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Gewissensmord
Die Nacht war schwarz wie der Asphalt unter seinen Füßen. Entschlossen ging er über jenen, der lediglich im Schein des Mondes glänzte. Zudem war diese Nacht eisig kalt, sodass die Straßen menschenleer erschienen, jedoch hatte er sich in das nächtliche Dunkel gewagt. Trotz dieser Kälte knöpfte er seinen knielangen und schwarzen Mantel nicht zu. Doch die Kälte konnte ihm nichts mehr anhaben, obwohl diese mit jeder Minute, die er draußen verbrachte immer weiter in ihn eindrang; denn er war selbst schon vor geraumer Zeit eiskalt geworden.
Ein kühler Wind kam auf und blies ihm einige Strähnen vor die Augen. Etwas nervös erhaschte er ab und an einen kurzen Blick über seine Schultern, schlug daraufhin seinen Mantelkragen hoch und senkte seinen Blick. Er fühlte sich verfolgt, auch wenn es keinerlei Annahme dazu gab, dass sich in einer solch kalten und dunklen Nacht noch eine weitere Person draußen aufhielt, geschweige denn, ihm eine weitere Person folgte. Doch auch erwachsene Männer verspüren gelegentlich Angst, gerade im Dunkeln.
Mit jedem Schritt wurden die Gefühle, die allmählich seine Gedanken beherrschten, immer intensiver; Angst, Hass. Von dieser Überwältigung seiner Gefühle verleitet, ließ er das Messer, das im faden Licht der Laternen leicht schimmerte, tanzen. Ein Lächeln haschte ihm über seine trockenen Lippen, als er sich vorstellte, wie sein Leben verlaufen würde, nachdem er diese Tat zu Ende geführt haben wird. Er stellte sich vor, endlich wieder eine Nacht durchschlafen zu können. Seine Augen waren tiefschwarz umrandet und sein Gesicht war blass und eingefallen - man sah ihm an, dass er in letzter Zeit von allerhand Stress und Sorgen geplagt worden sein musste. Denn viele Menschen übersehen, dass es auch dem Täter enorme Qualen bereitet, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Wer könnte sich schon vorstellen, den Rest seines einmaligen Lebens mit dem Wissen, einen anderen Menschen kaltblütig ermordet zu haben, leben zu müssen.
Doch trotz der Angst und der Zweifel, war er entschlossen, es zu Ende zu bringen. Er war es sich selbst schuldig. „Weit kann es nicht mehr sein“, sagte er zu sich, doch wie weit genau sich sein Weg noch erstrecken würde, wusste er nicht. So stark in seine Gedanken vertieft, war er längst nicht mehr fähig, Entfernungen präzise abzuschätzen. Sein Weg führte ihn an einem ziemlich abgelegen, aber genauso schönen Park vorbei. Hier hatte er sie das erste Mal geküsst. Bei dem Gedanken, ihr gleich ein Messer in den Brustkorb zu rammen, wurde ihm übel, denn so sehr er diese Gefühle auch in die entlegensten Ecken seines Bewusstseins verdrängt hatte, konnte er zumindest vor sich selbst nicht verbergen, noch Gefühle für sie zu haben.
Er ging an einer Bank vorbei und erbrach sich wenig später über einem versifften Mülleimer, der neben jener Bank stand. Seine Kräfte schwanden allmählich und er sackte zusammen, konnte sich jedoch noch auf die Bank gleiten lassen. So lag er da und ließ seinen Blick gen Himmel schweifen und ließ sich gleichzeitig in den Bann des wunderschönen nächtlichen Himmels ziehen.
Ein Wimpernschlag fühlte sich so an, als würde er Stunden dauern und sein Herz schlug so laut, dass es die Stimme in seinem Kopf übertönte; er war wie gelähmt. Nun lag er da, auf dieser Bank, den Geschmack von Erbrochenem immer noch im Mund spürend, sein Zeitgefühl schon lange verloren. So konnte er sich später auch nicht entsinnen, wie lange er wohl da gelegen hatte.
Ermüdet vom Alltag und seinem trostlosen Leben, fielen seine schweren Lider zu.
Wie ein Sack, ohne jegliche Körperspannung, rutschte er von der Bank.
Durch das eindringliche Quietschen einer Schaukel wurde er aus dem Schlaf gerissen und fand sich auf dem Rasen, der die Bank umgab, wieder. Das Gras, in welchem er lag, war bereits feucht vom Morgentau und so rannen auch einige Tropfen des Morgentaus seine Jacke hinunter, als er sich aufrichtete. Plötzlich wurde er hektisch und suchte wie ein gehetztes Tier alle seine Taschen durch und beruhigte sich erst wieder, als er das Messer wieder in seinen Händen halten konnte. Nachdem er die Klinge für einen Moment bewundert hatte und seine Finger liebevoll über den Griff hatte gleiten lassen, holte er aus seiner linken Manteltasche ein Leinentuch und wickelte das Messer in dieses und legte es dann behutsam in seine rechte Manteltasche.
„Neben mir ist noch ein Platz frei, also tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte eine zarte Stimme, die irgendwo aus dem Dunkeln hinter einigen Bäumen erklang, von welchen aus auch das Quietschen hörbar war. Er zuckte zusammen, als ihm so bewusste wurde, dass er nicht alleine war. Nach einiger Überlegung, entschloss er sich, der indirekten Bitte dieser ihm fremden Person nachzukommen und sich ihr zumindest zu nähern. Als er an den besagten Bäumen angelangte, schlich er, noch im Schutz der Dunkelheit, um die Ecke und versuchte herauszufinden, wer ihn zu sich gebeten hatte.
Nachdem er etwas näher gekommen war, erkannte er, dass es sich bei dieser Person um ein blasses Mädchen handelte, welches ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein musste. „Was machst du hier um diese Uhrzeit >alleine< im Park?“, fragte er, jedoch nur, weil er sich als anscheinend einzige anwesende erwachsene Person zu dieser Frage verpflichtet fühlte, so verschwendete er nach ihrer Antwort, die „Ich bin doch nicht alleine, Sie stehen doch offensichtlich bei mir“ lautete, keinen Gedanken daran, dieser Aussage ein Argument entgegen zu setzen und so setzte er sich wortlos auf die daneben hängende Schaukel.
„Um auf Ihre Frage zurück zu kommen, ich warte“. Nach dieser Aussage herrschte für lange Zeit absolute Stille, bis sie erneut zu Reden begann, „ich warte hier jeden Tag auf meine Mutter, Stunde um Stunde. Anfangs schaute ich sehr oft auf meine Uhr, um zu sehen, wie lange ich nun schon warte, doch nun vergehen Stunden, ohne dass ich auch nur einen winzigen Blick auf meine Uhr erhasche. Ich würde Wochen, sogar Monate auf sie warten, nur um sie danach endlich wieder in meine Arme schließen zu können – geht es Ihnen da mit Ihrer Mutter nicht ähnlich, ist Ihre Mutter nicht der wunderschönste und liebenswerteste Mensch, den Sie jemals kennengelernt haben?“ Ihre Worte verletzten ihn mehr als ein Messer es je könnte und zwangen ihn, sich daran zu erinnern, dass seine Mutter nie Zeit oder gar Liebe für ihn übrig hatte, so kam es auch, dass sie seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatten. Doch dies ging natürlich nicht spurlos an ihm vorbei, seine Mutter war immer ein äußerst empfindliches Thema gewesen, so sehr hatte er sich ihre Zuneigung gewünscht.
Doch davon abgesehen, wurde er an sein eigenes Kind erinnert, welches er in der Zeit, als er es noch täglich um sich hatte, mit ähnlich viel Liebe großzog wie seine Mutter es tat; Oft fragte er sich, ob er überhaupt fähig war, einen Menschen zu lieben.
Während sie ihm mit glänzenden Augen von ihrer Mutter berichtete, fühlte er sich leer – so, als würde sie all die tief in seinem Unterbewusstsein verscharrten Geheimnis und Ängste herausreißen und ihm erneut vor Augen führen. So sehr er es sich in manchen Momenten auch gewünscht hatte, er konnte ihr nicht antworten. Er war nicht ganz bei Sinnen, sein Verstand wie sein Körper gelähmt.
Um seine Gedanken etwas ordnen zu können, schaukelte er mit der Schaukel kaum merklich etwas vor und zurück. Nach einer Weile tauchte plötzlich ein Mann hinter ihnen auf und legte seine Hände behutsam auf die Schultern des nun stillschweigenden Mädchens. „Was tust du hier? Ich habe dich schon gesucht.“ Sie erhaschte einen kurzen Blick über ihre rechte Schulter, drehte ihren Kopf unmittelbar danach wieder zurück und starrte ohne Fokus ins Leere. „Ich warte auf sie…“. Als sie dies erwidert hatte, rann eine Träne über ihr linkes Jochbein. „Du weißt, dass sie tot ist. Es zerreißt mein Herz sicherlich genauso wie deines, aber dein Leben sollte weitergehen. Du bist noch so jung.“ Nachdem er seine heilenden Worte beendet hatte, blickte sie in den Himmel und sagte lediglich „womit habe ich das verdient?“ Und auf einmal wurde ihm bewusst, dass ihn eben dieses Mädchen an seinen Sohn erinnerte, ihre Art, sich auszudrücken, ihre kalten, doch zugleich unbeschreiblich schön schillernden Augen;
Er fuhr hoch. War das, was er unmittelbar bevor durchlebt hatte überhaupt real? Er konnte nicht denken, seine Gedanken nicht kontrollieren, ihm war, als hätte er sich am Vorabend zu einem Schuss Rum zu viel überreden lassen.
An dieses Gespräch würde er sich später noch wiederholt erinnern, schlichtweg, da dieses Gespräch ihm so unfassbar wirklich vorkam, doch entgegen seines Gefühls, entsprang das Mädchen, und damit auch das, was sie sagte, vollkommen seiner eigenen Phantasie.
Dieses Mädchen hatte in ihm, auch wenn es nicht einmal existierte, etwas Wesentliches verändert; er hatte das erste Mal erfahren, was die bedingungslose Liebe zu einer Mutter bedeutet. Das erste Mal zweifelte er ernsthaft an seinem Vorhaben. Er fragte sich, ob er überhaupt das Recht habe, einen Menschen, gar eine Mutter zu töten. Menschen sollten nicht versuchen, Gott zu spielen. Niemand hat das Recht, das Leben eines anderen zu beenden.
Doch etwas in ihm schien förmlich blind zu sein, er wollte nicht zur Einsicht kommen, um keinen Preis. Er tastete in seiner Tasche nach dem Messer und blickte, als er es spüren konnte, entschlossen in Richtung Norden. Als er wieder auf der Straße angelangt war, fühlte er sich wie neu geboren, der Schlaf hatte seinem Gemüt deutlich zur Besserung verholfen.
Nun, als er seinen Marsch fortsetzte, schien es fast so, als wäre er glücklich, als hätte er es schon getan. Ein zaghaftes Lächeln haschte für einen kurzen Augenblick über sein trostloses Gesicht. Doch natürlich war ihm ebenfalls bewusst, dass er das grauenvollste noch vor sich hatte: Er musste der Frau, die er einst liebte und es, so ungerne er es auch wahr haben wollte, immer noch tat, das Leben nehmen. Was mag einen Menschen bloß zu solch einer Tat treiben;
Auf seinem schier nicht enden wollenden Weg, erblickte er die Schönheit dessen, was ihn umgab; das nahezu schwarze Blau des Himmels, das Glitzern des von Morgentau befeuchteten Asphalts; dies waren einige der Momente, in welchen er alles um sich herum vergaß und mit jedem Atemzug wieder annähernd spüren konnte, dass er lebte. Doch er fing sich wieder, denn er hatte keine Zeit zu verlieren. Auf seinem Weg hatte er sich des Öfteren gefragt, wieso er diesen Weg zu Fuß angetreten hatte, doch diese Frage konnte er sich selbst recht schnell beantworten; er hatte sich seinen epischen Marsch bereits zuvor vorgestellt und befand ihn einer solchen Tat als würdig.
In der Ferne konnte er ein Mehrfamilienhaus erahnen, es war ihr Haus.
Nun, als er diese graue Betonruine vor sich sah, verspürte er wieder Zweifel. Das Mädchen, welches ihm scheinbar im Traum von seiner verstorbenen Mutter erzählt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Ihre Augen; Seine Zweifel plagten ihn, aber er ging weiter, immer weiter, so als hätte er die Kontrolle über die Füße, die ihn trugen, verloren. Und tief im Inneren wusste er, dass er es nicht übers Herz bringen könnte, sie umzubringen, doch diesen Gedanken verdrängte er in die letzte Ecke seines für ihn zugänglichen Bewusstseins.
Mit jedem Schritt wurden seine Gefühle immer verstrickter und intensiver.
Bald würde er das Haus, in welchem sie lebte, erreicht haben, doch dieser Gedanke beruhigte ihn in keiner Weise. Es machte ihn regelrecht panisch.
Er war jetzt nur noch einhundert Meter von ihrem Haus entfernt; nahezu gleichzeitig durchbrach der Sonnenaufgang das dunkle blau des früh morgendlichen Himmels und schon bald darauf schien es so, als würde das trostlose Mehrfamilienhaus in einem satten orange glühen. Er blickte auf gen Himmel und nickte dann entschlossen als sein Blick sich wieder senkte. Nun hatte er seine Entscheidung getroffen.
Als er ihr Haus erreicht hatte, wurde er von der Masse der Klingelschilder und Briefkastenschlitze förmlich erschlagen, doch er wusste, nach welchem Namen er suchen musste, nämlich nach seinem eigenen – sie war noch immer seine Frau. Er drückte nun auf die Klingel und wartete. Wenig später ertönte eine schwache Frauenstimme aus der Gegensprechanlage, welche sich erkundigte, wer geklingelt habe. „Ich bin es“, antwortete er scheinbar emotionslos. Sie überlegte kurz, doch kurz darauf ertönte das typische elektrische Dröhnen und er lehnte sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen die Tür, um sie zu öffnen.
Nachdem er eingetreten war, nahm er entschlossenen Schrittes die erste Treppenstufe; die nächsten folgten. Interessanterweise, ordneten sich seine Gedanken mit jeder Stufe immer weiter, bis er beinahe wieder klar denken konnte. Seine Schritte klangen entschlossen und rhythmisch, die einzige Ausnahme war das leichte Schlurfen seines Absatzes auf den Wendungen des Treppenhauses. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, sodass er diese bereits nach kurzer Zeit erreicht hatte.
So stand er nun da, vor ihrer Wohnungstür und blickte verunsichert um sich. Danach hämmerte er entschlossen mit seiner Faust auf die dünne und hölzerne Tür ein. „Mach auf“, sagte er „Ich bezahle schließlich immer noch deine Miete.“ Dazu war es gekommen, weil beide sich außergerichtlich einigen wollten. Deshalb zahlte er, als der, mit dem höheren Einkommen, ihre Miete.
Ob sie diesem Mann wirklich noch einmal die Tür öffnen sollte, wusste sie nicht recht, jedoch schwelgte sie für einen kurzen Augenblick in glücklichen Erinnerungen mit ihm und entschied sich deswegen, ihm die Tür zu öffnen.
Er trat ein und streifte seine Schuhe mit dem jeweils anderem Fuß am Eingang aus, danach schloss er die Tür hinter sich. Einige Minuten später hörte man zersplitterndes Glas. Es rann blutrot über ihre Küchenfliesen.
War es nun vollbracht?
„Das tut mir wirklich leid. Soll ich dir ein neues Glas Wein einschenken?“, fragte sie und er erwiderte ein knappes „Ja, bitte.“ ; Ihnen beiden war klar geworden, dass sie nicht mit, jedoch vor allem nicht ohne den jeweils anderen auskommen können, deshalb begannen sie ein klärendes Gespräch, um die Schatten der Vergangenheit zu beseitigen.