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"Ghetto, Alder!"
Der Videoreporter wird von einem Butler in ein prunkvoll eingerichtetes Zimmer geführt. Dort baut er seine Kamera auf und richtet sie auf den gegenüberstehenden Sessel. Die Tür schnellt auf und herein platzt Motherfucka Deluxe, der neue Star der deutschen HipHop-Szene. Mit bürgerlichem Name heißt er Kurt Weiler, aber das klänge für ein Rapper eben zu bürgerlich. Er streckt dem Reporter die Faust entgegen und ruft: „Yo Alder ... Ghetto Faust, ey. Was geht ab?“
Obwohl der Reporter Weilers „Gangster-Getue“ für einen Mitdreißiger mehr als nur lächerlich findet, grüßt er seinen Gastgeber nicht minderfreundlich; ebenfalls mit der Ghetto-Faust.
„Herr Weiler, wie bereits telephonisch besprochen bin ich hier um eine kurze Videodokumentation über Ihr Leben zu machen. Am Anfang des Beitrages habe ich mir ein kurzes Interview vorgestellt, bei dem Sie ihren Weg zum gefeierten Star schildern. Es gibt ja auch Leute da draußen, die Sie vielleicht noch nicht kennen.“
„Glaub ich zwar nicht, Alder. Aber was soll‘s? Lass jucken.“
„Bitte?“
„Lass jucken. Also fang ma an mit der Fragerei. Hab ja nich’ ewig Zeit.“
„Alles klar“, nickt der Reporter und drückt den Aufnahmeknopf der Kamera. „Herr Weiler, hätten Sie es vor fünfzehn Jahren für möglich gehalten, einmal so berühmt zu sein und acht goldene Schallplatten an der Wand hängen zu haben?“
„Ja, war mir schon immer klar, man. Hab schon in der Hauptschule alle niedergebattelt. Und ich wusste: Du wirst mal reich und berühmt, mit geilen Nutten und viel Koks und was halt noch so alles dazu gehört.“
„Wie ging es nach der Hauptschule weiter?“
„Naja, musste für so en beschissenes Jahr in die Berufsschule. Berufsvorbereitungsjahr. Nur ungebildete Prole ... Wirklich nur Bescheuerte, alle total asozial. Voll schlimm, sag ich dir. Erst durch mein erstes Album hab ich’s da raus geschafft.“
„Schön, dass Sie es ansprechen. Ihr erstes Album ‚Ich will zurück in mein Ghetto’ verkaufte sich alleine in der ersten Woche über eine halbe Million mal. Von da an waren Sie ein gefeierter Star. Was haben Sie, was die anderen nicht haben?“
„Die andern haben doch alle nix drauf. Sind nur verweichlichte Mamasöhnchen. Ich bin hart und direkt und hab auch was in der Birne. Ich schreib all meine Texte selber, was man auch merkt. Viel fetter als der Shit von den andern.“
„Aber finden Sie nicht, dass Passagen wie ‚Ich ramm ihn dir rein und du schreist. Ich nehm Koks und du schweigst’ nicht gerade sehr anspruchsvoll, ja fast dümmlich sind?“
„Ja natürlich. Ist totaler Schrott. Geht ma gar nicht so was.“
„Aber warum haben Sie es dann geschrieben?“
„Das is von mir?“
„Ja, Lied vier auf ihrem ersten Album. Titel: ‚Ich scheiß dir ins Geschicht’.“
„Warn en geiles Album, was?“
„Nennen wir es expressionistisch. Kommen wir zurück zu der vorherigen Textstelle ...“
„Welche Textstelle?“
„Na, die aus ‚Ich scheiß dir ins Gesicht’.“
„Ja, geiler Song, geiler Text. Mehr kann ich dazu net sagen.“
„Okay, anderes Thema. Viele Ihrer Kritiker meinen, Sie seien, ich zitiere, ’Dumm wie Brot’ ...“
„Wer hat des gsagt? Bestimmt der ‚Aka Check’. Na warte, wenn ich mit dem seiner Mutter fertig bin, hat der nicht mehr so große Sprüche drauf. Der kleine Bastard.“
„... wiederum andere behaupten, Sie seien einer der cleversten Unternehmer in Deutschland und hätten erkannt, was die Öffentlichkeit hören will. Sie würden sich nur deswegen verstellen.“
„Warum sollt ich mich verstellen. Bin einfach geil.“
„Alles klar, das beantwortet die Frage zur Genüge. Eine kritische Frage darf noch erlaubt sein. Finden Sie es nicht verwerflich, dass Sie sehr viele Kraftausdrücke in Ihren Liedern verwenden?“
„Warum sollt‘ ich?“
„Na ja, viele Ihrer Lieder werden von Minderjährigen gehört. Führende Soziologen meinen, gerade jüngere Kinder könnten dadurch negativ beeinflusst werden. Ihre Musik würde unnötig Aggressionen schüren und die Hemmschwelle der Jugendlichen senken. Sind Sie sich einer solchen Verantwortung bewusst?“
„Natürlich, aber allen da draußen kann ich nur sagen: „Fickt eure Lehrer und bleibt ‚Ghetto.’“
„Ähh, gut. Das war deutlich. Nochmal: Sind Sie wirklich so hart wie Sie immer tun, oder machen Sie das nur, um das Image eines Gangsters zu verkörpern.“
„Ich bin Gangster, Alder! Bin hart wie Holz. Wie hartes Holz sogar.“
In diesem Augenblick betritt ein Butler den Raum
„Was geht ab, Dave?“, fragt Weiler
„Ihre Fanpost, Sir.“
„Yeah, zisch ab man.“
Weiler öffnet in aller Seelenruhe ein paar Briefe, dann ein großes Paket. Auf des Reporters Fragen reagiert er nicht mehr. Plötzlich beginnt er zu weinen. Der Reporter fragt nach: „Nanu, Herr Weiler, Sie scheinen ja doch Gefühle zu haben. Doch nicht so ‚hart wie hartes Holz‘.“
„Labber net. Des is nur: Bei rosa Plüschhasen muss ich immer flennen, da kann ich net anders.“ Er hebt ein rosa Häschen aus dem Paket. „Der ist doch voll süß, ey.“
„Ähm, ja. Total süß“, stammelt der Reporter.
Der Reporter will gerade seine nächste Frage stellen, als wieder ein Butler eintritt. Er hat ein Telefon in der Hand und flüstert: „Ihre Mutter!“ Weiler zuckt wie vom Blitz getroffen zusammen und wimmert: „Sagen Sie ihr, ich bin nicht da.“
„Zu spät, ich habe ihr schon gesagt, dass Sie da sind!“ Er übergibt Weiler das Telefon. Dieser springt sofort auf und geht aus dem Raum. Der Reporter hört ihn noch leise aus dem Hintergrund sprechen: „Ja, Mama … Sicher, Mama … Ich liebe dich doch auch, Mama.“ Zwischendurch schluchzt Weiler. Nach zweieinhalb Stunden kommt er zurück.
„Die alte Schlampe kann einem echt auf den Sack gehen.“, tönt er.
„Ja, so sind Mütter“, sagt der Reporter und fährt höhnisch fort: „Ist ihre Mutter vielleicht der Grund, warum Sie alle Drogen kategorisch ablehnen?“
„Ne, des hat sicher nix damit zu tun. Ich bin Absti … Absint … , also ich komm halt auch ohne aus. Drogen sind echt net so mein Fall.“
„Warum rufen Sie dann in ihren Liedern zu exeziven Drogenkonsum auf?“
„Weil so ein Kokstripp richtig geil ist. Will der Jugend halt ein paar Perspektiven zeigen. Aus dem Dreck raus.“
„Durch Drogen?“
„Durch was denn sonst. Mit Musik sicher net.“
„Haben Sie noch eine letzte Botschaft, ehe wir dieses Interview beenden?“
„Ja, es war total schön“, sagt Weiler und weint wieder. „Wirklich total schön.“ Kurze Zeit später fasst er sich und fragt: „Ey, kann man das rausschneiden. Ich mach noch mal ne richtige Message.“
„Sicher“, antwortet der Reporter und spult ein kleines Stückchen vorwärts. „Ist erledigt. Jetzt Ihre richtige Botschaft.“
„Lasst euch die Nutten und das Koks nicht verbieten und vögelt so viel ihr wollt, vor allem die dreckigen Bitches. Peace!“
„Vielen Dank, Herr Weiler.“
„Verpiss dich, Alder.“
Nach Veröffentlichung des Interviews gingen die Plattenverkäufe Weilers seltsamerweise stark zurück.