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Gewalt
Am ersten Tag hörte Steffen den Wecker erst einige Sekunden nachdem er angesprungen war. Das metallische Kratzen des kleinen Lautsprechers erzählte von neuen terroristischen Aktionen in Bagdad, gab Staumeldungen durch und gratulierte Prominenten und solchen, die es gerne wären. Am Vorabend hatte er genau überlegt, wie er sich in kürzester Zeit für die Uni fertig machen könnte, doch dieser Plan war schon gescheitert, denn die roten Zahlen des Weckers zeigten nicht mehr die gewollten 7 Uhr, sondern bereits zehn weitere Minuten. Er hastete in die Dusche, kleidete sich an und fuhr ohne ein Frühstück los, denn er wollte nicht bereits am ersten Tag zu spät kommen.
Einen Monat später öffneten sich Steffens Augenlider bereits einige Minuten, bevor der Wecker seine ersten Töne von sich gab.
Im zweiten Semester wachte er auch an Wochenenden um 7 Uhr auf und er begann bereits dieses kaum wahrnehmbare elektrische Summen zu hören, dass einsetzte bevor der Wecker das Signal bekam den Radioempfang einzustellen.
Im dritten Semester schwoll das elektronische Summen zu einem Kreischen an, dass in seinem Kopf widerhallte, bis es die neusten Unglücksnachrichten vertrieben.
Er stellte den Wecker aus, denn er konnte es nicht mehr ertragen. Langsam wurde ihm alles zuviel. Er hatte Stress in der Universität, weil er nicht mitkam. Er fühlte sich den anderen unterlegen und seine Freundin hatte ihn verlassen. Alles auf dieser Welt schien sich gegen ihn zu richten und bald hatte er das Gefühl mit sich und der Situation nicht mehr zurechtzukommen. Ohne ein Ventil drohte sein Verstand zu kippen, denn selbst ohne Strom gab der Wecker wenige Sekunden vor 7 Uhr ein lautes, verstörendes Summen von sich.
„Du mieses kleines Arschloch. Glaubst du wirklich, du könntest hier einfach so reinmarschieren, meine Freundin angraben und wieder verschwinden!“
Auf Steffens Gesicht zog sich eine Lachfalte in die Länge, denn er hatte gefunden, wonach er schon den ganzen Abend gesucht hatte. Es wäre wohl sein letzter Versuch gewesen und hätte dieser nicht funktioniert, dann hätte der Abend wohl mit einer leeren Brieftasche geendet. Er hätte nämlich seine Befriedigung auf andere Weise erlangen müssen. Jede Menge Bier und vielleicht noch eine dieser Schlampen, die hier wie am Fließband rauf und runter liefen. Immer auf der Suche nach irgendeinem Stecher, den sie für eine Nacht glücklich machen konnte; natürlich nur, wenn er als Gegenleistung auch das ein oder andere springen ließ.
Im Hintergrund dröhnten die Bässe aus den Boxen und der Rhythmus der treibenden elektronischen Klänge ging langsam in ihn über, als sich die Aggression zwischen ihm und seinem Gegenüber wie ein Gewitter aufbaute.
„Wie hast du mich genannt? Du dämlicher Wichser! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich auf so eine Nutte wie deine Freundin stehe, oder? Behalt sie ruhig! Schließlich zahlst du ja auch dafür.“
Die Lippen des schwarzhaarigen Mannes verzogen sich zu einem blutleeren Strich und mit einem gewaltigen Satz ging er auf Steffen zu. Man sah, wie alle Hemmungen fielen und nur noch die Wut sein Handeln steuerte.
Hände griffen nach seinen Schultern und Arme schlangen sich um seine Hüften.
„Hey, hey. Macht mal keinen Stress hier Leute!“ rief einer aus dem Hintergrund, der auch nach dem schwarzhaarigen gegriffen hatte.
„Wenn ihr euch unbedingt auf die Fresse schlagen müsst, dann macht das draußen.“
Steffen beobachtete, wie der Wille der Konfrontation langsam wich. Er sah es in seinen Augen und an seiner gesamten Körpersprache, doch er hatte bereits ein neues Opfer im Blick. Und wenn alles gut laufen würde, dann hatte er bald sogar eine Massenschlägerei. Der perfekte Ausklang für ein perfektes Wochenende.
„Und was willst du jetzt, du schwule Sau. Mach mal hier keinen auf Anstandsdame, sonst nehm ich dich mir auch noch vor!“
Steffen schrie jetzt, denn er wurde langsam müde. Es war schon spät und am nächsten Morgen musste er früh aufstehen, denn er hatte eine wichtige Vorlesung, an der er unbedingt teilnehmen musste. Doch bevor dieser Abend zu Ende ging, wollte er auf jeden Fall noch seinen Spaß haben. Ein wenig Ablenkung vom Alltag.
Der Junge guckte Steffen verwirrt an und sein Gesicht ging in einem wandernden Lichtkegel der Diskobeleuchtung unter. Steffen sah aber noch, wie sich seine Hand und die der anderen von dem schwarzhaarigen entfernten und ihn frei ließen. Er machte sich bereit und nach wenigen Sekunden war der Kerl bei ihm. Er holte weit aus und traf ihm direkt am Ohr. Es gab einen mächtigen Knall in seinen Ohren und die Welt schien nur noch aus einem weißen Rauschen zu bestehen. Der Urknall seiner eigenen Befreiung und er wusste um den weiteren Verlauf. Steffen lächelte. Er war glücklich und er versank in seiner eigenen Aggression, wie in einem See, dessen tiefe Wasser ihn immer weiter nach unten zogen. Er schlug und trat um sich, während er den Blick für alles um ihn herum verlor. Er bestand nur noch aus Aktionen und Reaktionen. Schmerz und Konsequenzen waren egal, denn schließlich wollte er leben und leben konnte man nur, indem man sich sich selbst und seinen Gefühlen völlig hingibt.