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Getrennte Wege
Ich fluche, lasse die Haustür hinter mir ins Schloss krachen und stapfe los.
Er benimmt sich seit Wochen komisch. Warum fällt mir das erst jetzt auf? Hat weniger gesprochen, behauptet, er hätte keine Zeit, hat kaum noch Lust auf Sex. Plötzlich hat Marc stundenlang nicht auf meine Nachrichten geantwortet, dabei hatte er sie gelesen!
Er macht Schluss, da bin ich mir sicher. Vielleicht hat er Panik bekommen, weil unser Zweijähriges bevorsteht. Oder er hat eine Andere? Sofort denke ich an Clara. Sie sei nur eine Freundin, sagt er immer wieder, ich solle mir keine Sorgen machen. Trotzdem will sie ihn, das Gefühl habe ich schon seit ich sie kennengelernt habe.
Wahrscheinlich hat er einfach genug von mir. Will was Neues machen, Erfahrungen sammeln, was eigentlich nur bedeutet, sich durch alle Studentenbars der Stadt zu vögeln. Meine Hand ballt sich, als ich an ihn mit einer anderen denke.
Okay, entspann dich. Vielleicht geht es um was ganz anderes.
Warum aber diese beschissene Nachricht? Wir müssen reden. Mehr nicht. Ich werde wütend, beiße mir die Wange auf.
Wir treffen uns an unserem Platz. Die Bank auf der Böschung neben dem Spielplatz mit der wunderbaren Aussicht auf die vierspurige Bundesstraße. Am Anfang haben wir uns fast jeden Tag dort getroffen und gequatscht, bis wir keine Autos mehr sahen, meistens noch länger.
An unserem Platz lernte ich Marc völlig neu kennen. Dass so viel mehr in ihm steckte, als er zuerst zeigte. Er war in der Schule beliebt, die Partys von seinem Hockeyteam waren Veranstaltungen, die sich schnell herumsprachen und auf die man sich tagelang freute. Bevor ich ihn wirklich kennenlernte, beobachtete ich mit Abscheu, wie die Mädchen ihm hinterherliefen und die Jungs ihn beneideten. Erst auf unserer Abschlussfahrt kamen wir uns näher, so begann es mit uns.
Er kann zuhören, das erwartet man zuerst gar nicht von ihm. Und er ist klug, auch das ließ er sich normalerweise nicht anmerken. Weiß unglaublich viel über Politik, Sport und Technologie. Ich hörte ihm zu, obwohl ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr mitkam. Meistens lag ich mit dem Kopf in seinem Schoß, lauschte nur dem tiefen Klang seiner Stimme. Er streichelte mir den Kopf und ich fühlte mich geborgener als irgendwo sonst auf der Welt.
An unserem Platz hatten wir auch unseren ersten Kuss. Ich erinnere mich, dass er davor über die Anschläge vom elften September sprach, danach verfielen wir in Stille und sahen uns an. Ich lehnte mich langsam nach vorne …
Ich schiebe den Gedanken fort. Es schmerzt zu sehr, daran zu denken. Ich versuche die Tränen wegzublinzeln, schniefe. Bitte, das kannst du mir nicht antun. Bitte! Unwillkürlich formte mein Kopf schon Sätze, um ihn umzustimmen. Gib uns noch eine Chance! Ich will dich nicht verlieren. Ich kann mich schon flehen hören.
Reiß dich zusammen.
Kurz nach halb acht. Ich bin ein paar Minuten zu spät, aber er kommt immer noch ein paar Minuten später als ich, es ist fast eine Tradition bei uns.
Ich nähere mich von hinten der Bank, Marc ist schon da. Muss echt ernst sein. Er macht sowas von Schluss.
Er hört das Rascheln des Herbstlaubes, dreht sich herum zu mir. Wir küssen uns und ich setze mich neben ihn, weiter weg als sonst. Ich schaue ihn möglichst ausdruckslos an, er sieht auf die Straße hinunter.
Er reibt seine Finger mehrmals gegen die Handflächen, wie immer, wenn er nervös ist. Seine Kieferknochen treten hervor.
„Ich hab‘ mir eigentlich schon überlegt, wie ich’s dir sagen soll, aber jetzt kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Sein Mund deutet ein scheues Lächeln an, doch es füllt sein Gesicht nicht.
„Schon gut, lass dir Zeit“, sage ich, doch meine es nicht.
Er fingerte eine Zigarette aus seiner Hosentasche und steckt sie sich in den Mund. Er schirmt die Flamme des Feuerzeugs mit der anderen Hand ab, obwohl es windstill ist. Das Feuerzeug streikt, er schüttelt es, dann steckt er sich die Zigarette an.
„Mara, bitte lass mich zuerst ausreden, ja?“
Ich nicke. Er hat ´ne andere. Mein Magen verkrampft sich. Ich versuche ruhig zu atmen.
„Wir sind hier nicht allein.“
Ich drehe meinen Kopf in alle Richtungen, kann aber niemanden sehen.
„Nein, nein“, sagt er, „So meine ich das nicht. Ich meine uns alle.“ Er macht eine weit ausholende Geste. „Wir Menschen.“
Marc zieht an seiner Zigarette, dann spricht er weiter. „Ich habe recherchiert. Mich umgehört. Die Beweise sind überall, sie werden nur ignoriert und vertuscht. Sie sind unter uns, sehen aus wie wir.“
Er sieht mich eindringlich an, mein Mund bleibt offen.
„Es gibt außerirdisches Leben, das ist schon längst bewiesen. Und sie sind auf unseren Planeten gekommen, vermutlich vor elf oder zwölf Jahren. Es ist fast unmöglich, sie von uns zu unterscheiden. Sie sind hinter unserem Wasser her und sie wollen die Menschheit versklaven. Es wird einen Angriff geben, es dauert nicht mehr lange. Sie sammeln nur noch genug Informationen. Ich weiß, das ist jetzt ein Schock für dich, aber ich kann es dir beweisen, ich zeig’s dir später auf meinem Laptop. Du musst mir glauben. Es gibt tausende Beweise, wenn man weiß, wo man suchen muss.“
Er lehnt sich zurück und atmet tief durch. Noch immer fällt mir nichts ein, was ich sagen könnte. Ist er high? Ich schiele verstohlen auf die Zigarette.
„Aber es gibt eine gute Nachricht“, sagt er.
Bitte sag mir, dass es hier irgendwo eine versteckte Kamera gibt.
Er rückt näher zu mir hin, flüstert jetzt. „Ich habe ein Bunker gebaut. Nicht weit von hier. Mit Reserven für knapp sechs Jahre. Bis dahin sollten sie fort sein und vielleicht unsere Spezies ausgerottet, bis auf einige wenige. Und wir werden dabei sein. Hörst du? Ich will, dass du mit mir kommst. Ich konnte es dir nicht früher sagen, tut mir leid. Die haben ihre Augen und Ohren überall, man weiß nie, wem man trauen kann. Ich liebe dich, deshalb will ich, dass du mitkommst.“
Er sieht mir direkt in die Augen und grinst komplizenhaft. Ich fange an zu kichern, erst schüchtern, doch als auch er losprustet, halte ich meinen Bauch vor Lachen. Man, da hat er mich aber echt erwischt. Vor Erleichterung kann ich nicht aufhören, auch er lacht immer noch.
Er japst nach Luft, dann sagt er: „Ich weiß, es ist großartig! Wir werden leben!“
Ich verstumme.
Er schnipst seine Zigarette weg und steht auf. „Komm, ich zeig‘ dir …“, er hält inne, sieht sich um und flüstert mir ins Ohr: „den Bunker.“
Er meint das echt ernst. Scheiße, er meint das wirklich ernst.
Ich bekomme Angst. Vor meinem eigenen Freund.
„Äh, nein. Ich muss nach Hause“, sage ich. „Hab Amelie versprochen, dass wir um halb neun telefonieren.“
Marc lässt die Schultern sinken. „Okay. Dann morgen?“
„Ja, ja. Morgen. Tschüss.“ Ich will ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange drücken, aber er zieht mich an sich und presst leidenschaftlich seine Lippen auf meine. Er hält mein Kopf noch fest, als er mir tief in die Augen schaut und flüstert: „Ich lass dich nicht zurück.“
Ich nicke ernst, weil ich mir sonst keine bessere Reaktion einfällt. Dann gehe ich davon, immer schneller, bis ich fast renne.
Noch am Abend bekomme ich eine Mail von ihm mit einigen Links, Beweise steht in der Betreffzeile. Ich klicke jeden der Links an, lese ein paar Zeilen und schließe die Seiten kopfschüttelnd.
Wir müssen reden, schreibe ich ihm am nächsten Tag.
Wir treffen uns wieder an unserem Platz, ich mache Schluss. Er versucht verzweifelt, mir seine „Beweise“ zu präsentieren. Ich bleibe hart.
Irgendwann, nachdem seine Worte nicht mehr von Schluchzen unterbrochen werden, sagt er: „Na gut. Du willst mir nicht glauben. Wenn es losgeht, wirst du es. Du kannst mich dann unter dieser Nummer anrufen.“ Er zieht einen Zettel aus der Hosentasche und drückt ihn mir feierlich in die Hand. „Sie werden Chemikalien versprühen, die die Menschen gefügig machen werden. Aber wenn die Luft noch sauber ist, werde ich dich hereinlassen.“