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Gevatter Mond
Gevatter Mond
Horch! Ein kalter Wind fährt durchs Gemäuer, und das dürre Gras gilbt vor sich hin. Eine schorfige Wunde bedeckt den kalten Stein, und vom Himmel her grinst der Mond. „Wohin des Wegs, Gevatter?“ frage ich den Mond, und er antwortet: „Heute abend bin ich auf Brautschau. Anmutig soll sie sein, meine Braut, und ihr Lächeln soll meine Einsamkeit vertreiben. Doch stelle ich folgende Bedingungen: sie darf, wie ich, nur ein Auge besitzen, und ihre Seele muß sie, bevor sie sich mit mir vereint, an den Manne verloren haben, der sie auf Erden am meisten geliebt.“ Ich drehe mich um und mustere mein schweres Gepäck, das ich hierher getragen und abgestellt habe. Durch viele Länder bin ich gereist, und viele Dinge haben sich angesammelt, ein Ding seltsamer als das andere. Ein Uhu mustert mich vom Turme herab, ich nicke zu ihm hoch, denn einst haben wir ein gutes Geschäft abgeschlossen. Der Uhu fliegt davon und nimmt das letzte Geräusch mit sich. Oft treffe ich alte Freunde an den eigenartigsten Orten.
„Gevatter Mond, vielleicht habe ich, was Ihr braucht. Wollt Ihr mir nicht sagen, was Ihr zu zahlen bereit wärt?“ Auch er ist ein alter Freund. Wie oft saß ich schon am Lagerfeuer und plauderte mit ihm, sah ihn wachsen, sah ihn schwinden. Der Mond hat einen seltsamen Humor und ist durch und durch verdorben, aber was schert es mich? Ich handle auch mit dem Tod und habe es noch niemals bereut. „Nun, Euer Beutel ist voll, Euer Herz aber ist leer. Als Händler seid Ihr weit gereist, doch mangelt es Euch an wahren Freunden, wie ich es einer bin. Besorgt Ihr mir eine Braut, so werde ich Euch einen Freund verschaffen, der Euch nie wieder von der Seite weichen wird, komme was wolle. Einen Freund, der, egal wie schlecht Ihr ihn behandelt, Euch niemals untreu werden wird. Dies ist mein Angebot.“ Der Mond ist eine gerissene Person. Er schaut tiefer in einen hinein, als man es sich wünschen könnte. Was brauche ich Dukaten, Perlen, teures Gewürz oder Duftwerk? Auch der Weibsbilder habe ich schon genug gehabt, und stets hat sie mir der Tod in barer Münze bezahlt. So antworte ich: „Gevatter Mond, ich schlage ein. So bezahlt mir Liebe mit Treue, und ich will damit zufrieden sein.“
Ich öffne mein Gepäck und ziehe ein Buch hervor, zwischen dessen Seiten zahlreiche getrocknete Blüten aus aller Herren Länder gepreßt sind. „Hier, dies ist meine Fibel der Anmut. Sucht Euch Eure Braut heraus, Ihr werdet kaum eine schönere Auswahl finden. Schaut, wie all diese prächtigen Jungfern Euch mit ihrem einen Blütenauge anlächeln, und ihre Seelen haben sie allesamt bereits verloren, nämlich an mich, der ich jede einzelne Blüte für jede einzelne meiner Geliebten gepflückt und getrocknet habe. Und so wie ich jede einzelne meiner Geliebten auf Erden am meisten geliebt habe – denn mit meiner Liebe kam ihr Tod – so liebte ich auch diese Blüten, die ich für sie gebrochen habe. Alle Eure Bedingungen, Gevatter Mond, sind erfüllt.“
Ich schaue dem Mond ins Antlitz und freue mich, ein so gutes Geschäft abgeschlossen zu haben, da dröhnt der Gevatter: „Händler, Euch ist nicht zu trauen. Diese getrockneten, toten Wesen haben tatsächlich keine Seele mehr, aber das entspricht nicht dem, was ich mir gewünscht habe. Dennoch möchte ich meinen Teil des Handels erfüllen, obgleich Ihr mich betrogen habt. So gebe ich Euch an Eure Seite den treuesten Begleiter, den ich kenne: die Angst. Nie wieder sollt Ihr in der Lage sein, einen falschen Handel mit mir abzuschließen, weil Euch, sobald Ihr Euch unter freiem Himmel aufhaltet, panische Furcht und grauenhafter Schrecken packen wird. Nie wieder möchte ich einen Blick auf Euch werfen müssen, nie wieder werdet Ihr in die Verlegenheit kommen, mir einen Gruß entbieten zu müssen. Doch weil wir einst Freunde waren, gewähre ich Euch ein letztes Geschenk: heute Nacht sollt Ihr noch unbehelligt sein. Genießt ein letztes Mal den Anblick des gestirnten Himmels, fühlt, wie die Weite der Nacht Einzug in Eure Seele hält. Bewahrt diese Erinnerung gut, sie ist das einzige, was ich Euch noch gewähren kann. Wenn Ihr weise seid, so könnt Ihr ein Leben lang von dieser Erinnerung zehren. Gehabt Euch wohl.“