Gewichtige Weihnachten
Ich esse gerne und ich habe immer gerne gegessen. Klingt einfach und konstant. Dahinter stehen aber Talfahrten und Abgründe. Konnte ich als Kind unbeschwert essen? Soweit ich mich erinnere ja. Darum war ich immer etwas pumelig. Ich ass einfach. Ich ass, was man mir angeboten hat. Der Begriff Allesesser trifft zu. Und wenn ich das Gemüse doch nicht wirklich gerne hatte, dann habe ich es einfach so schnell wie möglich runtergeschluckt. Das Gemüse war Pflicht am Mittagstisch. Meine Geschwister verstanden das nicht so. Regelmässig stritten sie sich deshalb mit der Mutter und regelmässig gewannen sie den Kampf. Mit der Zeit kann ich den Ausgang des Gesprächs sowieso. Mich hat es einfach nur gestresst. Das Essen beruhigte mich.
Im Verlauf der Zeit oder als ich meiner Mutters Vorstellung von Dünnsein nicht mehr entsprach, haben die Zurechtweisungen angefangen, als ich mir das Essen ein zweites Mal schöpften wollte. Warum war es plötzlich falsch, wo ich früher doch nicht einfach einen Bissen habe stehen lassen dürfen? Ich war noch nicht satt, auch wenn meine Mutter anderer Meinung war. Die Folge waren Gewissensbisse, wenn ich dennoch weiter ass.
Dass Mutter eine Essstörung hat, habe ich erst Jahre später realisiert. Dennoch habe ich es unbewusst viel früher mitbekommen. Ich habe Erinnerungen daran, dass ich gegessen habe um meiner Mutter aufzuzeigen, dass sie nicht Angst vor dem Essen haben musste und essen soll. Es hat funktioniert. Wenn ich das Doppelte ass, getraute sie sich mehr zu essen. Der Mechanismus hat sie später übernommen. Sie animierte mich zum Süssigkeiten essen, damit sie selber welche essen konnte. Natürlich in reduzierter Form. Sicher nicht so wie ich! Ihre eigenen Schuldgefühle waren beruhigt. Sie hatte mich als eine Ko-Abhängige.
Das Resultat dieser Jahre war, dass ich das Gefühl bekommen habe, dass ich ein Schwergewicht sei. Effektiv habe ich auch in meinen dicksten Phasen nie den BMI einer Normalgewichtigen überschritten. Als dann das Weihnachtsgeschenk vom Vater eine Personenwaage unter dem Weihnachtsbaum lag, war es im wahrsten Sinne des Wortes eine Bescherung. Einer nach dem anderen musste auf die Waage stehen. Ich war die Schwerste. Die Worte, die folgten und trösten sollten, waren furchtbar. Übersetzt kamen sie nämlich so an. Du bist zwar fruchtbar dick, aber es ist nicht so schlimm. Ich beschloss noch an diesem Abend abzunehmen und verzichtete auf den darauffolgenden Nachtisch.
Die nächsten Tage ass ich einfach weniger von dem, was als Ungesund galt. Das war mein Abnehmrezept. Die Bemerkung, dass, wenn man abnehmen will, weniger als tausend Kalorien essen sollte, führte mich in den Abgrund. Ich war oft müde und hatte schnell kalt. Meine Schulkollegen lobten mich hingegen für meine neue Figur. Plötzlich war ich jemand.
Ein paar Wochen später war mir einmal so kalt, dass ich meine Hände nicht mehr spürte, was mir Angst machte. Ich fing an zu weinen. ,,Selber schuld, wenn du so wenig isst’’, schrie meine Mutter mich zusammen. Also hatte ich wieder alles falsch gemacht. Die Tatsache, dass an jenem Tag Minustemperaturen geherrscht haben und ich während Stunden draussen gewesen bin, wurde ignoriert. Essen sollte ich also nun wieder, was ich tat. Unkontrolliert und grosse Mengen. Der nächste Tadel kam dann auch umgehend. Den ganzen Kühlschrank leerzuessen! Es war eine masslose Übertreibung, aber ich hatte Hunger und Appetit. Hinterher habe ich einmal versucht zu erbrechen, so wie Mutter es mir einst gelehrt hatte, als mir übel war: Ich solle mir den Finger in den Hals stecken. Woher wusste sie das so genau, wenn sie es nicht selber schon gemacht hatte? Aber nach dem einen Versuch liess ich es sein, respektiv ich verbot es mir. Die körperlichen Schäden wären zu gross.
Darauf folgten Jahre im Wechselbad. Ich hatte einen Anteil, der eher zu wenig ass, und einen anderen Anteil, der das einfach nachholen musste. Bis sich diese beiden Seiten zu einem Essen nach Lust und Laune entwickelt hatte, brauchte Zeit. Weihnachten steht bevor: Ich entscheide alleine was und wie ich essen werde!