Gewitter
Es war ein schöner Tag und Ella beschloss, einen Spaziergang zu machen. Sie zog ihr kariertes Baumwollhemd an und schlüpfte in die Wanderhose mit den abnehmbaren Hosenbeinen. Während sie den Rock und die Bluse, die sie getragen hatte, in den Kleiderschrank räumte, überlegte sie kurz, ob sie nicht doch besser ein Unterhemd anziehen sollte. Was hatte in der Zeitung zum Wetter gestanden? Sie meinte etwas von 25 Grad gelesen zu haben; aber zur Sicherheit durchsuchte sie den Altpapierstapel im Flurregal und zog die besagte Zeitungsseite heraus. Ja richtig, 25 Grad am Nachmittag und abends gelegentlich Schauer und Gewitter. Gewitter? Ein wenig besorgt warf sie einen Blick aus dem Küchenfenster, das ihr einen weiten Blick über das Tal bot. Im königlichen Blau strahlte der Mittagshimmel über den weißen Häusern, sattgrünen Wiesen und gelbleuchtenden Äckern. Nur ganz in der Ferne bei den waldbedeckten Hügeln jenseits des Flusses schwebten ruhig ein paar weiße Wölkchen dahin.
Ein wenig beruhigt fing Ella an, ihre Tasche zu packen, aber ein dumpfes Gefühl von Unsicherheit konnte sie nicht abschütteln. Seit ihrer Kindheit hatte sie eine schreckliche Angst vor Gewitter; es gab nichts, was sie mehr in Panik versetzte als die Vorstellung, im Freien von Blitz und Donner überrascht zu werden. Du alter Angsthase, schalt sie sich und atmete tief durch, nimm Dich zusammen. Zur Sicherheit, überlegte sie, könnte sie ja ihren Spaziergang so planen, dass immer die Möglichkeit bestand, ein Gasthaus oder einen Bus schnell zu erreichen.
Ja, wo wollte sie überhaupt hin spazieren? Während sie ihr Portemonnaie, Pflaster, eine Packung Taschentücher, einen Notizblock und einen Kugelschreiber, einen Spiegel, ihr Handy, Erfrischungstücher und eine Landkarte in ihrer Tasche verstaute, grübelte sie über mögliche Wege nach. Hinauf auf dem Berg und dann über die Äcker zum kleinen Dorf mit der schönen Barockkapelle? Nein, auf dieser Strecke gab es kein Lokal und fuhr kein Bus. Also doch lieber durch das Wäldchen den Hügel hinauf, dann hinunter Richtung Fluss bis zu dem netten Cafe bei der Brücke? Schon besser, Richtung Stadt fuhren einige Buslinien und Einkehrmöglichkeiten gab es viele – nur das Wäldchen war womöglich etwas einsam, und man hörte doch in letzter Zeit so oft von der Wildschweinplage – nein, eine Begegnung mit diesen bedrohlichen Tieren wollte sie lieber nicht riskieren. Aber wenn sie stattdessen den Weg am Waldrand nahm, der zu der Bank mit der schönen Aussicht führte, wo sie neulich diesen netten Herrn getroffen hatte - wie hatte er sie freundlich gegrüßt, als er sich neben sie setzte! Zuerst war ihr das unangenehm gewesen, die Bank mit jemandem zu teilen. Aber nachdem sie ein Paar Mal unauffällig zu ihm hinübergelinst hatte, während er entspannt seinen Blick über die sommerliche Landschaft schweifen ließ, war es kaum zu vermeiden gewesen, dass ihre Blicke sich irgendwann trafen. Er hatte sie mit einem Lächeln bedacht, dass in ihrem Inneren etwas berührte, was sich schon lange nicht mehr geregt hatte.
„Ist das nicht ein herrlicher Ausblick!“ hatte er mit einer angenehm tiefen Stimme gesagt. Obwohl Ella eher wortkarg gegenüber Fremden war, war es ihr nicht schwer gefallen, mit ihm zu plaudern – über das Wetter, das Leben in dem kleinen Städtchen, die Landschaft, das Buch, das sie gerade las und andere Dinge, über die man sich mit jemanden, den man gerade erst kennengelernt hat, eben unterhalten kann. Leider hatte er sich mit Blick auf seine Uhr schon nach einer viel zu kurzen Zeit verabschiedet. In einem letzten mutigen Moment hatte Ella ihn noch gefragt, ob er öfter hier bei dieser Bank wäre. Mit einem Augenzwinkern hatte er erwidert, dass er sich dies für die nächste Zeit wohl vornehmen würde, da man ja hier auf so nette Gesprächspartnerinnen treffen würde, und Ella hatte ihr wild klopfendes Herz gespürt. Sie war beinahe froh gewesen, dass der Mann sich recht schnell erhob und davonschritt. So blieb ihr innerer Aufruhr vor ihm verborgen.
Ella suchte in ihrem Buchregal nach einer geeigneten Lektüre für die Parkbank. Dann nahm sie eine Flasche Wasser und einen Apfel aus dem Küchenschrank und packte alles ein. Sie stellte fest, dass ihre Tasche viel zu voll und schwer geworden war. Also ging sie in den Abstellraum, um den Wanderrucksack zu holen. Jetzt hatte sie noch genug Platz für eine Jacke und einen Regenschirm, den sie vorsichtshalber auch mitnahm.
Im Bad warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie wusste, dass sie keine Schönheit war. Sie war auch nicht direkt hässlich, sondern einfach unscheinbar mit ihren schmalen Lippen, dem aschblonden feinen Haar und den wässrig blauen Augen, unter denen sich die ersten Fältchen zeigten. Vor ein paar Jahren hatte mal ein Kollege bei der Betriebsweihnachtsfeier zu ihr gesagt, dass sie ein schönes Lächeln hätte. Aber ob der schon reichlich angetrunkene Kollege das wirklich Ernst gemeint hatte, bezweifelte sie. Leicht verzog sie ihre Mundwinkel nach oben. Dann seufzte sie tief, bürstete die Haare zurecht und sprühte sich ein wenig Deodorant unter die Arme.
Im Flur zog sie ihre Schuhe an, eilte noch einmal ins Bad, um die Sonnencreme zu holen und ebenfalls einzustecken, überprüfte, ob auch alle Fenster und die Balkontür geschlossen waren und verließ das Haus. Draußen fiel ihr Blick auf eine übrig gebliebene Wasserpfütze vom gestrigen Regen, die zwischen dem Schutt der Baustelle schräg gegenüber in der Sonne glitzerte. Bestimmt war der Weg entlang des Waldes noch sehr matschig und feucht – vielleicht sollte sie doch lieber die regendichten Wanderschuhe anziehen? Sie ging noch einmal zurück in die Wohnung, zog ihre Schuhe aus und holte die Wanderschuhe aus dem Schuhschrank. Als sie gerade den Schnürsenkel des zweiten Schuhs binden wollte, läutete das Telefon. Wer rief sie denn jetzt an? Sie warf einen Blick auf das Telefon Display. Ihre Mutter. Kurz zögerte Ella, ob sie den Hörer überhaupt abnehmen sollte – bestimmt war der Mutter nur langweilig. Aber was wäre, wenn sie wirklich ein Problem hatte? In letzter Zeit war die Mutter immer unsicherer auf den Beinen geworden. Vielleicht war sie ja hingefallen, möglicherweise verletzt und hilflos, hatte nur mit letzter Kraft noch das Telefon greifen können. Ella nahm den Hörer ab. „Hallo Mutter. Ja mir geht es gut….ja ich wollte gerade einen Spaziergang…nein, allein, das Wetter ist doch so schön und…genau, dein Nachbar, ja, von dem hast du mir das letzte Mal doch schon erzählt, ich weiß, die Sache mit der Treppenhausreinigung…“ Ella seufzte. Es war genau wie sie befürchtet hatte – der Mutter fehlte nichts und sie würde ihr all die Dinge erzählen, die sie ihr schon hundert Mal erzählt hatte. Sie wohnte zu weit weg, um die Mutter regelmäßig zu besuchen. Zwar hatte sie der Mutter angeboten, zu ihr zu ziehen, aber die Mutter wollte nicht. So lebte Ella mit dem ständigen Gefühl, die Mutter zu vernachlässigen, und sie brachte es nicht fertig, mit einem knappen „Tut mir leid, ich muss jetzt gehen“ das Gespräch zu beenden. Nur kurz legte sie das Telefon beiseite, um sich ihren zweiten Schuh zuzubinden. Dann begnügte sie sich damit, ab und zu ein „Ach“, „Ah ja“, „Nein wirklich“ von sich zu geben und dabei den Minutenzeiger der Küchenuhr zu verfolgen, wie er langsam vorwärtskroch. Schließlich schien der Mutter nichts mehr einzufallen und sie schwieg für einen Moment. Erleichtert nutzte Ella die Redepause, um sich zu verabschieden. Sie ließ noch die letzten Vorwürfe, dass sie so selten zu Besuch käme, über sich ergehen, legte auf und warf erneut einen skeptischen Blick auf die Uhr. Sollte sie überhaupt noch losgehen? Es war schon spät geworden.
Nun gut, sie könnte ja einfach nur bis zur Parkbank wandern und dann den Weg zum Fluss hinunter weglassen. Insgeheim hoffte sie sowieso, dass der Spaziergang an der Parkbank enden würde. Ella stellte sich vor, wie sie aus dem Schatten des Waldrandes tretend, das letzte Stück zwischen den Weizenfeldern auf die Bank zuschreiten würde. Dort würde der Mann sitzen, die Arme lässig über die Banklehne ausgebreitet, so dass er sie, wenn sie sich neben ihn setzte, schon halb umarmen würde…
Ja, sie musste gehen, sie musste raus hier. Ella meinte fast, in der Enge ihrer Wohnung zu ersticken, dieser stillen Wohnung, in der sich nichts änderte, nichts passierte, nur die Küchenuhr leise vor sich hin tickte und damit warnend darauf hinwies, dass die Zeit verging. Wo war denn der Haustürschlüssel? Ach, da lag er ja, auf der Vitrine, wo ihn Ella in der Eile beim Läuten des Telefons hingelegt hatte.
Sie räumte noch schnell die anderen Schuhe ins Regal, hängte sich den Rucksack um, schloss die Haustür ab und ging los, die Straße hinauf. Als sie gerade um die Ecke biegen wollte, fiel ihr ein, dass sie ihre Monatskarte vergessen hatte. Sie plante zwar nicht, mit dem Bus zu fahren, aber man wusste ja nie, ein verstauchter Knöchel, ein Wetterumschwung – zwar könnte sie sich notfalls einen Fahrschein im Bus kaufen, aber das wäre ja hinausgeworfenes Geld, wo sie schon diese Monatskarte hatte, und auf die fünf Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Also eilte sie zurück, schloss die Haustür wieder auf, suchte in der Schublade im Flur nach der Karte, fand sie dort nicht, versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Bus gefahren war und griff in die Innentasche ihrer weißen Sommerjacke, in der die Karte auch tatsächlich steckte. Ella verstaute sie in der Seitentasche des Rucksacks, schloss die Tür wieder ab und machte sich erneut auf den Weg.
„Sie, Frau Schmid“ tönte es schnarrend hinter ihr. Das hatte gerade noch gefehlt. Konnte sie so tun, als ob sie ihn nicht gehört hatte? Nein, so wie Herr Mager zu brüllen pflegte, würde in diesem Augenblick jeder in der Straße wissen, dass Herr Mager sie, genau sie angesprochen hatte. Wahrscheinlich linste schon die halbe Nachbarschaft hinter den Gardinen aus dem Fenster, und wenn sie jetzt einfach weiterging – was würde das für einen Eindruck machen? Ella drehte sich um und mühte ein freundliches Lächeln herbei. „Guten Tag, Herr Mager. Was ist denn los? Brauchen Sie Hilfe?“. Herr Mager, gekleidet wie immer in einem grasverschmierten Arbeitsoverall starrte sie mit dem einzigen Gesichtsausdruck, den sie an ihm kannte, an – grimmig, herausfordernd und unerbittlich.
„Was sagen sie zu diesem Dreck?“ Ella zuckte mit den Schultern. Welcher Dreck? Wovon redete Herr Mager? Sie sah ihn fragend an. „Na, der Dreck da“, gab er knurrend von sich „Hier.“ Er deutete auf ein paar Schlammklumpen auf der Straße. „Von der Baustelle!“. Ella wusste nicht, was sie mit ein paar Erdbrocken, die wohl von den Reifen der Baustellenfahrzeuge abgefallen waren, zu tun haben könnte. „Das geht nicht.“ Herr Mager spuckte die Worte aus, als ob sich die Klumpen in seinem Mund und nicht auf dem Straßenasphalt befinden würden. „Der Lärm. Der Dreck. Da muss man was dagegen tun.“ Ella biss sich auf die Lippen. Sollte sie Herrn Mager daran erinnern, dass die Straße, als er vor fünf Jahren sein Haus hier gebaut hatte, ebenso verschmutzt gewesen war? Sie kannte den Nachbarn schon zu gut, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, dies zu erwähnen. Ella fragte auch gar nicht, was Herr Mager gegen den Lärm und den Dreck zu tun gedachte. Sie wusste, er würde es ihr sowieso gleich erzählen. Neben der Bildung einer Art Bürgerwehr schwebten Herrn Mager Aktionen vor, die eher in einen Kriegsfilm gepasst hätten. Er bellte Wortfetzen wie „Fronten haben sich verschärft“, „Lärmquellen ausmerzen“, „Vereinter Kampf der steuerzahlenden Bürger gegen Verwahrlosung“ und „Ausländer abwehren, die sich nicht zu benehmen wissen“ und schaute Ella dabei herausfordernd an. Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während sie der stechende Blick Herrn Magers nicht losließ. Als der Mann endgültig in seine üblichen Tiraden über Migranten, die nur unser Sozialsystem ausnutzen, disziplinlose Kinder und unzumutbare Hartz IV Empfänger abrutschte, wurde es Ella zu viel. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Mager“ unterbrach sie ihn so höflich, wie es ihr möglich war, „Aber ich bin ein wenig in Eile – vielleicht können wir uns ein anderes Mal darüber unterhalten?“ „Kein Respekt mehr vor dem Alter!“, polterte Herr Mager los, „Keine Zeit, heißt es immer, keine Zeit!“ Unwillkürlich wich Ella ein Stück zurück, um nicht von einer Spuckwolke durchnässt zu werden. Sie atmete tief durch, wünschte Herrn Mager noch einen schönen Tag und wandte sich um. Erst, als sie um die Straßenecke bog, war die anhaltende Schimpfkanonade Herrn Magers nur noch gedämpft zu hören.
Bei den letzten Häusern mündete die Straße in einen Feldweg, der langsam anstieg und zu dem Wald auf der Hügelkuppe führte. Leicht außer Atem folgte sie dem Weg, dachte über ihre Mutter und den alten Herrn Mager nach und fragte sich, wie sie wohl sein würde, wenn sie so alt werden würde wie die beiden. Ach, ermahnte sie sich, weg mit den trüben Gedanken. Lieber malte sie sich aus, wie der Mann dort oben auf dem Hügel bei der Bank auf sie warten würde. Ob er nach ihr Ausschau hielt? Sie stellte sich vor, wie er ihr freudestrahlend entgegen schauen würde. Er würde ihr winken, sie zum Sitzen auffordern – vorher noch die Parkbank mit einem kleinen Tuch abwischen, damit sie sich ja nicht die Hose beschmutzte. Das würde gut zu ihm passen. Er hatte auf sie den Eindruck eines sehr aufmerksamen und hilfsbereiten Mannes gemacht. Und dann würde er einen Picknick-Korb dabei haben, eine Decke ausbreiten, Gläser, Teller, eine Champagnerflasche, Obst, Sandwiches und andere Köstlichkeiten aus dem Korb holen und sie würden sich dicht nebeneinander auf die Decke setzen. Er würde den Sekt in die Gläser gießen und sie würden miteinander anstoßen, sich dabei tief in die Augen schauen, keine Worte würden mehr nötig sein, und dann…
Ein dumpfes Grollen riss Ella aus ihren Träumereien. Sie blickte zurück. Über den Hügeln jenseits des Flusses verschwand die tiefstehende Sonne hinter einer dunklen Wolkenwand. Ellas Magen verkrampfte sich. Sie wusste, dass es noch Stunden dauern konnte, bis das Gewitter zu ihr gezogen war, aber das nutzte nichts. Panik erfasste sie und es drängte sie, sofort umzukehren und sich in ihre sicheren Wände zu begeben. Nur kurz versuchte sie verzweifelt, ihrer Furcht zu widerstehen, aber es gelang ihr nicht. Mutlos trottete sie den Weg wieder hinunter, den sie eben noch beschwingt hinaufgestiegen war.
Zuhause angekommen, schnürte sie die Wanderschuhe auf und verstaute sie im Schuhschrank. Sie packte den Rucksack aus, stellte das Buch zurück ins Regal, die Wasserflasche zurück in den Getränkekasten, zog sich Rock und Bluse an und setzte sich müde in den Fernsehsessel. Sie nahm die Fernbedienung, schaltete auf irgendeinen Sender und starrte auf den flimmernden Bildschirm.
Viel später, als es draußen dunkel geworden war und Ella sich schlaflos im Bett hin- und her wälzte, zog das Gewitter über den Fluss und erste Regentropfen klatschten an ihr Schlafzimmerfenster.