Mitglied
- Beitritt
- 06.10.2017
- Beiträge
- 431
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Getroffen
Immer, wenn sich die Tür mit einem altmodischen Klingeln öffnete, wurde ein Luftzug in den Laden geweht, eine Erinnerung an die Welt da draußen, in der es langsam kühler wurde.
Doch wenn sich die Tür schloss, wurde dieser Lufthauch sofort aufgesogen und in Vergangenheit umgewandelt von den Tausenden Büchern, die sich in deckenhohen Regalen drängten und in Türmen entlang der Wände stapelten.
Sie saß in einem dieser bequemen, abgewetzten Sessel, in einer Nische schräg gegenüber dem Eingang. Ein schwerer Bildband lag auf ihren Knien, in dem sie von Zeit zu Zeit blätterte, aber eher benutzte sie ihn als Vorwand, hier zu sitzen. Alte Buchläden, fand sie, hatten überall auf der Welt etwas Magisches an sich. Egal, in welchem Land sie sich befand, in welchen Sprachen die Geschichten erzählt waren, die hinter den Buchdeckeln warteten, egal, ob sie überhaupt die Schriftzeichen über der Eingangstür entziffern konnte – in dieser einmaligen Atmosphäre fühlte sie sich sofort wohl und überall zuhause. Es roch auch hier nach altem Papier, gedruckten Buchstaben, Staub und nach der Abwesenheit von Tageslicht, und wenn man die Augen zusammenkniff und durch den Raum blinzelte, fiel die Vorstellung nicht schwer, sich in einem beliebigen Jahrzehnt der letzten dreihundert Jahre zu befinden.
Sie sah sich selbst, jünger, als sie einen ähnlichen Laden in London betrat. Doc Martens an den Füßen und den Kragen ihres langen Ledermantels hochgeschlagen. Wahrscheinlich umweht von dieser faszinierend widersprüchlichen Aura aus Coolness und Unsicherheit, die sie heute manchmal bei jungen Menschen wahrnahm.
Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte, doch als sie es gefunden hatte, war sie fassungslos vor Glück. Es sollte ein Geschenk werden. Es war eine signierte Erstausgabe von Bob Dylan. Writings and Drawings. Es war ein Schatz, und bis sie das Buch an der Kasse bezahlt hatte und auch noch dann, als sie es schon sicher in ihrer Tasche verstaut hatte und damit den Laden verließ, rechnete sie damit, dass sich eine schwere Hand von hinten auf ihre Schulter legen würde. Dass jemand sagen würde, sie wäre nicht befugt, dieses Buch zu kaufen.
Aber das passierte nicht.
Wie lange war das her? Dreißig, fünfunddreißig Jahre …
Sie sah durch die Glasscheibe des Eingangs, dass draußen eine junge Frau mit dunkelrotem Haar versuchte, die Tür zu öffnen. Es gelang ihr nicht gleich, weil sie dagegen drückte, anstatt zu ziehen, aber sofort war ein weißhaariger Herr zur Stelle, vermutlich der Ladeninhaber, und öffnete ihr die Tür. Er begrüßte sie wortreich und stellte sich vor, Charles. Auch die junge Frau, der ihr Ungeschick peinlich zu sein schien, nannte ihren Namen, aber sie konnte ihn in nicht verstehen. Sie war fasziniert von der Haarpracht dieses Mädchens. Wie fallendes Herbstlaub, dachte sie, wie der Indian Summer in Kanada. Sie fuhr sich mit den Fingern über ihren eigenen Kopf, aschblondes Stoppelfeld, dachte sie, aber sie dachte es ohne Neid, denn sie wusste, dass es genau so zu ihr passte.
Die junge Frau verschwand zwischen den Regalen und sie selbst widmete sich erneut dem Buch auf ihren Knien. Sie könnte spazieren gehen, dachte sie. Sie war neu in der Gegend, hatte die Wohnung erst vor zwei Tagen bezogen. Seit Walters Tod, und nachdem Cathy nun in einer WG wohnte, gab es keinen Grund mehr, die große Wohnung zu behalten. Vun war hier ihre neue Bleibe, in einem anderen, ihr unbekannten Teil der Stadt, den sie nun Schritt für Schritt erkunden würde.
Irgendwo, im Labyrinth der Holzregale, musste jemand niesen. Irgendwo, aus einer anderen Richtung, kam ein dumpfes „Gesundheit!“
Sie betrachtete den Ladeninhaber, der an der Kasse stand und mit einem Kunden redete. Charles.
Er hatte dichte, weiße Haare, einen Vollbart, trug eine zerbeulte Cordhose und ein Holzfällerhemd – ein richtiger Großvater, dachte sie, runzlig wie ein alter Apfel. Aber die Augen, das hatte sie gesehen, als er damit das Herbstlaubmädchen angeblitzt hatte – die Augen waren noch jung.
Es sollte hier einen kleinen Park geben, dort würde sie beginnen.
Das helle Licht ließ sie blinzeln, als sie vor den Laden trat, und eine Windböe vereinte Straßenstaub mit Papierfetzen und Laubblättern zum gemeinsamen Tanz. Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, entdeckte sie dieses Café, Eleanors. Tom hatte ihr davon erzählt, Cathys neuer Freund. Sie hatte ihn vor kurzem kennengelernt, als sie Cathy besuchte. Er kannte diese Ecke der Stadt wohl sehr gut, und wenn es stimmte, was er sagte, gab es im Eleanors den "stärksten Espresso ever". Sie mochte Tom und sie freute sich für Cathy. Er hatte Humor, aber ein ernstes Wesen, und er sah erst auf den zweiten Blick gut aus. Aber dann richtig.
Es war nicht schwer, den kleinen Park zu finden und sie staunte über die vielen alten Bäume mitten in der Stadt. Trotz des lichter werdenden Laubes dämpften sie immer noch die Geräusche der Autos, und das feuchte, modernde Laub, das bereits am Boden lag, verteilte eine trotzige Prise Naturaroma in die abgasgeschwängerte Luft. Eine Kastanie fiel zu Boden und landete direkt vor ihren Füßen.
Sie stellte den Kragen ihres Mantels auf und lief zügig weiter.
So hatten sie sich kennengelernt.
Es war schon fast dunkel, es war stürmisch und es fing an, zu nieseln.
Trotzdem wollte sie nach diesem langen Tag an der Uni noch eine Runde durch den Hyde Park drehen, um das Gelernte im Kopf mit etwas Sauerstoff anzureichern.
Es waren nur wenige Menschen unterwegs und der Sturm fetzte links und rechts von ihr Kastanien von den Bäumen, die auf den Boden einschlugen wie kleine Granaten. Sie stellte den Kragen ihres Mantels auf, zog die Schultern hoch und lief zügig durch die Allee wie ein zu allem entschlossener Soldat. Ein einzelner Spaziergänger kam ihr entgegen, und als sie schon fast aneinander vorbeigelaufen waren, traf eine Kastanie genau auf ihren Kopf. Er blieb erschrocken stehen und schien besorgt zu sein, aber als er merkte, dass sie lachen musste, lachte er auch und machte Witze, bot ihr an, sie in ein Lazarett zu bringen mit diesem Kopfschuss. Er hatte schwarze Haare, die vom Wind immer wieder zu neuen bizarren Formationen geweht wurden, und er hatte die Jackentaschen voller Kastanien. Wozu er die sammle, hatte sie gefragt.
Sie seien zu schön, um sie liegenzulassen, hatte er geantwortet.
Als sie schließlich weiterlaufen wollte, änderte er kommentarlos seine Richtung und seitdem gingen sie zusammen weiter.
Der kleine Park gefiel ihr, sie war schon jetzt sicher, dass er ihr Lieblingsplatz sein würde, wann immer sie Luft brauchte.
Für den Rückweg nachhause, welches sie noch nicht Zuhause nannte, ließ sie sich viel Zeit. Sie kaufte ein Sandwich und verzehrte es langsam, während sie sich kreuz und quer durch die Straßen treiben ließ. Straßen mit Kneipen und Bistros und mit kleinen Läden, die einer nach dem anderen krachend ihre Rollläden herunterließen, als es langsam dunkel wurde. Mit einem Pling gingen die Straßenlaternen an und eine aufgescheuchte Fledermaus flatterte vorüber.
Sie schaute neugierig durch das große Schaufenster vom Eleanors, als sie wieder davorstand. Das Café sah wirklich sehr einladend aus. Dezentes Licht, Möbel ohne Schnickschnack, kleine Tische mit Kerzen, witzige Zeichnungen an den Wänden, soweit sie das erkennen konnte. Stylisch, wie Cathy sagen würde. Es war voll, und am Tisch gleich vorne am Fenster erkannte sie das Herbstlaubmädchen aus dem Antiquariat wieder. Sie war mit einem Jungen zusammen, den sie gut zu kennen schien - sie wirkten sehr entspannt und vertraut miteinander und unbewusst freute sie sich darüber. Sie ging schnell weiter, weil sie die beiden nicht länger anstarren wollte, aber sie hatte auch in diesem kurzen Moment wahrgenommen, wie gut der Junge aussah. Der ist wirklich heiß, dachte sie und dann musste sie lachen. „Nicht ganz deine Altersklasse!“, sagte sie halblaut in die herbstfeuchte Dunkelheit hinein, während sie ihre neuen Wohnungsschlüssel aus der Tasche nahm.
Er war älter als sie, mehr als zehn Jahre, aber für keinen von beiden spielte das eine Rolle. Er konnte alberner sein als ein Teenager und herzhafter lachen als die meisten Menschen, die sie kannte – doch genauso traurig konnte er schweigen, wenn etwas wirklich traurig war. Sie fanden viele Gemeinsamkeiten, und dort, wo keine waren, entstand ein Knistern, an welchem sie sich erhitzten und warm hielten. Er kannte die Stadt, aus der sie kam, hatte dort selbst für einige Zeit gelebt, und sie tauschten ihre Erinnerungen an Plätze und Kneipen und lokale Berühmtheiten aus, die sie zeitversetzt im Abstand eines Jahrzehnts für sich entdeckt hatten, und während sie darüber sprachen, fühlte es sich an wie etwas gemeinsam Erlebtes. Er war ein glühender Fan von Bob Dylan, er wusste alles über ihn und konnte aus dem Kopf sämtliche Songtexte Wort für Wort wiedergeben, nur singen konnte er nicht. Er sah auf eine etwas abgerissene Weise gut aus.
Mit seinen zotteligen schwarzen Haaren und den schlaksigen Bewegungen wirkte er zuweilen wie ein zu groß geratener Riesenschnauzer.
Das Gefühl, noch nicht in ihr neues Zuhause zu gehören, versuchte sie, vor der Wohnungstür zu lassen.
Sie leerte ihre Manteltaschen und legte ein paar Kastanien aufs Fensterbrett. Sie eroberte ihr Badezimmer, sortierte Handtücher, Cremes, Parfüm und Seifen in Schränke und Regale und dann duschte sie ausgiebig. Nach dem langen Spaziergang in der abendlichen Kühle war sie ziemlich durchgefroren. Minutenlang stand sie unter dem heißen Wasserstrahl, ohne sich zu rühren. Dampfiger Vanilleduft erfüllte den Raum und schob sich wie ein Vorhang zwischen sie und alle Realitäten, die dahinter liegen könnten. Irgendwann rubbelte sie ihren Körper und die kurzen Haare trocken und cremte sich sorgfältig ein, doch als ihr Blick auf die Zehennägel fiel, deren roten Lack sie schon lange nicht mehr erneuert hatte, hörte sie auf und zog sich schnell ein paar graue Wollsocken an. Stumpf, abgeblättert und rausgewachsen – definitiv Herbst, dachte sie.
Die Socken hatte ihr ihre Freundin Christin geschenkt. Christin war schon seit zwei Jahren Oma und hatte im Sockenstricken offensichtlich ihre neue Erfüllung gefunden.
Die Suche nach ein paar bequemen Kleidungsstücken in ihrem Umzugschaos gestaltete sich etwas schwierig, aber dann fiel ihr dieser grasgrüne Overall in die Hände. Er hatte Cathy gehört und wurde nach derzeitiger Mode Onesie genannt. Cathy fand ihn inzwischen hässlich, und als sie weggezogen war hatte sie ihn einfach dagelassen. Sie selbst fand ihn in der Tat schon immer hässlich, aber bei ihrem eigenen Umzug hatte sie Mitleid mit ihm bekommen und nun war er also hier. Sie probierte ihn an und fühlte sich zugegebenermaßen ganz wohl darin. Er war weich und bequem und er roch nach Cat. Außerdem erfüllte es sie mit einem gewissen Stolz, in ein Kleidungsstück ihrer schönen, schlanken Tochter zu passen. Auch wenn es eigentlich ein Sack ist, dachte sie und grinste schief in sich hinein.
Sie setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen. Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel. Das Licht, dass durch die meisten Fenster auf der anderen Straßenseite drang, war der kalte, blaue, zuckende Schein von Fernsehbildern, einige Zimmer waren hell erleuchtet und in einem konnte sie das unregelmäßige Flackern von Kerzenlicht wahrnehmen. Ein Moped knatterte laut vorüber und blieb dann ganz plötzlich stehen. Der Motor wurde abgestellt – ein Pizzalieferant, der zwei Kartons in das Haus gegenüber brachte. Als ihr Tee fertig war, setzte sie sich damit auf die Couch und schaltete den Fernseher an, aber gleich darauf stellte sie ihn wieder aus und legte stattdessen eine CD ein. Die Stimme von Tom Waits schepperte aus den Lautsprechern und versuchte, die neuen, glatten Wände ihrer Wohnung mit einer kratzigen Patina zu überziehen.
Sie nahm sich einen Umzugskarton und begann, ihr Bücherregal einzuräumen.
Irgendwann hielt sie inne und ließ die Seiten eines Buches zweimal schnell durch ihre Finger flitzen wie bei einem Daumenkino. Ruf der Wildnis. Vielleicht sollte ich jetzt einfach schlafen gehen, dachte sie, müde und erschöpft von ihrer eigenen Ruhelosigkeit. Sie formierte die Kastanien auf dem Fensterbrett zu einem Kreis. Waltzing Matilda, sang Tom Waits, und in der Wohnung schräg gegenüber flackerten noch immer die Kerzen.
Die Kerzen flackerten unregelmäßig und warfen Schatten an die Wände. Es waren Kerzen in verschiedenen Farben und Größen und Formen und in den unterschiedlichsten Stadien des Heruntergebranntseins. Sie standen auf einem Tablett mitten in seinem Zimmer auf dem Boden, und sie beide saßen auf einer Decke davor. Es gab nur einen Stuhl in seinem Dachzimmer, so wie es hier überhaupt nur das Nötigste gab. Die Möbel hatte er aus ungehobelten Brettern selbst zusammengebaut – ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein kleines Bücherregal. Seine Kleidung hing an Haken von den Dachbalken herab, in der Ecke stand ein Plattenspieler, auf dem Bob Dylan seine Runden drehte wie ein unermüdlicher Langstreckenläufer, und überall auf dem Boden waren Gläser, Schüsseln und Schalen verteilt, in denen sich all jene Kastanien tummelten, die in diesem Herbst Asyl in seinem Zuhause gefunden hatten. Auch die Zwischenräume auf dem Kerzentablett waren mit Kastanien gefüllt, und einige lagen einfach auf den Dielen. Sie hatten eine Flasche Rotwein geöffnet und schauten den Flammen beim Tanzen zu, sie sprachen über alles, was gewesen war und über alles, was noch sein würde. Sie legte ihren Kopf auf seinen Schoß und fast war es, als wären die Kerzen auf dem Tablett ein Lagerfeuer, sie saßen vor ihrer Blockhütte mitten in den Wäldern, und die Jacken und Hemden, die von der Decke hingen und sich im warmen Lufthauch der Kerzen leicht bewegten, waren die Zweige der Bäume, und die senkrechten, hölzernen Stützbalken des Daches waren die Baumstämme. Ein paar Kastanien waren heruntergefallen, das Feuer knisterte und Bob, ein Freund von ihm, war vorbeigekommen und hatte sich unbemerkt mit seiner Gitarre und seiner Mundharmonika in den Schatten des Feuers gesetzt, erst probierte er ein paar Akkorde und sang dann, mit leise schnarrender Stimme von den Zeiten, die sich änderten.
Die Nacht war klar und über ihnen funkelten die Sterne.
Sie hatte in ihrem Leben noch nie so viele Sterne am Himmel gesehen und in diesem Moment
wusste sie, dass sie unsterblich war.
Das Schlagen der Kirchturmuhr und die Trockenheit ihres Gaumens bestätigten ihr, dass sie wohl für einige Zeit geschlafen haben musste. Bitte weiterschlafen, dachte sie und schloss schnell die Augen wie ein Kind, das so tut, als ob es schon schliefe, wenn die Eltern leise die Zimmertür öffnen, um nachzuschauen. Sie atmete tief und gleichmäßig und wagte es nicht, ihre Position zu ändern, als würde die Schlaflosigkeit über ihr kreisen wie ein gieriger Adler. Bereit, zuzuschnappen, sobald sie sich rührte.
Irgendwann gab sie sich geschlagen und stand auf. Der Adler hatte gewonnen. Es war mitten in der Nacht und sie war müde, aber sie konnte ebenso eine Zeitlang weiter ihr Bücherregal einräumen, dachte sie, anstatt schlaflos im Bett zu liegen. Sie nahm sich die halb ausgepackte Bücherkiste vor und stellte ein Buch nach dem anderen in das Regal. Der Fänger im Roggen, J.D. Salinger. Unterwegs, Jack Kerouac. Wer die Nachtigall stört, Harper Lee. Writings and Drawings – Bob Dylan. Sogar von ihm signiert.
Das Buch war ungeschenkt geblieben, so wie auch das gemeinsame Leben, welches sie sich eine Zeitlang füreinander vorgestellt hatten, ungelebt geblieben war.
Sie blätterte ein wenig in dem Buch und legte es dann auf den Tisch.
Den Kastanienkreis auf ihrem Fensterbrett ordnete sie zu einer geraden Linie, gegenüber war der Kerzenschein nur noch zu erahnen.
Beiläufig schaute sie in den Kühlschrank, als könnte sich darin allen Ernstes etwas befinden, von dessen Existenz sie nichts wusste. Tatsächlich befand sich fast gar nichts darin, sie hatte nicht daran gedacht, einzukaufen. Das würde sie morgen tun. Zum Frühstück, dachte sie, würde sie ins Eleanors gehen. Ja, sie würde sich eine Zeitung aus dem Zeitungsständer nehmen, eine große Tasse Milchkaffee bestellen und einen Toast, oder ein Sandwich.
Sie legte sich wieder ins Bett und zog die Decke bis unter die Nase.
Vielleicht würde sie dann noch einen zweiten Kaffee nehmen, dachte sie, und den Wind und das, was er durch die Straße trieb, beobachten, und die Leute, die am Fenster vorbeilaufen würden, aber jetzt noch schliefen. Dann würde sie über die Straße gehen mit ihrem kleinen Päckchen in der Hand und die Tür mit der altmodischen Ladenglocke öffnen. Sie würde das Päckchen auf die Holztheke legen und vorsichtig auswickeln, sie würde den Antiquar fragen, ob er Interesse hatte an einer signierten Erstausgabe von Bob Dylan – Writings and Drawings.
Vor dem Fenster war das Brummen eines Autos zu hören und Scheinwerfer erleuchteten kurz den Raum.
Früher hatte sie im Herbst mit Cathy Kastanien gesammelt und dann daraus Tiere und Männlein gebastelt, deren dünne Streichholzbeine oft ungleichmäßig lang waren, so dass sie bei der kleinsten Berührung umfielen. Cathy konnte dann sehr verzweifelt sein. Sie selbst hätte sich mehr Zeit nehmen sollen für die Beine, dachte sie schläfrig, jetzt würde sie das tun, aber nun war Cathy groß und es war zu spät, aber vielleicht würde sie in einigen Jahren, wenn auch sie Wollsocken stricken würde, noch einmal die Gelegenheit haben, diesen Hinkebeinfehler wiedergutzumachen.
Beiläufig schaute sie in den Kühlschrank, als könnte sich darin allen Ernstes etwas befinden, von dessen Existenz sie nichts wusste. Er war von oben bis unten vollgestopft mit Kastanien, die ihr entgegenkullerten und auf die Dielen knallten. Beim Einschlagen machten sie kleine Geräusche, wie weit entferntes Granatfeuer. Zum Glück klingelte es an der Tür und Bob Dylan stand davor und sagte: „ Guten Tag, Come gather 'round people wherever you roam.“ Aber es war gar nicht Bob Dylan, das sah sie jetzt erst, sondern ein Kellner, der fragte, ob sie einen Espresso bestellt hätte. „Ja,“ sagte sie automatisch, "den stärksten Espresso ever." „Sie sind nicht befugt!“, rief der Kellner streng und drehte sich zum Gehen und sie sah, dass er ein kurzes und ein langes Bein hatte, aber er selbst schien das nicht zu wissen, denn er verlor überrascht das Gleichgewicht und stürzte Stufe für Stufe die Treppe hinunter, bis er regungslos auf dem Treppenabsatz liegenblieb. „Er ist tot, er muss ins Lazarett!“, schrie das Herbstlaubmädchen, das plötzlich neben ihr stand und einen Hut aus roten Ahornblättern trug. „Gesagt, getan!“, rief sie selbst – doch erst als sie losrannte, bemerkte sie, dass ihre Beine in einem Sack steckten, und so polterte auch sie hart die Treppe hinunter, sie würde auf den toten Bob-Dylan-Kellner stürzen, aber zum Glück lag jetzt dort ein dicker schwarzer Teppich, auf dem sie weich, aber mit dem Gesicht voran landete.
Nein, es war gar kein Teppich, es war ein großer schwarzer Hund, sie atmete sein Fell ein und bekam kaum Luft, "Wau! Wau! Wau!“, bellte der Hund, nein, er sprach es, und es war auch nicht „Wau! Wau! Wau!“, was er sagte, sondern „Ka! Na! Da!“
Ich ersticke, dachte sie.
„Kanada“, sagte der Hund.
In letzter Sekunde gelang es ihr, das Gesicht zur Seite zu drehen und Mund und Nase aus ihrem Kopfkissen zu befreien. Sie schnappte nach Luft, riss die Augen auf, ihr Herz raste, die Stirn war nass und Schweiß lief ihr über den ganzen Körper. Sie atmete tief durch und setzte sich auf. Es dauerte lange Zeit, bis sie wirklich wusste, wo und wann sie sich befand.
Wow, dachte sie, was für eine komplette Ladung gequirlter Bullshit.
Sie holte abermals tief Luft und wusste auf einmal nicht genau, ob sie erleichtert war oder enttäuscht, weil es nur ein Traum gewesen war.
Sie stand auf, trank einen Schluck Wasser und kühlte ihre Stirn an der Fensterscheibe.
Sie wollten zusammen nach Kanada gehen. Sie wollten dort arbeiten und leben und davor wollten sie die Welt bereisen, und für die Zeit, wenn sie zurückgekehrt wären, überlegten sie sich die vielen Namen ihrer zukünftigen Kinder. Die Wirklichkeit hatte jedoch ein anderes Drehbuch für sie geschrieben, und so, wie der Zufall ihre Wege damals im stürmischen Hyde Park zueinander geführt hatte, trennte er sie nach einiger Zeit auch wieder und nichts blieb übrig von ihren gemeinsamen Plänen und den Träumen von Kanada.
Außer dem Holzfällerhemd, dachte sie.
Und die Augen, dachte sie, seine Augen sind immer noch jung.
Die Kirchturmuhr schlug fünf Mal. Im Fenster schräg gegenüber flackerte schon lange kein Kerzenlicht mehr. In zwei Stunden würde es langsam hell werden.