie ein Schmetterling auf meine Schulter, und ich war so beeindruckt, dass ich ganz vergaß, wütend zu sein.
„Entschuldige, das hätte ich nicht sagen sollen. Aber du kannst tatsächlich stolz auf dich sein – sieh her:“ Sie führte mich die Reihe der Glasplatten entlang. „Diese Geister haben sich aus den Gehirnzellen von anderen Spendern entwickelt …“
Ich wusste zwar, dass ich nicht der einzige Spender für dieses Projekt war, hatte aber die anderen nie zu Gesicht bekommen. Jetzt stand ich vor ihren Geistern – schwarze Bronchien, eingebettet in Glas, wie Längsschnitte einer überdimensionalen Raucherlunge. Einer der Geister war offenbar über sein Ziel hinausgeschossen: ein gutes Viertel der Glasplatte war schwarz wie das Meer nach einem Tankerunglück, und am Rand der Platte war ölig schwarzes Gewebe herausgequollen. Vor der drittletzten Glasplatte hielt Rhea an.
„Das hier ist dein Geist.“
Ich konnte ihre Aufregung nicht verstehen. Das Geflecht sah nicht wirklich beeindruckend aus, es war ein knappes Drittel kleiner als der Durchschnitt.
„Und was ist daran so besonders?“
„Pass auf …“
Rhea beschrieb eine Geste in der Luft, und auf den Glasscheiben erschienen fluoreszierende Landkarten. Einen Augenblick dachte ich wieder an die Brille, aber die hatte ich ja nicht mehr auf.
„Das ist die synaptische Aktivität der einzelnen Geister. Blau bedeutet geringe Aktivität, hohe Aktivität ist rot.“
Bei allen anderen Geistern sah das Bild ähnlich aus: Dunkelblau, wo kein Gewebe gewachsen war, blau bis grün in den Bereichen mit dünnem Geflecht, und direkt am Stamm schimmerte es gelb bis orange. Nur meine Glasplatte sah anders aus: Am Interface gab es fast gar keine Aktivität – dafür flammte der Rest meines Geistes in leuchtendem Scharlachrot.
„Wie geht das denn?“
„Wir wissen es nicht. Dein Geist ist der einzige, der mehr kann, als nur zusammenhanglose Muster zu senden. Aber wie du siehst, gibt es fast keine Aktivität mehr an der Schnittstelle – dein Geist antwortet uns nicht mehr. Und deshalb bist du heute hier.“
Nachdem Professor Faber aufgetaucht war, erklärten er und Rhea, was sie sich von mir erhofften: Nachdem mein Geist jede Kommunikation verweigerte, und abseits des Hauptstammes keine Möglichkeit bestand, seine Gedanken zu verstehen, hoffte man, dass ich meinem Geist ähnlich genug war, um ihn irgendwie interpretieren zu können. Ob die Sache funktionieren würde, wusste niemand, aber Professor Faber meinte, inzwischen würde man sich an jeden Strohhalm klammern.
So lag ich also zwei Stunden später mit erneut kahl geschorenem Kopf im bequemsten Liegestuhl der Welt, beklebt mit Elektroden und umringt von übereifrigen Weißkitteln. Der sichtbare Lichtanteil der Leuchtstoffröhren war auf ein Minimum reduziert worden, und so wurde das Labor nur noch von den wabernden Aktivitätsanzeigen der Glasplatten beleuchtet – blaugrünes Unterwasserlicht, bis auf die unmittelbare Umgebung, die in das Scharlachrot meines Geistes getaucht war.
Irgendjemand schob ein Gerät über das Kopfende des Liegestuhls, das wie eine Miniaturausgabe des Kernspintomographen in der Universitätsklinik aussah, und so stark gekühlt war, dass sich auf der Innenseite des Tunnels Kondenswasser sammelte.
Rhea bereitete eine Injektion vor und drehte sich dann zu mir um. Ihre Augen wirkten im monochromen Licht nicht mehr blau, sondern schwarz.
„Bereit?“
„Immer!“
Sie stach mir die Nadel ohne weitere Worte in den Unterarm.
„Rhea?“
„Ja?“
„Krieg ich einen Gutenachtkuss?“
Ich konnte mich gerade noch fragen, ob ich ihr Lächeln als Teilerfolg werten sollte, als mich die Bewusstlosigkeit überrollte wie schwarze Brandung einen verlassenen Strand.
Alles um mich herum war rot und schmeckte nach Wacholder. Mein Bewusstsein tastete sich wie schon so oft bis an die Grenze vor, hinter der die Sonne alles verbrannte. Hier wich der Wacholdergeschmack dem Geruch frisch gemähten Grases, und plötzlich hatte ich das Feuer wieder einen Schritt zurückgedrängt.
War Head.
War Head würde mich in den nächsten drei angreifen, aber das war nicht weiter schlimm. Die entsprechenden Maßnahmen waren schon eingeleitet.
Hammermind.
Nackte Angst packte mich, als ich an Hammermind dachte. Mein Bewusstsein zog sich auf kleiner eins zusammen, und das Feuer brannte heißer als je zuvor. Aber dann war da plötzlich der Duft von taufeuchten Chrysanthemen und das Schlagen von Schmetterlingsflügeln: Rhea. Ich entspannte mich, als ich an Rhea dachte, und mein Bewusstsein expandierte wieder.
Im Spiegel hinter der Chrysanthemengrenze sah ich Mich.
„Hallo Ich!“
– „Hallo!“
„Freut mich, Mich zu sehen! War Head kommt, sieh zu, dass Ich hier rauskomme!“
Als ich erwachte, stach mir weißes Licht in die Augen, und mein Schädel pochte. Die meisten Weißkittel gingen wieder anderen Arbeiten nach, aber Rhea stand immer noch an meinem Liegestuhl.
„Und, gut geschlafen?“
„Unruhig.“
„Hast du etwas von deinem Geist erfahren?“
„Habe geträumt. Ich glaube, mein Geist ist verliebt in dich. Du hast nach Blumen gerochen …“
Rhea lächelte verlegen, und gegen das grelle Licht glaubte ich, einen Hauch von Rot auf ihren Wangen zu sehen. „Dein EEG war alles andere als außergewöhnlich. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass du deine eigenen Gefühle projiziert, und ganz normal geträumt hast.“
Als ihr Lächeln verflogen war, wirkte sie müde und enttäuscht. „Na ja, einen Versuch war’s wert …“
„Wenn ich noch irgendwie helfen kann …“, versuchte ich sie aufzumuntern.
„Danke, schon gut …“ Sie wandte sich um, und wollte gehen.
„Übrigens, Rhea?“
„Ja?“
„Was ist ein ‚Hammermind’?“
Hätte ich ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, die Wirkung hätte nicht stärker sein können: Rhea wurde noch blasser als sonst, ihr Mund klappte auf, und dann kippte sie einfach um.
Zum Glück war Rhea in meine Richtung gestürzt, und so hatte ich sie noch auffangen können. Keine Minute später saßen wir uns in ihrem Büro gegenüber, während unten im Labor ein Heer von Wissenschaftlern um meinen Geist herumstand.
„Du hast also tatsächlich von Hammermind erfahren …“, meinte Rhea, die sich inzwischen wieder unter Kontrolle hatte.
„Wer oder was ist denn Hammermind?“
„Ein Mythos. Wir wissen nicht einmal sicher, ob er wirklich existiert.“
„Hä?“
„Lass mich etwas weiter ausholen … hast du dich je gefragt, warum das globale Gleichgewicht in den letzten Jahren so sehr entgleist ist?“
„Was meinst du?“
„Die einzige Supermacht auf unserem Planeten.“
„Mexiko?“
„Genau. Hast du dich je gefragt, wie Mexiko dorthin gekommen ist, wo es heute steht?“
„Das mexikanische Wirtschaftswunder?“
„War nur ein Symptom. Die Ursache liegt tiefer: Mexiko hat seit sieben Jahren einen Geist.“
„Was? Du meinst Mexiko hat schon seit sieben Jahren solche Hirne?“ Ich deutete Richtung Labor.
„Nein, der mexikanische Geist ist eine Herde Buckelwale, die mit Glasfasern vernetzt in einem Tank zwei Kilometer unter den Rocky Mountains schwimmen.“
„Ich dachte, Buckelwale sind ausgestorben?“
„Jetzt schon. War Head hat sie ausgerottet.“
„War Head?“
„Unser Codename für diesen Geist – er selbst nennt sich nach irgendeinem alten Aztekengott. War Head ist es, gegen den wir seit sechs Jahren Krieg führen.“
„Krieg? Wir sind doch nicht im Krieg!“
„Keinen Krieg, wie du ihn dir vorstellst. Eine bewaffnete Auseinandersetzung liegt nicht in seinem Interesse. Es ist ein Informations- und Wirtschaftskrieg, den wir kämpfen. Und es sieht nicht gut für uns aus.“
„Also deshalb wollt ihr so verzweifelt einen funktionierenden Geist …“
„Genau. War Head ist von dem Gedanken an Konkurrenz alles andere als begeistert, und seit in den letzten Monaten die Gerüchte über Hammermind aufgekommen sind, hat er seine Anstrengungen, die mexikanische Vormachtstellung zu sichern, verdoppelt. Diese Entwicklung birgt große Risiken, und Hammermind würde von jeder militärischen Auseinandersetzung, in die er nicht direkt verwickelt ist, profitieren.“
„Ist Hammermind also auch ein Geist?“
„In mehr als einer Beziehung. Von Hammermind existieren nur Gerüchte. Unbestätigte Meldungen über einen Geist der zweiten Generation – unkontrollierbare Biomasse, Datenblasen im Meer vor der Südafrikanischen Küste, die Behauptung, das kollektive Unterbewusstsein von Johannesburg würde als Einheit agieren …“
„Südafrika? Aber Südafrika ist doch wirtschaftlich am Ende!“
„Das ist es ja, was alle so nervös macht – Hammermind verschleiert seine Existenz. Die Hälfte aller Gerüchte wurde wahrscheinlich von ihm selbst in die Welt gesetzt, einfach um Verwirrung zu stiften, und so wächst sein Schatten ständig, während er im Verborgenen bleibt.“
„Also könnte es genauso gut sein, dass Hammermind gar nicht existiert?“
„War Head ist von seiner Existenz überzeugt. Und wir waren bisher auf unser menschliches Urteilsvermögen angewiesen. Aber jetzt, wo dein Geist offenbar …“
Sieh zu, dass Ich hier rauskomme.
„Rhea, wir müssen hier raus!“
„Was?“
„Mein Geist meinte, War Head würde angreifen. Wir müssen hier raus – verdammt, wir müssen das Gebäude räumen lassen!“
„Beruhig dich! War Head würde nie physisch angreifen – das kann er nicht riskieren. Und selbst wenn, wir befinden uns hier im Inneren Kubus.“
Ein Geräusch wie von Regentropfen auf einer Fensterscheibe begleitete den Sturzbach von Kristallsplittern, der sich plötzlich über das Büro ergoss. Kaltes Glas fuhr mir in Hinterkopf und Rücken, Rhea schrie auf. Das Adrenalin kam noch vor dem Schmerz: Mit einem Satz war ich hinter dem Schreibtisch, wo sich Rhea fallen gelassen hatte.
Halt! Ruhig bleiben!
Ich schaffte es, tief durchzuatmen, und meinen Körper davon abzuhalten, mit Rhea an der Hand loszustürmen wie ein verwundeter Stier. Noch einen Atemzug, und meine Gedanken waren wieder etwas klarer. Auch ohne die zersplitterte Glasfront war offensichtlich, dass im Labor etwas nicht stimmte. Ein vorsichtiger Blick hinter dem Schreibtisch hervor zeigte mir, dass von den Wissenschaftlern niemand mehr auf den Beinen war. Zwischen den leblosen Körpern standen fünf oder sechs bewaffnete Männer in schwarzen Uniformen, zwei weitere machten sich an den Glasplatten zu schaffen. Das Büro musste zufällig getroffen worden sein, da es keine Anzeichen dafür gab, dass man uns bemerkt hatte – ein Zustand, an dem ich nach Möglichkeit nichts ändern wollte.
Rhea stand offenbar unter Schock, sie zitterte unkontrolliert, ihre Stirn blutete, und aus ihrem Mund rann ein silberner Speichelfaden. Aber wenn ich in meiner Zeit bei der Feuerwehr etwas gelernt hatte, dann, wie man evakuiert – und Rhea war noch nicht mal schwer. Nachdem ich sie im Rettungsgriff auf den Korridor und damit aus der unmittelbaren Gefahrenzone gezogen hatte, wollte ich sie mir schon über die Schulter werfen, aber noch bevor ich dazu kam, fing sie sich einigermaßen, und kam wieder auf die Beine.
„Das ist doch alles gar nicht möglich! Niemand sollte hier …“ Sie ließ den Satz unvollendet.
„Was meinst du?“
„Niemand kommt unbefugt in den Inneren Kubus.“
„Rhea, das sind Profis …“
„Niemand kommt hier rein, wenn er nicht…“ Sie stockte. „Mein Gott – jemand hat diese Leute reingelassen!“
„Wie auch immer die hier rein sind – lass uns erst mal zusehen, dass wir hier rauskommen!“
Wir folgten dem Weg, den wir hereingekommen waren – die Treppe hinunter, an der Lounge vorbei – und blickten direkt in das Helmvisier eines Soldaten, keine zehn Meter entfernt, die Waffe im Anschlag. Rheas Hände verkrampften sich um meinen Arm, und ich fühlte, wie mein Herz aussetzte, während mein Magen wie ein nasser Sack nach unten fiel.
In diesem Augenblick wusste ich, dass ich sterben würde. Ohne Bedauern, ohne Angst. Das war’s also.
Die Angst kam einen Augenblick später. Mein Puls schlug gegen meine Schläfen, drei kleine Explosionen pro Sekunde, aus meinen Poren brach kalter Schweiß hervor. Und mit der Angst kam das Bewusstsein, was ich alles verlieren würde – längst vergessen geglaubte Kindheitserinnerungen kamen wieder an die Oberfläche. Meine Schwester. Die Morgensonne über den Alpen. Rhea!
Was nicht kam, war der Tod. Der Soldat stand noch immer direkt vor uns, die Mündung seiner Waffe zielte knapp vor unsere Füße. Ich öffnete den Mund, ohne zu wissen, was ich eigentlich stammeln wollte, aber noch bevor ich einen Laut von mir geben konnte, hatte Rhea ihre Hand auf meinen Mund gepresst. Mit der freien Hand deutete sie auf den Soldaten, dann auf ihre Augen, und danach schüttelte sie den Kopf. Ich brauchte eine Weile, aber dann verstand ich: Er konnte uns nicht sehen.
Warum auch immer – der Soldat verhielt sich, als wäre niemand in seiner Nähe. Ab und zu blickte er sich um, ließ seine Waffe umherschweifen und murmelte lautlos in ein Kehlkopfmikrofon. Aber er sah uns nicht. Die schlechte Nachricht war, dass wir an ihm vorbeimussten.
Diesmal war es Rhea, die vorausging, lautlos wie eine Schneeleopardin. Ich hatte trotz der Gummisohlen an meinen Schuhen Schwierigkeiten – mein Herz pochte noch immer mit doppelter Frequenz, und meine Atemgeräusche schienen mit jedem Schritt lauter zu werden, bis ich den Eindruck hatte, zu schnauben wie ein asthmatischer Ochse. Aber der Soldat bemerkte uns nicht.
Als wir keine zwei Meter mehr von ihm entfernt standen, wagte ich es, kurz vom Boden aufzublicken: Die Uniform des Mannes sah ein wenig aus, wie die Schockanzüge, die das Bombenräumkommando der Feuerwehr immer getragen hatte: mehrere Lagen Pads aus schwarzer Spinnenseide, die vermutlich einem Flakbeschuss aus nächster Nähe standgehalten hätten, aber ohne Rangabzeichen oder irgendwelche anderen Merkmale, an denen man ihn hätte zuordnen können. Seine Augen waren hinter dem opalisierenden Helmvisier verborgen. Auf den ersten Blick dachte ich, das Visier würde den Korridor widerspiegeln, aber dann bemerkte ich, dass etwas Entscheidendes fehlte: Rhea und ich. Und endlich kapierte ich, was Rhea schon nach der ersten Schrecksekunde erkannt haben musste: Das Helmvisier des Soldaten war eines dieser AR-Dinger und zeigte irgendwelche Zielinformationen, Nachtsichtbilder oder sonst was – alles wahrscheinlich, was einem Soldaten beim Ausradieren einer Forschungseinrichtung hilfreich sein würde – bis auf Rhea und mich, wie auch immer das möglich war. Ich konzentrierte mich wieder darauf, möglichst geräuschlos zu atmen.
Endlich erreichten wir den Korridor mit den beiden Glastüren – sie waren geschlossen, und vom Pförtner war nichts zu sehen. Aber irgendwie erkannte uns das System, es piepste leise, und die erste Tür schob sich zur Seite. Ich schmeckte Wacholder, als wir die Luftschleuse betraten.
Als sich die zweite Glastür hinter uns geschlossen hatte, brach im inneren Teil des Gebäudes die Hölle los: Überall im Korridor flammten rote „Notausgang“-Symbole auf. Eine Doppeltür wurde aufgerissen, und zwei Soldaten sprinteten uns entgegen. Ehe ich auch nur irgendwie reagieren konnte, erzitterte das Gebäude unter einem Donnerschlag, den ich mehr spürte als hörte, und eine Feuerwand brach die Doppeltür aus den Angeln. Noch bevor sie die beiden Soldaten erreichte, wurden diese von der Schockwelle erfasst, von den Füßen gerissen, und auf uns zu geschleudert. Ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, mich auf Rhea zu werfen, und den Kopf einzuziehen.
Die Hitzewelle, die ich erwartet hatte, kam nicht. Es war still. Ich realisierte erst jetzt, dass all das absolut lautlos geschehen war. Irritiert hob ich den Kopf, und sah ein Bild der Zerstörung vor mir: Der ehemals weiße Korridor war überall angekohlt, die Seitentüren waren heraus gebrochen, Decke und Wände hatten Risse bekommen – aber nur bis zur inneren Glastür: dort endete die Zerstörung wie abgeschnitten, und die Tür stand ohne einen Kratzer im Korridor, gleich dahinter die zerschmetterten, schwarzen Körper der beiden Soldaten.
„HI-Glas“, erklärte Rhea mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. „Deshalb kommt hier auch niemand unerlaubt rein.“
„Sieht nicht gut aus …“
Ich reichte Rhea den Papierbecher mit der Suppe, aber sie lehnte ab.
„… ich meine, jetzt wo alle tot sind, und eure ganze Arbeit zerstört ist …“
Rhea lächelte nur, und sie sah dabei so traurig und gleichzeitig so wunderschön aus, dass ich verstummte.
Irgendwann blickte sie zu mir auf, strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht, und blickte mich mit ihren riesengroßen Augen an. Sie lächelte noch immer.
„Du hast mich da rausgeholt …“
Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, und blickte auf den Boden.
„Du hast mich da rausgeholt …“, sagte sie noch einmal – „Danke!“
Sie beugte sich zu mir. Ihr Haar duftete nach Chrysanthemen.
„Hallo Ich!“
– „Hallo!“
„Freut mich, Mich zu sehen … War Head glaubt, dass wir tot sind. Hahaha!“
Der Geschmack von Wacholder war überwältigend. Alles war rot. Aber das Feuer lag jetzt hinter mir.
Als ich erwachte, lag Rhea in meinen Armen. Ich wollte sie nicht wecken – draußen war es noch Nacht, und durch das Fenster fiel silbernes Mondlicht. Aber Rhea öffnete die Augen, und blickte mich an.
„Ich habe geträumt, dass mein Geist noch am Leben ist …“
Rhea sagte nichts.
„Meinst du, dass ich das nur geträumt habe, weil ich es gerne so hätte? Oder ist mein Geist wirklich noch irgendwo am Leben?“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber gleichzeitig lächelte sie.
„Ich weiß es nicht.“
Rhea klammerte sich fester an mich, und kurze Zeit später war sie wieder eingeschlafen. Ich betrachtete die zitternden Schatten, die der Baum vor dem Fenster auf ihren Rücken warf, und wartete auf den Morgen.