"Gesundheit!"
Die Fliege summte, flog im Tiefflug über die Hand, gewann wieder an Höhe und kehrte um. Zweimal flog sie noch die Tour, dann ließ sie sich auf dem bahaarten Handrücken nieder. Einen kurzn Moment lang putzte die Fliege eines ihrer vier Beine, dann erhob sie sich wieder in die Luft. Sie drehte eine enge kurve und landete wieder auf dem Handrücken. Mutiger geworden, begann sie die behaarte Hand zu erkunden und tappste auf deren Rändern umher. Nachdem sie den Zeigefinger erforscht und sich auf dem Nagel neuerlich gereinigt, flog sie davon.
Die Hand flach auf dem Tisch liegend, den Blick starr geradeaus gerichtet, saß ein Mann von vierzig Jahren übergewichtig auf einem Stuhl. Er trug ein kariertes Holzfällerhemd, Jeans und Pantoffeln. Er hatte sein Haar sauber gescheitelt und ein ausdrucksloses Gesicht. An dem Fenster, zu dem er blickte, brach sich dünner Nieselregen.
Im Rücken des Mannes öffnete sich eine Türe und eine junge Krankenschwester trat ein. Sie trug ein Tablett in ihren Händen und eine weiße Plastiktüte.
„Guten Tag, Herr Jonas“, rief sie mit fröhlicher Stimme und wartete keine Antwort ab. Sie verschwand in der Küche und rumorte darin. Nach einer Weile kam sie in den Raum zurück und ließ ihren Blick darin schweifen. „Scheußliches Wetter, nicht wahr? Der Himmel ist ganz grau und schon den ganzen tag nieselt es. Ich glaube, es hat sich eingeregnet.“ Sie schüttelte den Kopf. „Tja, es läßt sich wohl nicht leugnen. Es ist Herbst geworden.“
Herr Jonas hatte seine unverändert auf dem Tisch liegen. Sein Blick ging starr geradeaus zu dem Fenster, an dem sich der Nieselregen brach.
„Tja“, sagte die Krankenschwester und klatschte in ihre Hände. „Zeit für ihre Pillen.“ Sie ging in die Küche und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Drei Pillen legte sie auf den Tisch vor Herr Jonas und stellte das Wasser dazu. Sein Blick war jetzt durch ihr Dekollté verstellt. Ohne zu blinzeln nahm er die Pillen ein und spülte sie mit dem Wasser hinunter. Dann kehrte sein Blick zu dem Fenster zurück, das hinter dem Dekollté verborgen war.
„In der Küche steht ihr Essen“, sagte sie im Gehen. „Und wenn Sie was brauchen, schreiben Sie’s wie immer auf die Liste am Kühlschrank.“
Nachdem die Krankenschwester schon eine Weile gegangen war, erhob sich Herr Jonas und schlurfte zur Küche.
„Essen“, murmelte er.
Die Krankenschwester balancierte das Tablett in einer Hand, während sie die Haustüre aufschloß und eintrat. Mit dem Fuß stieß sie die Türe hinter sich wieder ins Schloß und tastete mit der freien Hand nach dem Lichtschalter. Alle Jalousien waren heruntergelassen, niergendwo brannte ein Licht.
„Herr Ricker?“ rief sie. „Sind Sie wach? Herr Ricker?“
Sie machte das Licht an und ging in die Küche. auf dem Tisch standen die Reste vom Vortag, die Kühlschranktür stand offen. Die Krankenschwester seufzte, dann räumte sie auf. Sie brachte neues Klopapier auf die Toilette und legte auf den Wohnzimmertisch einen Comic und ein Puzzle.
„Herr Ricker?“ Sie fand ihn in dem Schlafzimmer auf dem Bett liegend. Er hatte sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen und starrte an die Wand.
„Herr Ricker, warum antworten Sie denn nicht, wenn ich Sie rufe?“ Der Mann sah sie kurz an und blickte wieder zur Wand.
„Weiß nicht“, murmelte er.
Sie ging zum Fenster und zog die Jalousien hoch. „Den ganzen Tag im Bett zu liegen. „Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt müssen Sie aber aufstehen. In der Küche steht Ihr Essen und im Wohnzimmer ein Comic und das Puzzle, das Sie wollten.“
Herr Ricker nickte, ohne den Blick von der Wand zu nehmen.
„Was sehen Sie sich denn da an?“
„Die Wand.“
Die Krankenschwester blickte ihn mitleidig an, dann schüttelte sie ihren Kopf. Aus der Küche brachte sie ihm ein Glas Wasser mit. Herr Ricker schluckte seine Pillen und spülte sie mit dem Wasser hinunter. Dann drehte er sich wieder um und starrte an die Wand. Abermals schüttelte die Krankenschwester den Kopf.
„Vergessen Sie das Essen nicht.“
Sie verließ das Haus und trat auf den Wendeplatz. Zehn Häuser säumten die Straße. Sie blinzelte kurz in den grauen Himmel, dann verließ sie den Schutz des Vordaches, eilte durch den Nieselregen und stieg in den geparkten Kombi. Schon die nächste Querstraße bog sie links ein. Vor einem schmucklosen Einfamilienhaus hielt sie. In der Auffahrt standen ein silberner Mercedes, ein neuer BMW und wie verschämt in deren Schatten ein alter mini Cooper mit Union Jack auf dem Dach.
Sie schloß die Türe auf und trat ein. Als erstes zog sie sich einen Kaffee aus dem Automaten im Wohnzimmer. Im Aschenbecher auf dem Tisch qualmte noch eine Zigarette, aber außer ihr war niemand im Wohnzimmer. Sie drückte die Kippe aus, eine Benson & Hedges. Also war Dr. Angus noch Dienst.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie hinunter in den Keller. Umzingelt von Bildschirmen saß Dr. Angus auf einem Bürostuhl und hielt ebenfalls einen Plastikbecher Kaffee in der Hand. Auf einem Bildschirm sah sie, daß Herr Ricker noch immer regungslos an die Wand starrte.
„Ah, Schwester Katrin. Mein Sonnenschein ist zurück von ihrer Tour.“
Sie erwiderte seine Begrüßung mit einem müden Lächeln.
„Was ist das?“ fragte der Docktor in gespielter Besorgnis. „Sollten finstere Gemütswolken meinen Sonnenschein verdunkeln?“
„Nichts besonderes.“ Sie schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. „Sie depimieren mich bloß.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Bildschirme.
Eine Weile sahen die beiden Herr Jonas dabei zu, wie er mit langsamen Bewegungen aß. Dabei unterbrach er sich immer wieder und blickte apathisch auf sein Essen. Beide tranken in kleinen Schlucken Kaffee.
„Schon“, sagte Dr. Angus plötzlich. „Aber sie dürfen nicht vergessen, daß das hier ein Durchbruch ist. Seit zehn Jahren läuft das Experiment und nichts, nicht einmal ein Anzeichen.“
Sie nickte, ohne ihren Blick vom Monitor zu nehmen.
„Es sieht so aus als hätten wir’s geschafft.“ Dr. Angus verschränkte die Arme vor der Brust und grinste breit. „Die gemeine, niederträchtige, angeblich unheilbare Erkältung, sie gehört der Geschichte an. Und unsere zehn Freunde hier,“ er blickte zu den Bildschirmen, „sind der Beweis.“