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Ghetto - heute zumindest

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25.07.2003
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Ghetto - heute zumindest

Nicht unsere Schuld - heute zumindest

Ich laufe durch Strassen. Betonbauten, gleich Ruinen, begleiten meinen Weg. Eingeworfene Fensterscheiben in brüchigem Mauerwerk prägen das Bild. Alte Industriegebäude, umgebaut zu Lebensräumen, stehen, gleich Geistern, links und rechts von mir. Bequemlichkeit ist ihr einziger Schutz vor dem Einriss. Alte Zeitungen wehen durch die Strassen. Bleiben in dreckigen Pfützen kleben. Wenige Menschen, in verwahrlosten Kleidern drücken sich auf der Strasse herum. Stimmengewirr. Nein, kein Deutsch. Dort, die Flüchtlinge aus dem Kongo haben sich zusammengerottet, um nicht ganz im Bild der Stadt verloren zu gehen.

Meine Hose schlurft auf der Strasse. Taucht in die Pfützen des dreckigen Wassers. Mein Pulli hängt kraftlos an mir herab. Die Ärmel hängen über meine Hände. Man hat eben keine Wahl. Ich habe ihn nicht ausgesucht. Meine verdreckte Starter-Kappe ist falsch-herum über mein Haupt gestülpt. Die Pins in meinen Ohren spielen Eminem. Lose yourself. Ein guter Song. Guter Rhythmus. Ich mag Eminem. Ich verstehe seine Worte nicht immer, aber ich habe das Gefühl, ich weiss, was er meint. Ich glaube, er meint dasselbe. Es ist nicht zu laut. Unterhalten möchte ich mich auch. Meine Kumpels laufen neben mir. Dasselbe Bild. Hängende Hosen, schlabbernde Pullis, Kappe auf dem Kopf, Pins in den Ohren. Sie alle hören Eminem. Ich glaube, sie wissen auch nicht genau, was er sagt. Aber sie spüren auch, dass er genauso denkt, wie sie.

Ich bin Deutsch. Der einzige in meiner Clique. Alles andere Türken. Ok, ein Serbe ist dabei, aber der sieht auch aus wie ein Türke. Mittlerweile spricht er auch so. Ich auch. In meinem Viertel gibt es fast keine Deutschen. Keine, mit denen ich mich abgeben würde. Sie sind selbst am Boden. Treten trotzdem nach denen, die noch tiefer liegen, als sie. Das denken sie jedenfalls.

Wir sind auf dem Weg in die City. Ein bisschen „abchillen“, wie wir es nennen. Einfach rumhängen. Ein paar Joints rauchen. Ein paar Passanten anpöbeln. Die glotzen immer so dämlich. Einmal mehr erwartet man einen Spruch wie : “Die Jugend von heute hat einfach keine Erziehung mehr.“, oder „Genau ihr seid die Generation, die jedem auf der Tasche liegt!“. Das alles kommentiert von einem Kopfschütteln. Sie verstehen uns nicht. Wie sollten sie auch? Unsere Welt ist anders. Sie haben nie hier und heute gelebt.

In Richtung U-Bahn-Station. Da vorne. Ein paar Glatzen. Bomberjacken, hochgeschnürte Stiefel, Army-Hosen. Normalerweise gehen wir uns aus dem Weg. Wechseln die Strassenseite. Aber heute? Alle so entschlossen. Plötzlich. Ein seltsames Gefühl. Müssen wir uns etwas beweisen? Naja, egal. Ich laufe mit. Direkt auf sie zu. Es sind nur vier. Wir sind fünf. Wird schon nichts passieren. Worte, aber kein Handeln. Typisch für diese Gesellschaft. Vielleicht auch besser so. Ich laufe hinten mit einem Kumpel – dem Serben. Die anderen vor uns. Eine der Glatzen sagt etwas. Ich kann es an seinen Lippen sehen. Er schaut dabei in unsere Richtung. Die anderen drei Skins lachen. Dann entschlossene Blicke. Zielstrebige Schritte auf uns zu. Ich werde nervös. Ich habe keinen Bock auf Stress. Immer dasselbe.

Nurnoch wenige Meter. Ich habe meinen Discman leiser gestellt. Möchte wissen, was sie reden. Ich kann die Schritte der Stiefel auf dem Asphalt hören. Immer noch entschlossene Blicke. Wasser spritzt beiseite, als die Rangers in eine Pfütze treten. Alle Blicke stier geradeaus. Nur ich senke meinen Blick. In Hoffnung, dass kein Wort fällt. Den ersten Satz erwartend.

-„Na, ihr Kanacken!? Mal wieder unterwegs, eure arischen Gastgeber zu bestehlen?“

Ich blicke wieder auf. Die Skins stehen genau vor uns. Ali und Pac (eigentlich heisst er Ibo) stehen direkt vor ihnen. Wir sind fünf. Einer mehr. Wir bauen uns alle in einer Reihe auf. Ich nehme den Pin aus dem linken Ohr. Drehe den Song lauter. Dröhnt jetzt direkt in mein rechtes Ohr. „Fight Music“ von D12. Ich weiss, dass “fight” “Kampf” heisst. Es passt. Das reicht. Ein gespielt stolzer Blick. Versuche die Furcht zu verbergen. Suche nach dem Butterfly in meiner rechten Hosentasche.

-„Was ist los türkisch Mann? Hats Dir die Sprache verschlagen? Hey! Wenn ich mit Dir rede, hast Du zu antworten,ok?! Oder noch mal in Deiner Sprache? Wenn isch, weiss du, mit Dir babble, hass zu gefälligst, ganz chillisch Antwort zu geben Ozman, ok?“

Wieder Gelächter aus den Reihen unserer deutschen Mitbürger. Ich nehme einen letzten Zug an meiner Zigarette. Dann werfe ich sie in die Pfütze vor mir. Trete noch einmal nach ihr, obwohl es nicht nötig wäre. Sie ist mit einem Zischen schon erloschen. Ali und Pac wechseln einen kurzen Blick. Dann geht alles ganz schnell. Pac holt aus und schlägt in Richtung des Führers der Skins. Er schlägt vorbei und sogleich hat er eine Faust im Gesicht hängen. Er geht zu Boden. Ali tut es ihm gleich. Doch er trifft. Eine der Glatzen gesellt sich zu Pac auf den Asphalt. Doch es dauert nicht lange, bis uns die Skins mit ihren Baseballschlägern zurechtgestutzt haben. Erst als ich das Fly(Butterfly) erscheinen lasse, lassen sie von uns ab, rappeln ihren, auf dem Asphalt ruhenden Bruder wieder auf, und verziehen sich mit den Worten:

-„Das nächste mal seid ihr dran ! Verschissenes Asylantenpack! Dann is´nix mit Messer oder so!“

Pac rappelt sich langsam wieder auf. Kein Blut auf dem Asphalt. Heute nicht. Ich stecke mein Fly wieder in meine Hosentasche. Es wird kein Wort gesprochen. Pac mag es nicht, wenn man ihn anspricht, wenn er gerade zusammengeschlagen wurde. Wer mag das schon? Wir setzten unsren Weg in Richtung U-Bahn-Station fort. Gleiche Konstellation wie vorher. Pacs Lippe blutet ein wenig – das ist der einzige Unterschied.

Fahrkarte lösen? Kein Geld. Schwarzfahren. Nichts besonderes. Nicht mehr. Blicke genügen und schon macht eine Gruppe Jugendlicher Platz. Wir setzen uns. Pac hantiert an seinem Kiefer herum. Nimmt ein Taschentuch und wischt sich das Blut von der Lippe. Nein, ich sollte ihn nicht ansprechen. Noch nicht. Die U-Bahn fährt los. Getöse dringt in mein linkes Ohr. Ich stecke den Pin wieder hinein. Fünf in einer Reihe. Niemand redet. Alle haben ihre Pins im Ohr. „Sing for the Moment“ – guter Song – Ja, das haben sich meine Eltern gewünscht. Leere Gesichter um mich herum. Dennoch immer wieder ein leerer, ängstlicher Blick in unsere Richtung. Hey, wir waren nicht die Täter! Wir warn die Opfer!

Die Tür zu unserem Abteil öffnet sich. Eine gebrechliche, alte Gestalt wankt herein. Einen grünen, von Dreck verkrusteten Parka um sich geschlungen. Die verfilzten Haarstränen hängen ihr wirr ins Gesicht. Verschmutze Army-Hosen lenken von dem zerlöchterten Rucksack ab. In den Händen hält sie ein Schild :

„Bitte nur um eine kleine Spende, um mein Leben fortzuführen.“

Pac blickt die Gestalt an. Er lässt von seinem Kiefer ab. Das Blut ist schon beseitigt. Er wendet sich an die verwahrloste Gestalt.

-„Hey Du Asso! Verpiss Dich Du Zecke! Hier gibt’s nix für Dich! Nix zu holen! Du verstehen!?“

Die anderen vier lachen .Die Gestalt erhebt ihr Haupt in unsere Richtung. Eine Träne rinnt ihre Wange herunter. Vermengt sicht mit dem Dreck ihrer Haut. Ich senke mein Haupt, drücke die Pins noch einmal fest in mein Ohr, drehe meinen Discman lauter. Hey! Wir waren nicht die Täter! Wir waren die Opfer! Heute zumindest...

 

und noch mal ich ;)

Hallo FallenAngelSoul,

von den drei Geschichten, die ich von dir hier bisher gelesen habe, gefällt mir diese hier am besten. Sie ist einfach ein in sich stimmiges Zeit-Millieu Portrait, das keiner wirklichen Handlung bedarf.
Dein Prot beklagt sich, beschreibt, was ihm gefällt und verhält sich zum Schluss genau, wie er es bei anderen kritisiert.

Sie sind selbst am Boden. Treten trotzdem nach denen, die noch tiefer liegen, als sie
Aus dem Millieukolorit deiner Erzählung brichst du nur aus, wenn du über Eminem erzählst. Da würde ich die persönlichen Wertungen deines Prot vielleicht einfach streichen, jedenfalls diese hier:
Ein guter Song. Guter Rhythmus.

Aber das soll deine Geschichte nicht schmälern. Ich fand sie wirklich gelungen.
Liebe Grüße, sim

 

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