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Gestohlene Zeit

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02.11.2001
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Gestohlene Zeit

Mein Name ist Simon Winter und ich raube Zeit. Nicht beruflich, nicht sehr geschickt und noch nicht sehr professionell. Aber ich werde besser. Die meisten Leute bemerken es nicht mehr. Bis es dann zu spät ist. Dann habe ich ihre Zeit bereits gestohlen, es ist Sonntag Abend, das Wochenende ist wie im Flug vergangen und ich bin über alle Berge. Mit ihrer Zeit.
Hatten Sie am Sonntag Abend nie das Gefühl, dass das Wochenende viel zu schnell vorbei gegangen ist? Dass Sie nicht die Hälfte von dem, was Sie sich vorgenommen haben, auch gemacht haben? Im Zweifelsfall sind Sie Opfer meiner immer filigraner werdenden Handfertigkeiten beim Zeitstehlen geworden. Ich habe Ihnen die Zeit gestohlen.

Wie ich das mache? Ich nutze all die Momente, in denen Sie nicht aufpassen. Momente, in denen Sie dösen, auf etwas warten oder tagträumen. Die genauen Kniffe und Tricks möchte ich an dieser Stelle ungern preisgeben. Sonst würden Sie Vorsorge treffen und ich käme um meinen doch recht zufriedenstellenden Erwerb.
Also beschimpfen Sie bitte nicht mehr Ihre Kollegen oder Freunde mit den Worten: „Du hast mir meine Zeit gestohlen“, nur weil er oder sie wieder zu spät war. Wahrscheinlich können sie nichts dafür, weil ich dann zugeschlagen habe. Die Verspätung Ihrer Kollegen oder Freunde ist dann nur ein Resultat meiner Fingerfertigkeit. Und auch die Zeit, die Sie dadurch verloren haben, hebe ich später in einem unbemerkten Moment wieder vom Boden auf.

Ja, genau. Oftmals muss ich nicht stehlen. Sie verlieren Ihre Zeit ganz von selbst. Alles was ich mache, ist wachsam sein. Immer darauf zu achten, wann die Leute ihre Zeit verlieren. Um dann gleich zur Stelle zu sein, und die verlorene Zeit einzutreiben.

Jetzt fragen Sie sich natürlich, wie ich die Zeit wieder loswerde, was ich denn eigentlich mit so viel Zeit auf meinem Konto anstelle?
Nein, ich bin kein Zeitverschwender. Selten habe ich Leute auf mich warten lassen. Meine Freizeit verbringe ich normalerweise sehr effizient. Die Zeit die ich raube, nutze ich nicht selbst. Die Zeit, die ich raube, verkaufe ich. Zum Beispiel an Unternehmensberatungen oder Werbeagenturen. Denn diese haben immer einen Bedarf an zusätzlicher Zeit.
Unternehmensberatungen haben oftmals sehr hohe Stundensätze, zu denen sie ihre Zeit verkaufen, aber meistens nicht genug Zeit, um ihre Projekte umzusetzen. Den Mitarbeitern fehlt bei ihrer 40 Stunden Woche immer wieder die Zeit, ihre Arbeit zu vollenden. Dies endet darin, dass die armen Mitarbeiter viele, viele Überstunden leisten müssen. Und das wiederum geht zu Lasten der Projekte. Daher verkaufe ich die gestohlene Zeit an diese zeitnotleidenden Unternehmensberatungen.

Manchmal kaufen mir auch Werbeagenturen Zeit an, insbesondere vor Ausschreibungen, da dann in der Regel lange gearbeitet werden muss und die Zeit durch schlechtes Zeitmanagement in der Regel sehr knapp ist. Zeitmanagement beherrschen diese Werbeagenturen übrigens gar nicht. Viele Mitarbeiter verbringen viele ihrer Stunden in Kaffeepausen, die sie als „Brainstormings“ deklarieren. Aber mich können sie nicht täuschen. Oftmals verkaufe ich daher den Agenturen ihre eigenen in sogenannten „Brainstormings“ verlorenen Stunden sozusagen „second hand“. Es gab schon Stunden, die ich bis zu fünf mal an dieselbe Werbeagentur verkauft habe, bis sie effektiv eingesetzt wurden.

Ich verkaufe meine Zeit normalerweise Stückchenweise. Hier mal ein Tag, wenn es wieder eng wird, dort mal ein paar Stunden, wenn die Nacht nicht gereicht hat.
Dabei verdiene ich nicht nur viel Geld, sondern diene aus der Sicht der Mitarbeiter sogar einem wohltätigen Zweck. Denn die Mitarbeiter können pünktlich nach Hause gehen, obwohl sie die Arbeit von 10 bis 12 Stunden innerhalb eines 8 Stunden Tages leisten und Frau und Kinder sind glücklich. Ein faszinierender Gedanke. Ich habe schon darüber nachgedacht, in den Großstädten eigene Vertriebsstrukturen zu schaffen. Zeitverkäufer, die von Tür zu Tür gehen, vorzugsweise zwischen 18 und 21 Uhr. Die Hausfrauen und Mütter, die zu dieser Zeit auf ihre Männer warten, werden sicherlich gerne einige Zeitstücke kaufen. Man denke nur an die Marketingmöglichkeiten: Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, Urlaubsverlängerungen, Brückentage. All dieses können die Leute sich gegenseitig schenken.

Oftmals spende ich meine ergaunerten Stunden und Tage für einen guten Zweck. Ich spende sie zeitnotleidenden Menschen. Ein Beispiel: viele Menschen liegen im Sterben und wünschen sich noch ein paar wenige Stunden, um sich von ihren Verwandten verabschieden zu können. Ich kann den Tod zwar nicht verhindern, aber ich habe es mittlerweile geschafft, den Tod um einige Stunden hinauszuzögern. Das war zuerst nicht leicht, anfangs reichten meine Spenden gerade für ein paar Minuten. Diese letzten hinausgezögerten Minuten der Leidenden sind nämlich so viel wert, dass ich eine Menge gestohlener Stunden aufwenden muss, um nur wenige dieser Minuten zu finanzieren. Diese Minuten sind komprimierte Sehnsucht, manchmal sind sie unbezahlbar.

Aber es macht mir nichts aus, denn die Stunden, die ich spende, wären ansonsten verschwendet worden. Und Sie merken es ja auch nicht. Dennoch spenden Sie wertvolle Zeit. Durch meinen Zeitraub. Zeit, die anderen vieles Gute ermöglicht. Ich habe schon überlegt, ob ich einen Spenderausweis für Zeitspenden ins Leben rufen sollte. Diesen würden Sie offen sichtbar tragen. Immer wenn Sie dann beim Warten Zeit verlieren, könnte sich jemand, der diesen Ausweis sieht, Ihre Zeit nehmen, um zum Beispiel nach der Arbeit früher nach Haus gehen zu können.
Wäre das alles nicht fantastisch? Eine Art Zeit-Sozialismus? Aber solange dies noch nicht existiert, bin ich dazu gezwungen, Ihnen Ihre Zeit ganz niederträchtig und gemein einfach zu stehlen.
Und das ist mir nur möglich, weil Leute wie Sie ständig und überall zuviel Zeit übrig haben. Weil Sie an einem Sonntag Vormittag eine Stunde länger als notwendig die Zeitung lesen, dies aber frühestens erst am Sonntag Abend bemerken.

Sie, die Sie Ihre Zeit am Wochenende und Ihre Feierabende mit nebensächlichen Tätigkeiten verschwenden, ermöglichen vielen Familien ein geordnetes Familienleben und vielen Werbeagenturen die Profitabilität. Dafür möchten ich Ihnen herzlichen danken, und - bis später!

[ 31.07.2002, 00:12: Beitrag editiert von: philipp ]

 

Hi philipp,
gefällt mir gut, Dein Zeitdieb und seine Geschichte. Du bringst eine Menge verschiedener Sachen in die Umsetzung dieser originellen Idee - wie Zeit verschwendet wird und was er damit macht (Zeit-Sozialismus - hehe). Die Absätze sind sinnvoll eingebaut, die direkte Ansprache wirkt auf jeden Fall - man weiß, dass der Kerl schon einige Male um einen rumgeschlich...
Einzig ein, zwei Dinge würde ich manchmal nicht als Zeitverlust bezeichnen (z.B. Zeitunglesen - ab wann ist es mehr als nötig?) und da er recht schnell davon spricht, dass er Zeit eher 'aufsammelt', dass die Menschen ihre Zeit bewusst vertun (wie z.B. das Brainstorming) verliert sich in der Geschichte etwas das Anfangsbild des Diebes - ich finde, das eines Sammlers trifft es eher.

Hat Spaß gemacht. :thumbsup:

Gruß, baddax

[ 31.07.2002, 00:36: Beitrag editiert von: baddax ]

 

Hi philipp,

baddax hat recht; Dein Protagonist stielt die Zeit nicht, er sammelt sie - so habe auch ich es empfunden. :)

Eine sehr schöne, gut geschriebene Geschichte, die auf einer originellen Idee beruht. Mir hat sie wirklich sehr gefallen.

Auf jeden Fall war das Lesen Deiner Story keine Zeitverschwendung. Das kannst Du dem Simon ruhig ausrichten! :D

Gruß,
stephy

 

Hallo und vielen Dank für das schöne Feedback!
Hhm, genau betrachtet habt Ihr recht - er sammelt mehr auf, als das er stiehlt. Werde noch mal drüber nachdenken, ob ich nicht doch den Titel und den Anfang ändern sollte...

Ich werde Simon ausrichten, dass er gefälligst jeden, der hier bei KG.de Geschichten liest, in Ruhe lassen soll :)

Gruss,
philipp.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo philipp!

Die Idee, die Du zu einer Geschichte verarbeitet hast, ist ja sowas von nicht ausgelutscht :D – und dabei noch kaum gelesen… Schade irgendwie.
Also grab ich sie mal aus, aufdaß sie auch noch von anderen gefunden wird. :)

Den Erzählungen Deines Protagonisten konnte ich mit Schmunzeln folgen, gleichzeitig regt mich die Geschichte zum Nachdenken an. Je länger ich drüber sinniere, umso mehr fällt mir auf, wie wahr doch die gesellschaftskritische Überlegung ist, die Deinem Text wohl zugrunde liegt.
Wir schenken unsere Zeit der Werbung, bedeutungslosen Nachrichten oder verplempern sie sonstwo. Oder man kann eben auch sagen, sie wird uns gestohlen.
Ich habe mal so überschlagsmäßig zu rechnen begonnen, wie viel Zeit ich pro Jahr mit irgendwelchen Prospekten verbringe, die mir angeblich helfen, Geld zu sparen. Selbst, wenn ich sie nicht anschaue, trage ich viele Kilos davon pro Jahr zum Altpapier, was unbezahlte Arbeitszeit darstellt. Abgesehen von den vielen unnützen Seiten in Zeitungen und Zeitschriften. – Und die Fernsehwerbung stiehlt manchen Menschen noch viel mehr Zeit, wenn sie davor sitzen und die Werbung anschauen, nur damit sie nicht verpassen, wann der Film wieder weitergeht – was ja wohl eine der ausgefeiltesten Methoden Deines Protagonisten ist, über die er nicht sprechen will…;)

Wo ich nicht so recht mitkomme, ist das Zeit-Verkaufen. Ich glaube, da hinken Deine Beispiele etwas, oder ich steh auf der Leitung.

Das mit den Sterbenden und den teuren Minuten, der komprimierten Sehnsucht, gefiel mir auch sehr und ist ziemlich hintergründig. :)

Zeit-Sozialismus wär natürlich ein Hit, Dein Protagonist wäre dann so eine Art Robin Hood, da könnte er aber bei mir ruhig auch mal ein paar Stückchen vorbeibringen, ein paar größere Stückchen … Jahre-Stückchen … ungefähr zwanzig bitte…:D

Man kann glaub ich etliche Beispiele finden, wo einem die Zeit häppchenweise gestohlen wird. Neulich an der Ampel bemerkte ich es richtig, es war schon mehr ein Raub…

Ein bisschen Überarbeitung könnte Deine Geschichte aber, auch wenn sie mir schon jetzt gefällt, trotzdem vertragen, insbesondere was die Beispiele mit dem Zeitverkaufen angeht – vielleicht kannst Du das ja klarer machen? Hm, und vielleicht würdest Du heute, mehr als ein Jahr nach dem Posten, manches sogar treffender formulieren?

Aber jetzt noch ein paar kleine Anmerkungen:

»Dass Sie nicht die Hälfte von dem, was Sie sich vorgenommen haben, auch gemacht haben?«
– vorgenommen hatten

»Im Zweifelsfall sind Sie Opfer meiner immer filigraner werdenden Handfertigkeiten«
– ist „filigran“ hier wirklich das richtige Wort? Vielleicht „ausgefeilter“ oder evtl. „diffiziler“?

»Die genauen Kniffe und Tricks möchte ich an dieser Stelle ungern preisgeben.«
– irgendwie kann ich mich mit dem Satz nicht so recht anfreunden, würde evtl. „an dieser Stelle“ durch ein „nur“ ersetzen

»Manchmal kaufen mir auch Werbeagenturen Zeit an«
– müßte doch „ab“ statt „an“ heißen, oder?

»Ich verkaufe meine Zeit normalerweise Stückchenweise.«
stückchenweise

»obwohl sie die Arbeit von 10 bis 12 Stunden innerhalb eines 8 Stunden Tages leisten«
– Zahlen bitte ausschreiben (ausgenommen Buchstabenwürste): zehn bis zwölf Stunden … Acht-Stunden-Tages

»Ein Beispiel: viele Menschen liegen im Sterben«
Viele

»Dafür möchten ich Ihnen herzlichen danken«
– möchte (ohne -n)


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,

vielen Dank, dass Du die alte Geschichte mal wieder ausgräbst!

Ein bisschen Überarbeitung könnte Deine Geschichte aber, auch wenn sie mir schon jetzt gefällt, trotzdem vertragen, insbesondere was die Beispiele mit dem Zeitverkaufen angeht – vielleicht kannst Du das ja klarer machen? Hm, und vielleicht würdest Du heute, mehr als ein Jahr nach dem Posten, manches sogar treffender formulieren?

Sicherlich würde ich einiges anders formulieren.
Die Beispiele mit dem Zeitverkaufen sind tatsächlich umständlich erklärt, habe mir das gerade noch mal angesehen. Werde vielleicht mal drüber nachdenken. Aber ehrlich gesagt, habe ich nur wenig Lust diese alte Geschichte noch mal anzufassen. Mal sehen.

Gruss,
philipp.

 

Hi Philipp - süss geschrieben und eine nette idee... gefällt mir sehr gut, deine fast schon philosophische geschichte... allerdings:

Ich nutze all die Momente, in denen Sie nicht aufpassen. Momente, in denen Sie dösen, auf etwas warten oder tagträumen

dies und die verschwendete stunde am samstag morgen - das sind doch die schönsten stunden der woche - einfach nichts tun und den liebe gott einen guten... etc..*smile*

aber die idee einer gesellschaftlich gerechten zeitverteilung finde ich wirklich gut...vielleicht sollte sich dein prot einen kollegen suchen der "nerven" sammelt und verteilt, die man ständig verliert, weil man sich über die kinkerlitzchen des lebens aufregt..:D

hat mir gefallen..

viele grüße, streicher

 

vielleicht sollte sich dein prot einen kollegen suchen der "nerven" sammelt und verteilt, die man ständig verliert, weil man sich über die kinkerlitzchen des lebens aufregt..

Das ist in der Tat eine sehr coole Idee! :D
Bei dem würden sicherlich viele Stammkunden werden!
Dein Einwand bzgl. der verdösten und den Samstag-morgens-Stunden ist berechtigt... Sicherlich gibt es auch Menschen, die sich ein paar Stunden kaufen, um den Samstag morgen zu verlängern.
gruss,
p.

 

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