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Ghost Story: War Head
Zu unserem Appartement gehörte eine Dusche, eine Kochnische (Spüle defekt) und ein winziger Vorraum. Dort hing, knapp unter der Decke, eine beigefarbene Klingel, die ich bisher nicht bemerkt hatte.
Als die Klingel dann zwei Monate nach unserem Einzug plötzlich loslegte, erschrak ich so sehr, dass ich mit der Rohrzange abrutschte und meinen Kopf gegen die Spüle rammte. Ich fluchte, hielt mir den Schädel, und kroch unter der Spüle hervor.
Die Klingel schrillte noch immer – und das, wurde mir plötzlich klar, war nicht gut. Hier hätte niemand läuten dürfen. Rhea und ich wohnten hier nicht. Rhea und ich waren tot.
Offiziell als tot zu gelten hatte nicht nur Vorteile. Im Gegenteil, es brachte eine ganze Menge Unannehmlichkeiten mit sich. Die Glocken der Gedenkfeier hatte ich nur aus der Ferne gehört, und von meiner Schwester hatte ich keinen Abschied nehmen können. Dass sie meinen bescheidenen materiellen Besitz geerbt hatte, machte das Leben für Rhea und mich nicht unbedingt einfacher.
Nicht einmal mehr auf die Straße konnte ich mich wagen, ohne Gefahr zu laufen, von der Mustererkennung des städtischen Überwachungssystems bemerkt zu werden. Rhea begegnete diesem Problem, indem sie nur verschleiert nach draußen ging. Ich weigerte mich immer noch standhaft, Frauenkleidung zu tragen, und so war sie es, die alle notwendigen Besorgungen machte.
Immer nur im Appartement zu sitzen zehrte an den Nerven. Die indische Großfamilie, die vor zwei Wochen in die Wohnung gegenüber eingezogen war, war ständig laut, mein Digi-Pad wurde ohne Netzwerkzugang bald langweilig, und die Anzahl an Liegestützen, die ich pro Tag schaffte, war auch beschränkt. So kam es, dass ich die meiste Zeit auf einem archaischen Röhren-TV zwischen den noch verbliebenen terrestrischen Fernsehsendern hin- und her schaltete und mich langweilte.
Über den Aerosolbombenanschlag auf das Marvin Minsky Forschungsinstitut für Angewandte Kognitionsforschung schwieg das Netzwerk, aber die Aktienkurse einiger Banken hatten kleine Sprünge nach oben oder unten gemacht, was laut Rhea einer Presseerklärung gleichkam.
Dass wir noch am Leben waren, lag daran, dass War Head annahm, er hätte uns getötet. Dass wir den Anschlag überhaupt überlebt hatten, hatten wir meinem Geist zu verdanken.
Ich hatte nach unserer Flucht noch ein paar Mal von ihm geträumt – wirre Farben, begleitet von Wacholderduft und dem Gefühl, die Hälfte schon wieder vergessen zu haben – aber die Träume waren seltener geworden, und hatten irgendwann ganz aufgehört. Rhea meinte, das wäre eine normale Reaktion, wenn man jemanden verlor, der einem nahe stand.
So saß ich jetzt also auf dem Boden vor der Spüle, hielt mir das kalte Metall der Rohrzange an die Beule auf meine Stirn und überlegte, wie ich auf das Klingeln reagieren sollte.
Es war möglich, dass Rhea ihren Schlüssel vergessen hatte, und so entschied ich mich dafür, nachzusehen. Ich legte die Hände um den Türspion, damit mich das Umgebungslicht nicht verraten würde, und schob das kleine Metallplättchen zur Seite.
Auf dem Flur stand ein Fahrradkurier, den Kopf durch die Linse grotesk vergrößert, und drückte den Klingelknopf. Die Klingel, jetzt direkt über mir, schrillte so penetrant, dass sich pulsierende Kopfschmerzen zu meiner Beule gesellten. Ich beschloss, den Kurier zu ignorieren, legte mich auf die Couch und hielt mir die Ohren zu so gut es ging.
Eine oder zwei Minuten später ging das Schrillen in ein hochfrequentes Stakkato aus Lärm und Pausen über, und der Kurier polterte mit Faust gegen die Tür.
„Ich gehe nicht, bevor ich nicht geliefert habe!“
Klopfen.
„Ich weiß, dass Sie mich hören!“
Was blieb mir anderes übrig, als aufzumachen?
Eine halbe Stunde später kam Rhea nach Hause, in jeder Hand eine Tüte mit Lebensmitteln. Ich nahm ihr die Einkäufe ab, während sie ihren Schleier auszog.
Wie immer hatte sie hauptsächlich billige Grundnahrungsmittel eingekauft, und dazu einige Fertiggerichte für den Fall, dass ich wieder einmal kochen würde. Während ich ihr dabei half, alles zu verräumen, erzählte ich ihr von dem unerwarteten Besuch. Mir war unwohl bei dem Gedanken, dass unsere Adresse bekannt war, aber mit Rheas Reaktion hatte ich nicht gerechnet.
„Ein Brief? An uns?“ Die Mehltüte glitt ihr aus der Hand und platzte auf dem Boden, so dass Rhea in einem Strahlenkrater aus weißem Pulver stand. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. „Bist du sicher, dass es kein Versehen war?“
„Er ist an uns persönlich adressiert.“
„Hast du ihn geöffnet?“
„Nein. Wir hatten doch abgesprochen, vorsichtig zu sein.“
„Vorsichtig wäre gewesen, den Boten zu ignorieren, und bei der nächsten Gelegenheit zu verschwinden …“ Ihre sonst so leise Stimme kippte beinahe.
„Er wusste, dass ich hier bin.“
„Trotzdem. Wenn der Brief eine Plage enthält, ist es jetzt zu spät.“
„Eine Plage?“
„Hyperallergene Nanostrukturen zum Beispiel.“
„Nanostrukturen? Tut mir Leid …“
Rhea seufzte und setzte sich kraftlos auf den Boden, direkt in das verschüttete Mehl. Ich kam mir noch dümmer vor als sonst.
„Sporen, auf die wir allergisch reagieren würden: Hautjucken, Atemnot und Ödeme. Wenn wir nicht an unseren angeschwollenen Hälsen ersticken, sterben wir durch Kreislaufversagen. Oder durch …“
„Schon gut, ich hab’ s kapiert.“ Mein Hals fühlte sich plötzlich sehr trocken an. „Und was können wir gegen diese Nanoteile unternehmen?“
„Nichts. Wie gesagt, wenn der Brief eine Plage enthält, ist es jetzt zu spät. Die Sporen dringen problemlos durch Papier und verteilen sich beim geringsten Luftzug. Normale Antihistaminika sind wirkungslos, ein Medikament zu spezialisieren dauert viel zu lange. Wir sind tot.“
„Aber der Kurier war doch gesund …“
„Wenn die Plage auf uns abgestimmt wurde, sind wir die einzigen, die daran sterben.“
Ich musste mir eingestehen, dass ich die Sache mit dem Brief massiv unterschätzt hatte. Ich setzte mich neben Rhea ins Mehl und hielt ihre zitternde Hand.
„Lass uns wenigstens von hier verschwinden. Vielleicht haben wir Glück, und es ist wirklich nur ein ganz normaler Brief. Vielleicht schaffen wir es in die Schweiz … “
Rhea zuckte mit den Schultern.
Ich bemühte mich, zuversichtlich zu klingen: „Wir sollten es wenigsten versuchen …“
Es dauerte nicht lange, unsere wenigen verbliebenen Sachen in meinen Rucksack zu packen. Auch wenn Rhea meinte, dass es nichts bringen würde, wusch ich mir die Hände und stülpte einen Kochtopf über den Brief – zumindest fühlte ich mich danach etwas besser.
Es stellte sich heraus, dass mir keiner von Rheas Umhängen bis über die Knie reichte, und so musste ich mit einem Betttuch improvisieren. Ich kam mir vor wie ein Clown.
„Nie im Leben fällt die Mustererkennung darauf rein!“
„Es reicht, wenn man dein Gesicht nicht sieht. Der Rest ist der Mustererkennung egal.“
„Ah, gottverd …“
Rhea hatte mich mit der Sicherheitsnadel, mit der sie das Kopftuch fixieren wollte, ins Ohr gestochen. Jetzt blickte sie mich mit ihren wasserblauen Augen an wie ein verschrecktes Tier – und trotz der Sache mit der Plage wirkte auf einmal alles so absurd, dass ich lachen musste. Rhea machte immer noch riesengroße Augen – und plötzlich umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen. Irgendwie sah unsere Situation damit nicht mehr ganz hoffnungslos aus.
Ich kontrollierte noch einmal, ob ich das Geld eingesteckt hatte, und sperrte die Tür hinter uns zu. Das Appartement zumindest würde ich nicht vermissen.
Als ich mich umdrehte, stand der Inder von gegenüber vor uns und grinste. Auf seinem Arm trug er seinen jüngsten Sohn, der geistesabwesend auf einer Gummimaus kaute und gleichzeitig versuchte, zu singen.
„Ah, Fräulein Rhea und ihr Freund fahren auf Urlaub. Gut, gut, …“ Seine schneeweißen Zähne strahlten im dämmrigen Flur.
„Äh, ja … Tut mir Leid, Herr Parihar, wir haben es etwas eilig“, entgegnete ich hastig.
„Natürlich.“ Herr Parihar schaukelte seinen Sohn, der vor Freude quietschte. „Aber Sie haben Ihre Tickets vergessen …“
„Schon gut, wir haben alles mit.“
„Ich fürchte nicht.“ Er grinste noch immer, aber in seine Stimme hatte sich irgend etwas geschlichen, das nicht zu seinem Gesichtsausdruck passte. „Sie haben Ihre Flugtickets vergessen. Auf dem Tisch, unter dem Kochtopf.“
„Wie bitte?“, mir fiel die Kinnlade herunter.
„Wenn Sie nicht in der nächsten Stunde auf dem Flughafen sind, verpassen Sie Ihren Flug, und das wäre schade. Sie beide würden an Ihrer Plage sterben.“
„Woher wissen Sie ...“, stammelte Rhea.
„Sie hatten übrigens unrecht, Fräulein Rhea. Nicht Atmung oder Kreislauf würden versagen, sondern ihre Haut. Verbrennungen überall, hässliche Sache – und nicht transplantierbar. Nicht wahr, Kesar? Nicht wahr?“ Der kleine Kesar quietschte.
„Also holen Sie schon die Tickets …“, Herr Parihar schaffte es, noch breiter zu grinsen, als er mich ansah. „ … und ziehen Sie dieses Betttuch aus, es steht Ihnen nicht.“ Er wandte sich um, ging in seine Wohnung und schloss die Tür.
Als ich bemerkte, dass ich schon seit zehn Sekunden mit offenem Mund dastand, riss ich mir endlich das Kopftuch herunter und polterte an Parihars Wohnungstür.
„Parihar, machen Sie auf!“
Parihar rührte sich nicht. Ich geriet so in Rage, dass ich nicht auf Rhea achtete, die ergebnislos versuchte, mich zurückzuhalten, und rannte mit aller Kraft gegen die Tür. Das dünne Holz splitterte an den Angeln, ich fiel zusammen mit der Tür in einen kleinen Vorraum – und kapierte gar nichts mehr. Die Wohnung von Herrn Parihar und seiner lautstarken Großfamilie war leer. Absolut. Ein unmöblierter Raum nach dem anderen, von Parihar und dem kleinen Kesar keine Spur.
Ich stand hinter Rhea in der Schlange zur Identitäts- und Gepäckkontrolle am Flughafen. In meinen juckenden Fingern hielt ich zwei Tickets erster Klasse nach Seattle/Mexiko – Karten aus handgeschöpftem Papier mit je einem winzigen, goldglänzenden Chip darin eingebettet, ausgestellt auf unsere Namen, Abflug in einer halben Stunde.
Das war es also – War Head hatte uns gefunden. Was Rhea beschäftigte, und mir trotz allem noch etwas Hoffnung machte, war die Tatsache, dass er uns nicht sofort getötet hatte. Mehr als das, er hatte uns zu sich eingeladen – ein Angebot, das wir unmöglich ausschlagen konnten, wie uns der grauhaarige Chauffeur auf dem Weg zum Flughafen versichert hatte, während ich mich am Unterarm kratzte und Rhea verbissen versuchte, die roten Stellen in ihrem Gesicht zu ignorieren.
„Wie soll das hier weitergehen?“, fragte ich Rhea leise, während ein junges Paar drei Plätze vor uns durch das umgekehrte Verbundstoff-„U“ des Sensorclusters schritt, ihrer Kleidung nach zu urteilen in den Sommerurlaub. „Spätestens da vorne kriegen die doch mit, dass wir offiziell tot sind“.
„Ich weiß es nicht“, gestand Rhea. „Selbst wenn uns die Skelettresonanz nicht identifiziert, weil War Head unsere Daten in der Meldestelle geändert hat, so wird der Sensorcluster merken, dass wir eine Plage mit uns herumtragen, und dann ist der Flug für uns gelaufen.“
„Skelettresonanz? Ist das nicht schmerzhaft?“
„Nicht die analytische. Im Institut hast du ja auch nichts davon gespürt.“
„Ihr hattet Skelettresonanz im Institut?“
„In den Schleusen zum inneren Kubus, zusammen mit dem Netzhautscan. Zur Identitätsverifikation, genau wie hier – also keine Sorge.“
Ich hoffte, sie lächeln zu sehen, aber Rhea blieb ernst. Ihr Gesicht sah inzwischen bemitleidenswert aus, und ich bewunderte ihre Disziplin – sie hatte sich noch kein einziges Mal gekratzt, während meine Unterarme inzwischen feuerrot waren.
Als wir an der Reihe waren, trat ich vor Rhea, um als erster durch die Kontrolle zu gehen. Im Sensorcluster waren die Umgebungsgeräusche seltsam gedämpft, obwohl er nach vorne und hinten offen war. Durch die transparente Wand hindurch konnte ich einen Beamten der Flughafenexekutive sehen, der gelangweilt auf seinen Bildschirm starrte. Gleichzeitig bildete ich mir ein, zusätzlich zum Juckreiz überall am Körper ein leichtes Kitzeln zu spüren, was ich auf die Skelettresonanz zurückführte. Danach kam ein kurzer Luftzug von oben, und im Gitter unter meinen Füßen zischte etwas. Fast gleichzeitig flammte die Konsole des Beamten rot auf. Ich erstarrte.
„Wenn Sie bitte weitergehen, und die Dame hinter Ihnen in die Kontrolle lassen würden …“ meldete sich ein zweiter Beamter auf der anderen Seite des Sensorclusters.
„Ist alles in Ordnung?“, war alles, was ich herausbrachte.
„Aber natürlich! Ihr Ticket wurde automatisch zusammen mit ihrer Identität überprüft.“ Der Beamte lächelte höflich. „Die Sensorcluster sind für viele Fluggäste neu, keine Sorge …“
Ich blickte auf den Beamten hinter der Konsole, der es inzwischen geschafft hatte, den Alarm abzuschalten, und dann zu Rhea. Sie bedeutete mir, weiter zu gehen.
Als Rhea durch die Kontrolle schritt, begann das selbe Spiel von vorne: Biometrie, Infektkontrolle, stiller Alarm, keine Reaktion von den Beamten. Rhea setzte sich in Bewegung und fasste mich an der Hand.
„Einen angenehmen Flug!“, rief mir der Beamte lächelnd nach.
Unsere Maschine war eine Unidad der LAM und hatte mit dem Flugzeug, in dem ich vor sechs Jahren auf Urlaub geflogen war, nicht einmal mehr die Flügel gemeinsam: Wie die meisten Interkontinentalflugzeuge sah es aus, wie ein neunzig Meter langer, plattgewalzter Hai – nur dass die Heckflosse dort aufragte, wo bei einem Hai der Kopf gewesen wäre. Erst als die Unidad langsam aus ihrer Parkbucht rollte, begannen sich ihre Tragflächen auszufalten, inklusive der kleinen Kringel an den Spitzen, die den Treibstoffverbrauch so dramatisch senkten (wie sich der Pilot nicht nehmen ließ, uns in drei Sprachen zu erklären).
Als wir am Anfang der Startbahn angekommen waren, und eine Flugbegleiterin über Lautsprecher ihre Bitte-setzen-Warnung aufsagte, rechnete ich damit, dass bald die Triebwerke anlaufen würden. Zehn Sekunden später wurde ich in den Sitz gepresst, ohne auch nur ein Summen zu hören. Unter normalen Umständen wäre ich überrascht gewesen, aber im Moment waren meine Arme das einzige, das mich beschäftigte. Der Juckreiz hatte sich über Schultern und Brust ausgebreitet, und meine Unterarme fühlten sich inzwischen richtig unangenehm an. Sie waren geschwollen wie Partyballons, brannten wie Feuer und bluteten aus unzähligen aufgekratzten Quaddeln. Beinahe wünschte ich mir die Verbrennungen zurück, wegen denen ich vor ein paar Monaten erst auf der Intensivstation gelegen hatte. Damals hatte ich Rhea kennengelernt, mich ihretwegen für das Experiment gemeldet, aus dem mein kurzlebiger Geist hervorgegangen war, und war so in meine jetzige Situation geschlittert. Ich wollte weiter kratzen, aber Rhea legte mir ihre Hand auf die Schulter und blickte mich an.
„Nicht“, krächzte sie. Ihr Gesicht sah bemitleidenswert aus. Die dünne, sonst so blasse Haut war feuerrot, ihre langen, hellen Haare hingen auf beiden Seiten aus dem Kopftuch, ihre sonst so klaren Augen waren zu dickflüssig tränenden Schlitzen zugequollen. Sie tat mir Leid, und gleichzeitig bewunderte ich, wie sie es schaffte, sich immer noch nicht zu kratzen.
„Wie soll das weitergehen?“, fragte ich. „Meinst du, wir kommen lebend an?“
Noch ehe Rhea antworten konnte, ging die Schiebetür unseres Abteils auf, und eine höchstens zwanzigjährige Flugbegleiterin in knapper LAM-Uniform lächelte uns mit perfekten Zähnen und leicht asiatischen Augen an. Dass wir aussahen wie der fleischgewordene Alptraum einer Kosmetikverkäuferin schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Guten Tag, und willkommen im LAM-Flug sechs-sechs-drei nach Seattle.“ Sie strahlte und legte ihren Kopf schief, so energisch, dass ihre Zöpfe wackelten. Danach wandte sie sich direkt an mich: „Ich sehe, dass sich Ihr Sitz nicht an ihren Körper angepasst hat, Señor. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen bei der optimalen Einstellung behilflich sein.“
Die Flugbegleiterin beugte sich vor, aber noch bevor sie meinen Sitz an meinen Körper anpassen konnte, begann Rhea zu sprechen, leise wie immer, aber mit einer Kälte, die ich ihr nie zugetraut hätte.
„Warum will er uns lebend?“
Den Bruchteil einer Sekunde entglitt der Gesichtsausdruck der Stewardess zu einer hässlichen Fratze, aber sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle.
„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen, Señorita“, lächelte sie. „Ich bin nur hier, um Ihnen Ihre Getränke zu bringen. Sie sollten wirklich etwas trinken. Dehydration ist auf Langstreckenflügen immer noch ein ernstzunehmendes Problem.“
Mit diesen Worten stellte sie eine Flasche stillen Mineralwassers und zwei transparente Plastikbecher auf den Klapptisch vor unseren Sitzen, zwinkerte, und entfernte sich hüftwackelnd.
Ich blickte ihr nach und kannte mich gar nicht mehr aus.
„Was war das denn?“
Rhea schenkte inzwischen Mineralwasser in die beiden Plastikbecher. „Fürs Erste sollten wir das trinken. Wenn mich nicht alles täuscht, müssten unsere Symptome davon besser werden. Andernfalls ist es bald vorbei.“
Tatsächlich hörte das Brennen auf, nachdem ich getrunken hatte. In den folgenden Minuten ging die Schwellung an meinen Unterarmen zurück, bis nur noch die Kratzer, die ich mir selbst zugefügt hatte, übrig geblieben waren. Dass Rhea unter der Plage gelitten hatte, konnte man lediglich an ihren blutunterlaufenen Augen erahnen.
„War Head spielt mit uns. Vielleicht schon seit unserer Flucht aus dem Institut“, sagte Rhea. „Dieses ganze Theater mit Parihar, dem Chauffeur, die Sache auf dem Flughafen, und jetzt das hier … warum tötet er uns nicht?“
„Vielleicht will er du-weißt-schon-was …“ Ich deutete dabei auf meinen Kopf, und dachte an meine Gehirnzellen, die einzigen, aus denen sich damals ein funktionierender Geist entwickelt hatte.
„War Head hat sich doch längst alle Daten aus dem Institut geholt. Einige deiner Gewebeproben wurden außerhalb der zerstörten Labors gelagert, also wird er auch die haben. Nein, wegen deinen Gehirnzellen würde er dich viel lieber tot sehen. Du weißt ja, wie er auf Konkurrenz reagiert.“
Mit Schaudern dachte ich an das weltweite Buckelwalsterben vor einigen Jahren. Und an seine besessene Suche nach Hammermind, dem Geist, von dem niemand wusste, ob er tatsächlich existierte.
„Was will er dann von uns?“ Ich war ratlos.
„Ich weiß es nicht“, sagte Rhea. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Der letzte Rest des Mineralwassers kräuselte sich leicht, als die Unidad die Schallmauer durchbrach. Die Tragflächen hatten sich wieder eingefaltet, und als sich das Flugzeug in den Jetstream legte, tauchte neben uns der Atlantik auf, übersät mit Cumuluswolken bis hin zum deutlich gewölbten Horizont. Die Sonne stach aus dem blauschwarzen Himmel, und die Sichtscheibe reagierte, indem sie leicht nachdunkelte.
Das Licht in dieser Höhe wirkte irgendwie unwirklich und zeichnete harte Schatten auf Rheas weiches Profil. Ihre Haare erstrahlten im Gegenlicht wie eine Aura aus weißem Feuer. Sie schlief.
Wie konnte sie jetzt schlafen? Ich brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken, und so wandte mich dem Display in der Wand vor mir zu. Zweihundert Programme, und kein einziges taugte etwas. Schließlich schaltete ich auf das Bild einer Außenkamera um und sah zu, wie der Atlantik zu den Klängen von Mozart unter uns nach Osten zog.
Als ich aufwachte, waren wir gelandet. Vom Flughafen sah ich nicht viel, und meinen Rucksack sah ich gar nicht mehr, da uns die Flugbegleiterin, gleich nachdem sie uns überschwänglich begrüßt hatte, direkt auf das Rollfeld führte. Dort hielt sie auf einen Helikopter zu, der in einiger Entfernung geparkt war. Als wir ihr nicht gleich folgten, erklärte sie uns mit zuckersüßem Lächeln, dass das spezifische Antihistamin aus dem Mineralwassers nicht ewig wirken würde.
Rhea war noch schweigsamer als sonst, als wir über den sandgestrahlten Beton auf den Helikopter zugingen. Sie hatte das Kopftuch abgenommen, und ihre weißen Haare flatterten im böigen Westwind. Ich bemerkte, dass der Helikopter nicht geparkt war, sondern lautlos einen halben Meter über dem Boden schwebte. Behende stieg die Flugbegleiterin (Maja, wie sie sich uns vorhin vorgestellt hatte) ein, und winkte uns, nachzukommen.
Der Pilot ignorierte uns komplett, und ich war ihm dankbar dafür. Gleich nachdem ich Rhea hochgeholfen hatte, ließ er den Helikopter so schnell steigen, dass mir das Blut aus dem Kopf schoss.
Wir folgten dem grauen Band einer achtspurigen Autobahn, die ungeachtet aller geographischen Widrigkeiten absolut geradlinig in die Rocky Mountains führte. Kein einziges Fahrzeug befand sich darauf, und so sank der Helikopter herab und schoss in weniger als zwei Metern Höhe über den Beton.
Auf der Gegenfahrbahn tauchte ein Konvoi schwarzer Schemen aus dem Hochnebel, groß wie Panzer und sofort wieder außer Sichtweite. Dann wieder Kilometer um Kilometer unberührter Beton.
Die Bergrücken auf beiden Seiten rückten immer näher an die Straße heran, ihre Gipfel verborgen in den tief hängenden Wolken. Irgendwann trafen sie aufeinander und schlossen so das Tal vor uns ab. Und endlich sah ich, wohin diese gottverlassene Autobahn führte: Vor uns ragte eine gigantische schwarze Stufenpyramide auf, fensterlos, und zur Hälfte in den Berghang dahinter integriert.
Der Helikopter verlangsamte seine Geschwindigkeit und ging dann in einen langsamen Steigflug über. Stockwerk um Stockwerk zog an uns vorbei, monolithische Blöcke aus mattschwarzem Beton. Ich dachte an die Pyramiden von Gizeh, und wie armselig sie neben diesem Moloch wirken mussten.
An der abgeflachten Spitze der Pyramide befand sich ein Flugfeld, mehrere Meter tief in den Beton eingelassen, so dass die drei darauf geparkten Helikopter von unten nicht zu sehen waren. Noch bevor wir ganz gelandet waren, öffnete Maja die Schiebetür und sprang auf den feuchten Beton.
„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, lächelte sie mit übertriebenem Augenaufschlag. Rhea blickte mich an, als erwarte sie etwas von mir, aber alles was ich fertig brachte, war, Maja nach draußen zu folgen. Rhea kam wortlos nach.
Wir gingen durch den aufkommenden Nieselregen auf ein Viereck im Boden zu, das sich als Aufzug entpuppte, groß genug, um damit einen Lastwagen zu transportieren.
Fünfzig Meter tiefer betraten wir einen leeren Hangar, an dessen Ende sich die zwei HI-Glaswände einer Sicherheitsschleuse befanden, wie ich sie schon aus dem Institut kannte: Netzhautscan (das System kannte meinen Namen), Skelettresonanz (wenn ich mir das Kitzeln nicht bloß einbildete), höherer Luftdruck als im Hangar (dem Knacken in meinen Ohren nach). Die Schleuse meldete unsere Plage mit mehreren Biogefahr-Warnungen auf der inneren Glasscheibe, und als hätte er darauf gewartet, begann mein Brustkorb zu jucken. Maja grinste, als ich mich kratzte.
„Keine Angst, Sie haben noch ein paar Stunden, bevor es wieder losgeht …“
Danach sprach sie ein paar Worte in den Raum, in einer Sprache, die ich noch nie zuvor gehört hatte.
Die Antwort kam sofort und klang wie die Violine eines wahnsinnigen Geigenbauers, übersteuert bis zur Schmerzgrenze, und mit einem Infraschallanteil, der meine Lungen vibrieren ließ. Die Biogefahr-Symbole erloschen, und die innere Glastür glitt lautlos zur Seite.
Als wir nach innen traten, veränderte sich Maja irgendwie. Ihre Haltung wurde aufrechter, und ihre gespielte Unschuld wich einer Ernsthaftigkeit, die nicht zu einer jungen Flugbegleiterin passte.
„Sie beide sind im Begriff, das Sanktum dieser Pyramide zu betreten. Dies ist eine Ehre, die nur wenigen Menschen zuteil wird, eine Ehre, der Sie mit entsprechendem Respekt begegnen werden.“
Maja führte uns durch mehrere Druckschotten und vorbei an zwei bemannten Wachposten in einen Aufzug, ebenso groß wie der erste, aber fast klinisch rein: Chromstahl und spiegelblanker Obsidian überall, und ein chemischer Geruch, den ich nicht einordnen konnte.
Die Türen schlossen sich hinter uns, und wir schwiegen uns gegenseitig an, während der Aufzug langsam tiefer sank.
Die Fahrt dauerte nun schon mehrere Minuten. Inzwischen mussten wir uns weit unter der Pyramide befinden, und immer noch ging es abwärts. Das Schweigen war inzwischen beinahe physisch unangenehm, und immer noch war kein Ende abzusehen.
„Darf ich vorstellen“, sagte Maja plötzlich, und auf einmal waren die Wände um uns herum aus Glas, und der Aufzug hing über einem gigantischen Becken schwarzen Wassers. „Huitzilin Yec, blauer Kolibri der rechten Seite, Krieger des Nordens, auferstanden von den Toten.“
„War Head“, flüsterte Rhea.
Der Aufzug fuhr in einer von vier gläsernen Säulen, die auf eine künstliche Insel im schwarzen Wasser herabreichten. Von dort aus führte ein breiter Steg zu einem Komplex von Labormodulen am Rand des Beckens.
Als wir den Steg entlang gingen, sah ich ins Wasser, und da erst erkannte ich ihn: Knapp unter der Oberfläche hing ein massiger, dunkler Körper, mindestens zehn Meter lang. Daneben noch einer, und dahinter ließen sich noch mehr erahnen. Etwas weiter vorne schwebte die nächste Reihe riesiger Leiber. Rhea hatte recht behalten – es gab noch Buckelwale. Und wenn sich die Reihen der Tiere so weit fortsetzten, wie es die Größe des Beckens erahnen ließ, mussten es mindestens hundert Tiere sein. Dachte ich zumindest – bis unter dem Steg mehrere Flutlichter angingen: Die Reihen der Wale setzten sich nach unten fort, so weit das Licht ins dunkle Wasser drang.
Die einzelnen Tiere wurden von einem Gerüst aus sechseckigen Metallelementen im Wasser gehalten wie gigantische Bienenlarven in ihren Waben. Dort, wo die Wale aus den alten Filmen Wasserfontänen in die Luft bliesen, hatten diese Exemplare transparente Schläuche angebracht, die alle dem Gerüst entlang unter den Steg führten. Zwischen den Streben verliefen dicke Bündel von Glasfaserkabeln, die die einzelnen Tiere mit einem blauweiß leuchtenden Netz verbanden.
Das also war der Geist, der nach seinem Siegeszug über das amerikanische Festland den Rest der Welt unter seine Kontrolle bringen wollte. Und als wäre das alles nicht schon genug für einen Tag gewesen, wartete am Ende des Stegs Professor Faber auf uns.
„Hallo, meine Lieben“, begrüßte er uns, als ob es die letzten zwei Monate nicht gegeben hätte. Ich dachte daran, wie er damals noch zusammen mit Rhea gegen War Head gearbeitet hatte und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Noch bevor er auf dem Boden gelandet war, hatten mir zwei Sicherheitskräfte schon richtig unangenehm den Arm hinter den Rücken verdreht. Die beiden schienen nur noch auf ein Zeichen von Faber zu warten, um mir den Arm ganz zu brechen – doch es kam keines.
Schwer atmend richtete er sich auf, und bedeutete den beiden, dass sie mich loslassen sollten. Ich hatte ihn richtig schön am Kinn erwischt, und so nuschelte er ein wenig, als er seine Sprache wiedergefunden hatte.
„Ich verstehe natürlich, dass Sie irritiert sind …“
„Verräter!“, stieß Rhea zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Sollten Sie nicht tot sein?“, fuhr ich dazwischen.
„Sollten Sie das nicht auch?“, äffte Faber, während er sich das Kinn rieb. Dann lenkte er aber doch ein: „Um ehrlich zu sein, nein. Huitzilin Yec – War Head – wollte unser Projekt damals verstehen, bevor er es stoppte – dafür war ich offenbar unentbehrlich. Und Sie beide sind das jetzt auch.“
„Wieso das denn? Er hatte doch nach dem Anschlag alles, was er wollte …“
„Das ist es ja – er bekam eben nicht alles, was er benötigt hätte. Ihr Geist, und alle Ihre Zellkulturen wurden bei der Explosion zerstört. Dass man mich schon aus dem Innere Kubus gebracht hatte, bevor die Aerosolbombe hochging, war reiner Zufall …“
„Und warum um alles in der Welt jagt War Head dann alles hoch, wenn er es danach noch braucht?“
„Sie verstehen immer noch nicht“, sagte Faber. „Huitzilin Yec ist nicht für die Explosion im Institut verantwortlich.“
Er spuckte Blut in ein Taschentuch und fuhr fort: „Bis vor zwei Wochen sah es so aus, als sei das Projekt verloren. Huitzilin Yec hatte mich, er hatte alle Daten, aber alles, was auch nur im Entferntesten mit ihren einzigartigen Zellen zu tun hatte, war verschwunden. Selbst die Gewebeproben aus der Universitätsklinik blieben unauffindbar. Kein Wunder also, dass Huitzilin Yec versuchte, Schadensbegrenzung zu betreiben. Er brachte die russischen Banken unter seine Kontrolle, damit Hammermind seinen Einfluss auf Europa nicht noch weiter ausdehnen konnte.“
„War Head arbeitet gegen Hammermind, ohne zu wissen, ob es ihn wirklich gibt?“
Faber ging nicht auf meine Frage ein: „Vor zwei Wochen kam dann die Meldung, dass die Mustererkennung eines Supermarktes glaubte, die Einkaufscharakteristika von Ihnen, Rhea, erkannt zu haben. In Kombination mit den Daten der Gesichtsfragmenterkennung und der Tatsache, dass eine frühere Kommilitonin von Ihnen ihre Ausgaben bei gleicher Kontobelastung um dreißig Prozent zurückgeschraubt hatte, schien Ihr Überleben sehr wahrscheinlich – wie auch immer Sie der Explosion und dem Kommandotrupp von Huitzilin Yec entkommen sein mögen …
Dass Sie für zwei Personen einkauften, ließ uns hoffen – und tatsächlich war unser Gehirnspender auch noch am Leben“
Ich funkelte ihn an, aber Faber ließ sich nicht beirren.
„Dass man eine Plage auf Sie beide angesetzt hat, bedauere ich übrigens zutiefst. Herr Parihar ist in diesen Dingen sehr erfinderisch, und Huitzilin Yec war mit der Sache einverstanden. Sie wurden zwei volle Wochen lang überwacht, bis genügend Daten zu Ihren Immunsystemen vorlagen.“
Maja, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, grinste unverfroren, als das Gespräch auf die Plage kam. Die Verachtung, die sie Rhea gegenüber an den Tag legte, wurde von dieser mit einem eisigen Blick quittiert.
„Wie dem auch sei“, meldete sich Professor Faber wieder zu Wort, „jetzt sind Sie beide ja hier, und das Projekt kann fortgesetzt werden.“
„Sie werden doch nicht ernsthaft annehmen, dass ich für Mexico arbeiten werde“, sagte Rhea ruhig.
„Auch nicht weiter schlimm, Señorita“, grinste Maja und strich mir mit ihrem Fingernagel über die Brust. Es reicht, wenn Sie, Señor, uns einige Ihrer Gehirnzellen zur Verfügung stellen …”
„Sie werden doch nicht ernsthaft annehmen“, wiederholte ich Rhea, „dass ich diesem Fischschwarm auch nur eine Gehirnzelle abgebe“.
Aber noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, wurde mir klar, dass sie das sehr wohl annehmen konnte.
Es war also wieder einmal so weit: Ich saß rittlings auf dem gepolsterten Sitz eines OP-Systems, um mich herum der Tunnel eines Kernspintomographen. Man hatte meine Arme fixiert, als hätte man Angst davor, dass ich sonst den Roboter zerlegen würde. Irgend ein Weißkittel plante mit präzisen Gesten die Operation, während ich daran dachte, wie elegant diese nüchternen Bewegungen damals bei Rhea ausgesehen hatten.
„Ich will, dass Rhea mich operiert!“, verlangte ich.
Maja beugte sich so nahe an mein Ohr, dass ich ihren heißen Atem spürte: „Aber nicht doch“, flüsterte sie, „die bringt es fertig, dass sie Ihnen den Schädel ausbrennt, nur damit wir nicht an Ihre Zellen kommen …“
Der Alkoholtupfer auf meinem frisch rasierten Nacken war kalt wie Eis.
Nach zwei Stunden in einem spartanisch eingerichteten Aufenthaltsraum unter den Augen zweier Sicherheitskräfte kam Professor Faber und sagte, ich solle mitkommen. Er führte mich aus den Labormodulen heraus an das Walbecken. Die schiere Größe dieser Halle beeindruckte mich noch immer.
Aus der Deckenverstrebung in dreißig Metern Höhe hingen einige Kabel, die am Rand des Beckens ein großes Zelt aus milchiger Polymerfolie aufspannten.
Innen war es um einige Grad wärmer, die Luftfeuchtigkeit war spürbar höher und es roch nach altem Fett. Der Geruch ging von einem Wal aus, den man mit Seilwinden aus dem Becken in die geflieste Rinne im Boden gezogen hatte.
Das Tier lag nur zur Hälfte im Wasser, der Rücken ragte aus der Rinne heraus und war mit mehreren Metallklammern fixiert. Darüber hing ein Operationssystem, ähnlich dem, das mir vor zwei Stunden in den Schädel gestochen hatte, nur größer.
Trotz allem, was uns dieses Walkollektiv angetan hatte, empfand ich Mitleid, als ich an den riesigen Säuger herantrat. Sein faustgroßes, trübes Auge blickte mich an, als suchte er eine Erklärung dafür, was man ihm geschah.
Der verschorfte Rücken des Wals war der Länge nach aufgeschnitten. Weitere Metallklammern hielten dicke Fleischlappen zur Seite, so, dass die baumstarke Wirbelsäule und der Schädel frei lagen. Von dort führten unzählige Bündel blauweiß glühender Glasfaserkabel zurück in das Walbecken, daneben der transparente Schlauch an der Atemöffnung des Tieres, und mehrere Schläuchen, in denen Blut zu fließen schien. Etwas weiter vorne ragte ein zwei Meter langes, weißes Rohr aus dem Schädel wie ein stumpfes Horn.
„Dort drinnen wird sich ein neuer Geist aus ihren Gehirnzellen entwickeln.“
Professor Faber war hinter mich getreten, gefolgt von Rhea und Maja, die ihre LAM-Uniform gegen einen knappen Laborkittel getauscht hatte.
„Die Kapazität dieser Einheit wird sich dadurch in wenigen Wochen vervielfachen.“
„Was ist in Sie gefahren, Faber?“ Rhea trat neben mich. „Zwei Gehirne am selben Stamm, das ist absurd …“
„Huitzilin Yec selbst hat den Eingriff geplant – das sollte Ihnen Antwort genug sein.“
„Glücklich darüber sieht das Vieh nicht gerade aus“, konnte ich mir nicht verkneifen.
„Diese Einheit ist nicht Huitzilin Yec – die Gesamtheit macht seinen Geist aus, nicht das einzelne Tier.“
„Und diese Einheit weiß, dass sie sich ihren eigenen Kopf aufschneidet?“
Doch ich bekam keine Antwort – Maja war inzwischen an den Wal herangetreten und begann wieder in ihrer sonderbaren Sprache zu murmeln.
„Nahuatl“, erklärte Rhea, die meine Ratlosigkeit bemerkt hatte. „Die Sprache der alten Azteken, und die Sprache, die War Head offenbar bevorzugt.“
Als Maja geendet hatte, erklang die wahnsinnige Symphonie wieder, die wir in der Sicherheitsschleuse schon gehört hatten, schneidend wie ein Rasiermesser und dabei so wuchtig, dass ich Widerstand beim Atmen spürte. Der OP-Roboter über dem Wal erwachte zum Leben und tauchte seinen Arm tief in das dunkelrote Fleisch.
„Hervorragend“, meinte Maja, tätschelte die ölige Haut des Wals und lachte.
Rheas Augen füllten sich mit Tränen. Sie klammerte sich an mich, und schluchzte. „Das ist nicht richtig … das darf einfach nicht sein …“
Ich fühlte mich hundeelend, als ich sie so in meinen Armen hielt, keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte.
„Pä!“
Eine kleine Gummimaus rollte hinter der Zeltplane hervor.
„Nein, Kesar … wirf Speedy doch nicht immer weg!“
„Parihar!? Was machen Sie denn hier?“ Faber schien noch verblüffter als ich.
Parihar betrat das Zelt, hob die Gummimaus auf und gab sie dem kleinen Kesar auf seinem Arm wieder zurück.
„Zusehen, wie War Head stirbt.“
„Für Sie immer noch Huitzilin Yec, Kolibri der rechten Seite, Krieger des Nordens, auferstanden von den Toten“, korrigierte Maja trotzig, als hätte sie die Bedeutung von Parihars Worten nicht erfasst.
„Aber natürlich, Fräulein Maja. Wie dumm von mir …“
„Pä!“, schimpfte der kleine Kesar wieder und warf die Gummimaus auf den Boden. Dabei starrte er den Wal an, wie er wahrscheinlich einen kläffenden Köter aus gebührendem Abstand angestarrt hätte.
„Pä! Pä!“
„Ach so, du willst helfen, Kesar … Aber sieh her, es ist doch schon alles erledigt …“
Im selben Moment begann das wahnsinnige Kreischen von War Head wieder. Und dieses Mal schwang purer Hass in den dissonanten Schreien. Hass in einer Dimension, die eine menschliche Sprache niemals hätte fassen können. Meine Ohren schmerzten, meine Augen tränten, und das Atmen fiel mir schwer. Mehrere Minuten dauerte die irre Kakophonie, bis sie mit einem dumpfen Wummern erstarb.
„Ah, War Head versteht endlich“, meinte Parihar unbeeindruckt.
Maja war fassungslos. „Was soll das? Huitzilin Yec wird sie auslöschen!“
„Aber nein …“, Parihar lächelte. „Huitzilin Yec ist tot.“
Und tatsächlich geschah etwas mit dem Wal: Das große Auge begann panisch zu zucken, immer schneller, und rollte dann nach hinten. Das Tier keuchte asthmatisch, während sich der dicke Kunststoffschlauch unter dem erhöhten Atemdruck blähte. Gleichzeitig begann die Schwanzflosse zu zittern, und plötzlich wand sich der ganze Leib in gewaltigen Spasmen, die das Wasser ringsum zum schäumen brachten. Das Fleisch riss an den Metallklammern, und als die Krämpfe nach einer Ewigkeit endlich erstarben, war alles – das Wasser, der Boden, das OP-System – rot vor Blut.
„Was war das?“, fragte ich entgeistert, als die Stille unerträglich wurde.
„Das war erst der Anfang“, lächelte Parihar. „Diese Tiere haben ein gemeinsames Kreislaufsystem.“
Und wie auf Kommando begann das Wasser im Walbecken zu kochen.
„Nein!“, schrie Maja, als das grausige Schauspiel geendet hatte. Sie sprang in die Rinne, kämpfte sich durch Wasser, Blut und Fleisch auf den Kopf des Wals zu, presste ihren kleinen Körper an die riesige, leblose Masse und heulte wie ein Kind.
Rhea hatte ihre Fassung wiedergefunden. Sie löste sich von mir, stieg zu Maja ins Wasser und umarmte sie. Maja schluchzte.
„Es ist meine Schuld! Es war mein Fehler …“, wiederholte sie immer wieder. Rhea drückte Maja an sich, streichelte ihren Kopf, und sagte mit ruhiger Stimme: „Du kannst nichts dafür …“
Ich kapierte gar nichts mehr – die beiden hatten keine Gelegenheit ausgelassen, sich ihre Verachtung zu zeigen, und nun schienen sie sich schon seit einer Ewigkeit zu kennen.
„Ist ihnen klar, was Sie da angerichtet haben?“ Professor Faber war aschfahl.
„Ich?“, fragte Parihar mit gespielter Verwunderung. „Aber es war doch Fräulein Maja, die verseuchte Gehirnzellen hier eingeschleust hat.“
„Das wird Ihnen niemand abnehmen!“
„Da fällt mir ein, Professor“, fuhr Parihar seelenruhig fort, „Sie haben doch noch bis vor kurzem für die Gegenseite gearbeitet. Und wer glaubt schon einem Verräter?“
„Seguridad!”, wollte Faber offenbar noch rufen, aber er kam nicht über das „S“ hinaus, bevor sein Kopf auf den Fliesen aufschlug. In aller Ruhe steckte Parihar seine Waffe wieder in den Holster, immer darauf bedacht, sie aus der Reichweite von Kesar zu halten.
„Sie beide“, er wandte sich an Rhea und mich, „Sie möchten vielleicht mit mir nach draußen kommen. Ich habe uns etwas Zeit verschafft, aber in einigen Minuten wird es hier unten sehr ungemütlich sein. Ach ja, und nehmen Sie das Mädchen“, er deutete auf Maja, „am besten gleich mit. Sie kann gut mit Tieren umgehen … Aber was rede ich da, Sie kennen sie ja schon länger als ich …“
„Wie haben Sie es angestellt?“, fragte Rhea, während der Ozean aus Blut unter uns zurückblieb.
„ABC-Brecher“, sagte Parihar, und Rhea nickte.
„Hä?“, war alles, was ich dazu beitragen konnte.
„Neben der Plage waren eine Menge Nanoröhrchen in dem Brief an Sie. Diese Röhrchen, an einem Ende hydrophil und am anderen lipidlöslich, haben Ihre Blut-Hirn-Schranke durchdrungen. Und durch diese semipermeablen Röhrchen wurden einige unnatürlich gefaltete Proteine in Ihr Gehirn geschleust – uninteressant für Sie, aber äußerst spannend für das Gehirn eines Buckelwals. Und War Head hat sich diese Proteine vorhin ins Gehirn gespritzt.
Fräulein Maja machte sich Vorwürfe, da sie Sie trotz der Kontaminationswarnung in das Sanktum gelassen hatte – aber das hätte auch keinen Unterschied mehr gemacht. Es war nur die Plage, die entdeckt wurde, das Eiweiß wäre nur erkannt worden, wenn War Head nicht so gierig gewesen wäre, und sich für die Implantation mehr Zeit genommen hätte. Aber da er ja schon alle Daten hatte …“
„Äh, und was heißt das jetzt?“
„Du hast den Walen Rinderwahnsinn verpasst“, sagte Rhea.
Das Chaos auf dem Weg nach draußen nahm mit jeder Minute zu, aber irgendwie schaffte es Parihar mühelos, uns an den Trupps der Seguridad vorbei nach oben zu dirigieren.
„Das haben wir seiner Arroganz zu verdanken“, sagte er fröhlich. „War Head verleugnete seine Sterblichkeit, und so war diese Situation nie vorgesehen.“
Hinter dem nächsten Druckschott lag ein Hangar, in dem jede Menge militärischer Maschinerie untergebracht war. Parihar führte uns an einer Reihe vierachsiger Radpanzer entlang zu einem silbergrauen Minivan. Der Wagen erkannte Parihar und entriegelte die Türen.
Parihar schnallte den kleinen Kesar sorgfältig in seinen Kindersitz und bedeutete uns, hinten einzusteigen. Maja setzte sich zwischen Rhea und mich. Wo mein Oberschenkel den ihren berührte, saugte sich meine Hose voll mit Walblut und kaltem Wasser.
Parihar lenkte den Minivan an den Radpanzern vorbei eine breite Rampe hoch – und auf einmal war alles in rotes Licht getaucht: Vor uns führte die Autobahn in einer perfekten Geraden in das atemberaubende Panorama der Rocky Mountains, und genau über dem Rand der Erde hing die Sonne.
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass du Maja kanntest“, sagte ich zu Rhea, während Parihar den Wagen in das Leitsystem der leeren Autobahn einklinkte.
„Gleiche Schule …“, meinte Rhea knapp.
„Nicht so bescheiden, Fräulein Rhea“, sagte Parihar. „Die beiden besuchten das Marie Curie-Internat für hochbegabte Mädchen in … jetzt habe ich den Namen der Stadt vergessen … ach, egal …“
Das letzte Stück der Sonne verschwand hinter dem Horizont und ließ einen brennenden Himmel zurück.
„Parihar?“
„Ja?“
„Warum haben Sie uns eigentlich nicht gleich am Anfang alles erklärt?“
„Weil Sie dann wahrscheinlich nicht mitgemacht hätten.“
„Hatten wir eine Wahl?“
„Den Tod.“
„Ha, schwere Entscheidung … Europa retten oder sterben …“
„Ich arbeite nicht für Europa.“
„Wie bitte?“ Ich verstand nicht.
„Mein Arbeitgeber ist in Südafrika.“
Südafrika.
„Großer Gott … Hammermind? … Es gibt ihn wirklich?!“
„Aber natürlich. Da fällt mir ein – waren Sie schon einmal in Johannesburg?“
Ich war sprachlos. In der Ferne flimmerten die ersten Lichter von Seattle.