Was ist neu

Geständnis und Heilung

Seniors
Beitritt
22.03.2005
Beiträge
1.284
Zuletzt bearbeitet:

Geständnis und Heilung

Ein lachender Säugling. Die zärtlichen Finger seiner Mutter, die ihn am Bauch kitzeln. Die sanften Hände seines Vaters, die ihn an der Wange streicheln.
Die Eltern blicken sich in die Augen, ein strahlendes Lächeln erblüht auf seinem Gesicht ebenso wie auf ihrem.
Manchmal wettstreiten sie, ob ihr Sohn zuerst "Mama" oder "Papa" sagen wird. Ein neckisches Spiel unter Liebenden.
Erinnerungen an das reine Glück, unzerstörbar für äußere Gewalt.
Erinnerungen an den reinen Schmerz und tiefste Verzweiflung, unauslöschlich eingebrannt, immun gegen jeden Versuch, sie zu vergessen.
Vermummte Gestalten, die in ihr Heim eindringen. Die verzweifelte Wut im zerschlagenen Gesicht des Vaters, der Hass auf die Schlächter, die sich verhüllen, weil sie zu feige sind, anderen und sich selbst ins Gesicht zu sehen, wenn sie ihre entsetzliche Arbeit tun, die Schuldgefühle, als es ihnen gelingt, ihr den Sohn aus den Armen zu reißen.
Es wäre gnädig, in den Wahnsinn abzugleiten. Aber auch gnädig mit den Mördern ihres Sohnes, weil sie dann niemand mehr anklagt.

Die Arme um den Körper geschlungen, saß Natalie vor dem Behandlungszimmer. Von ihr wurde ein Schuldbekenntnis erwartet, das wusste sie. Nur dann würde man sie entlassen.
Gut so, sie hatte kein Problem damit, einen dieser „Therapeuten“ anzulügen. Sie musste es nur echt wirken lassen. Wenn ihr Widerstand sofort aufweichte, machte es ihr Gegenüber bestimmt misstrauisch. Sie musste ihn überzeugen, dass sie wirklich glaubte, was sie sagte. Es war das Spiel vom betrogenen Betrüger, und sie war entschlossen, es zu gewinnen. Er würde nie erfahren, wie es in ihr wirklich aussah.
Guten Tag, ich bin Doktor Kazek, Ihr Therapeut. Sie sind hier, weil Sie einsehen müssen, dass Sie Schlimmes getan haben.
Aber Herr Doktor, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ist es nicht normal, dass eine Mutter ihr Kind behalten will?
Natürlich ist es das. Aber das ist nicht der Grund, warum Sie hier sind. Ihr bodenloser Egoismus, ein Kind haben zu wollen, das keinen Platz in der Welt haben kann, weil es nicht von oben genehmigt war, das ist Ihr Problem.
Wirklich, Herr Doktor? So hatte ich es noch gar nicht betrachtet.
Doch, Frau Ahmadi, Sie haben die Große Gemeinschaft verraten. Wir können Sie erst wieder auf die Welt loslassen, wenn Sie Ihren Fehler eingesehen haben.
Also, ich weiß nicht, Herr Doktor, schickt es sich überhaupt für eine Mutter, ihr Kind so einfach abzuschreiben, nachdem man es ihr weggenommen und umgebracht hat?

Die Phase der Wut hatte sie schon lange hinter sich. Die darauf folgende Verzweiflung und die Schuldgefühle waren einer unglaublich tiefen, allumfassenden Erschöpfung gewichen, als ihre Seele keine Kraft mehr hatte, weiter zu leiden.
Am Anfang war es anders gewesen. Sie hatte sich heiser geschrieen und um sich geschlagen, wann immer die Pfleger ihr Nahrung und Medikamente eingeflößt hatten. Vor allem Medikamente. Denn sie war eine Verrückte, irrational, unzugänglich, nur mit Gewalt zu kontrollieren. Sie weigerte sich zu essen, wollte nicht berührt werden. War sie allein, saß sie nur da, still in einer Ecke auf ihrem Bett, die Arme um die Knie, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Sie verhielt sich wie ein Mensch, der nicht mehr leben wollte. Kein Wunder, dass solche Persönlichkeiten illegitime Kinder kriegten und der Gemeinschaft das Grauen aufbürdeten, Kindstötung betreiben zu müssen.
Sie begriff nicht, warum man sie nicht einfach sterben ließ.
Aber wollte sie auch sterben? Sie hatte nicht ein einziges Mal aktiv versucht, sich das Leben zu nehmen. Und trotz aller Leere und Erschöpfung gab es einen Teil von ihr, der irgendwie normal weiterleben wollte. Der sich danach sehnte, wieder mit ihrem Mann zusammen zu sein und den Schrecken hinter sich zu lassen.
Er hatte ihr doch verziehen, oder? Und sein Versprechen, alles zu tun, damit sie hier raus kam, war auf jeden Fall ehrlich gemeint gewesen.
Aber sie wollte auch ihren Sohn in Ehren halten. Und dafür musste sie noch einen letzten Funken Widerstand aufbringen.
Die Tür wurde geöffnet. Natalie fuhr zusammen. Ein bärtiger, mitfühlend lächelnder Mann Mitte Vierzig mit Rundglasbrille in einfacher weißer Leinenkleidung kam heraus und streckte ihr die Hand hin.
„Guten Tag, Frau Ahmadi. Ich bin Doktor Nicolas Kazek.“
Natalie ergriff Doktor Kazeks Hand. Nichts anmerken lassen. Du bist verunsichert und ängstlich. Du suchst nach einer Schulter, an der du dich anlehnen und ausweinen kannst.
„Kommen Sie doch rein. Da drin ist es etwas wärmer als im Flur.“
Im Besprechungszimmer war es tatsächlich mollig warm. Als Einrichtung gab es nur einen kleinen Schreibtisch, der ganz an die Wand gerückt worden war, eine altmodische Liege und zwei bequeme Sessel. Es war nicht so grell erleuchtet wie der Korridor, und ein großes Fenster gab den Blick auf die vertraute Wiederaufbau-Landschaft frei: Weitläufige landwirtschaftliche Flächen und hydroponische Anlagen, durchsetzt mit wolkenkratzerhohen Gebäuden, die so gebaut waren, dass möglichst viele Menschen auf möglichst wenig Fläche leben konnten. Einige von ihnen waren Fabriken mit unzähligen Produktionsetagen. In einigen Kilometern Entfernung, noch gut in Sichtweite, konnte man das scheinbar unüberwindliche Grauschwarz der Todeszone ausmachen, die immer noch fast den ganzen Planeten umfasste. An der Grenze krochen die Entgiftungsmaschinen im Schneckentempo voran. Und sie wurden langsamer, wie Natalie so gut wie alle anderen wusste. Sie stießen in Regionen vor, die schon vor der Auslöschung praktisch unfruchtbare Wüste gewesen waren. Seit etlichen Jahren hatte die Rückeroberung kaum Fortschritte gemacht, die Erde in der Lebenszone begann auszulaugen, die Nährstoffanreicherung konnte kaum noch nachziehen, und die Menschen hatten mit Panik und dem Ruf nach rigider Rationierung und Geburtenkontrolle reagiert.
Irgendwann waren die Radikalsten in die entscheidenden Ratspositionen gewählt worden und hatten die Forderungen umgesetzt. Und zwar sehr gründlich.
Dieses Fenster hatte die ideale Lage, um uneinsichtigen Patienten die Lage vor Augen zu führen.
„Möchten Sie lieber liegen oder sitzen?“
Natalie zuckte zusammen. Kazek hatte sie fast vergessen. Das Panorama hatte sie gefangen genommen, nachdem sie es so viele Wochen ( oder waren es Monate? ) nicht mehr gesehen hatte. Und schon gar nicht aus dieser Höhe.
„Danke, ich möchte liegen.“ Sitzen hätte geheißen, mit ihm auf gleicher Augenhöhe stehen zu wollen. So ein Verhalten erweckte Misstrauen. Und sie hätte ohnehin nicht in Versuchung kommen wollen, eine hitzige Diskussion vom Zaun zu brechen, mit der sie nur erreichte, ihren Aufenthalt hier weiter zu verlängern. Nein, sie verbrachte die Sitzung lieber liegend. Das würde auch auf ihr Verhalten im Gespräch rückwirken.
„Wissen Sie, warum Sie hier sind, Frau Ahmadi?“
Er sprach dabei die erste Silbe ihres Namens korrekterweise als „Ach“ aus, wie Natalie anerkennend feststellte. So hatten ihre Vorfahren ihn weitergegeben, und Kazek zollte ihm Respekt. Eine Geste, die nicht einmal von jedem erwartet wurde. Aber es machte die Frage nicht angenehmer. Wie drückte sie es neutral aus?
„Weil ich ein Kind ohne Genehmigung großziehen wollte.“
Kazek nickte. „Das könnte man meinen. Aber so einfach ist es nicht, und das wissen Sie.“
„Wie meinen Sie das?“
„Warum sollte man Sie in eine Nervenklinik stecken, wenn Sie einfach nur gegen die Regeln verstoßen haben? Warum steckt man Sie nicht ins Gefängnis oder bestraft sie mit Entzug von Gütern und Privilegien? Sie haben in der Geologischen Abteilung der Wiedererschließung gearbeitet, und das ist eine sehr privilegierte Stellung.“
Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen und ihr die Zeit für eine Antwort zu geben.
Sie musste zugeben, das war eine ziemlich gute Frage, um sie aus der Reserve zu locken. Was sollte sie jetzt sagen?
Oh, natürlich, Sie wollen, dass ich der Gesellschaft die Absolution erteile und einsehe, dass es meine Schuld war. Sicher, Herr Doktor, es tut mir Leid und soll nie wieder vorkommen. Ich geb’s Ihnen schriftlich. Kann ich jetzt gehen?
„Ich … erlitt einen Zusammenbruch, als man ihn mir wegnahm.“
„Ja, das ist wahr. Und um ehrlich zu sein, keine geistig gesunde Frau in ihrer Situation hätte emotional anders reagiert. Und wir bieten eine freiwillige Therapie an, damit es den Betroffenen möglich wird, den Verlust zu akzeptieren, den kein Mensch erdulden sollte.“
Natalie blinzelte. In Kazeks Tonfall lag mehr Mitgefühl, als sie erwartet hatte.
Nein, das war es nicht. Mit manipulativer Heuchelei hatte sie gerechnet. Aber in seiner Stimme fehlte jede Spur davon. Kazek spielte nicht, er empfand wirklich so. Das wusste sie einfach.
„Wir unterstützen den Heilungsprozess, so gut es geht. Aber die Heilung kann nicht beginnen, wenn der Mensch seine Verletzungen bewusst offen hält und Salz hineinstreut. Es ist ein Unterschied, ob man seinen Schmerz anerkennt oder ihn kultiviert und wachsen lässt.
Sie waren in den letzten Wochen eine Gefahr für sich selbst, Natalie. Für sich selbst und andere. Würden Sie das abstreiten?“
Das konnte sie nicht. Selbstverständlich war sie eine Gefahr gewesen für die Schlächter, die ihren Sohn wegbrachten, und danach für deren Helfershelfer, die sie in die Zelle steckten und daran hinderten, sich auf die Schlächter zu stürzen. Und auch für sich selbst, denn Hungerstreik konnte tödlich enden.
„Nein.“
„Sehen Sie. Aber wie war ihr Verhalten vorher? War es rational, war es vernünftig, war es verantwortlich? Sie waren in einer Position, in der sie die allgemeine Lage unmöglich verdrängen konnten, Natalie. Sie wussten genau von unseren Problemen bei der Wiedererschließung und Bodendüngung. Sie gehören zu den Menschen, die direkten Einblick in eine unbequeme Wahrheit haben: Dass wir nicht wissen, ob unsere Spezies überhaupt noch mehr als ein paar Generationen überleben wird.
Ich habe Ihre Berichte gelesen, wissen Sie. Es gibt dort eine Entwicklung. Bis vor zwei Jahren waren Sie nicht optimistischer als die anderen Wissenschaftler auch. Dann war es, als würden Sie sich verzweifelt an die Hoffnung klammern, wir könnten bald auf fruchtbare Gebiete stoßen; Ihre Kollegen haben die Hinweise überprüft, die Sie angaben, aber keiner von ihnen kam zu denselben Schlüssen wie Sie. Man appellierte sogar an Sie, den Menschen keine falschen Hoffnungen einzureden.“
Natalie nickte. Das alles entsprach der Wahrheit. Die Verzweiflung hatte gedroht, die gesamte Geologische Abteilung zu übermannen. Wäre es so weit gekommen, dann hätte es auch den Rest der Wiedererschließung erfasst und von da aus den Rest der Gesellschaft. Es konnte aber kein Überleben in Verzweiflung geben.
Die Suche nach Hoffnung war ihr Antrieb gewesen, als sie sich zum Geologenteam meldete. Die gesamte Zeit danach hatte sie wie die anderen nach Lichtblicken gesucht, wenn sie die Zusammensetzung des Bodens analysierte, damit die Maschinen justiert werden konnten, die nicht nur die Gifte neutralisierten, sondern auch die Beschaffenheit des Bodens veränderten, damit er wieder fruchtbar wurde.
Die Technik hatte Grenzen; jeder Kubikmeter musste mit Stoffen angereichert werden, die es nur in der Lebenszone gab. Man konnte sie aus den Pflanzen selbst gewinnen, aber der Boden konnte nicht bis in alle Ewigkeit den gleichen Ertrag bringen, wenn er so beansprucht wurde wie es jetzt notwendig war – selbst dann nicht, wenn wirklich jedes Quäntchen Abfall recycelt wurde. Also brauchte es neuen Boden.
Noch wurden die Menschen satt, aber nur dank der Geburtenkontrolle. Zweihundert Jahre war es her, dass die Katastrophe den Planeten heimgesucht hatte, und seitdem bemühte sich ein lächerlicher Rest der einstmaligen Milliardenbevölkerung, auf einem kleinen Fleck zu überleben, den es irgendwie weitgehend verschont hatte. Die Anzahl der Menschen nahm seit Jahrzehnten ab.
Natalie hatte Zeichen setzen wollen. Sie hatte allen zeigen wollen, dass es selbst in der düstersten Lage immer noch ein Fünkchen Hoffnung geben musste. Ohne Hoffnung hatte nichts mehr einen Sinn.
Also hatte sie die Forschungsberichte, nun, nicht gefälscht, aber gefärbt, denn Daten mussten interpretiert werden, und niemand konnte einem Forscher vorschreiben, wie optimistisch oder pessimistisch er zu sein hatte.
„Eine ganze Menge Leute hat auf Sie gehört, Natalie.“ Kazek fixierte sie mit kummervollen Augen. „Viele fingen an, ein Ende der Geburtenkontrolle zu fordern, und dabei dienten Ihre Dateninterpretationen als Vorwand. Sie taten geradezu so, als ob die Gesellschaft es sich leicht machte, als würde das, was wir tun müssen, nur auf dem Gewissen einiger Erleuchteter lasten und nicht auf dem Gewissen aller.
Doch selbst wenn wir Ihren Optimismus zugrunde gelegt hätten: Die Zahl der Menschen hätte nicht steigen dürfen. Auch in Ihrem Szenario hätten wir erst einmal eine Phase noch größerer Knappheit durchmachen müssen.
Sie wussten das. Aber haben Sie sich auf das Große Forum gestellt und es Ihren Anhängern erklärt? Haben Sie es über das Netzwerk verbreitet und jedem Einzelnen schriftlich gegeben, dass es immer noch keinen Anlass für utopisches Wunschdenken gibt?“
Dieses Gespräch begann sie zu verwirren. Worauf wollte Kazek hinaus? Sie war darauf gefasst gewesen, die alleinige Verantwortung für den Tod ihres Sohnes auf sich zu nehmen und dann die Klinik zu verlassen, zumindest bald.
Was hatte ihr Kind mit der gesellschaftlichen Stimmung zu tun? Und wieso gab man ihr plötzlich die Schuld daran, dass einige Leute ihre Forschungsberichte missverstanden? Was ging hier eigentlich vor?
„Ich habe das nicht getan, weil ich es nicht für notwendig hielt. Es gab doch genug andere, die den Menschen erklärten, wie die Dinge liegen.“
„Und diesen anderen haben Sie das Feld überlassen? Damit die den Menschen sagen, dass nichts dran wäre an Natalie Ahmadis Berichten? Einfach so, ohne die Chance zu ergreifen, dass die Erklärungen Ihren Stempel tragen und nicht den der Pessimisten?“
Beunruhigung, Verwirrung, Frustration, Wut begannen unversehens hinter Natalies bleiernem Mantel der Erschöpfung zu brodeln und wollten durchbrechen. Sie musste sich beherrschen, um Kazek nicht ins Gesicht zu brüllen, was zum Teufel er von ihr wolle.
„Denken Sie nach, Natalie. Wollten Sie nicht auch an die Thesen dieser Fanatiker glauben, auch wenn Sie es eigentlich besser wussten? Haben Sie vielleicht deswegen nichts unternommen?“
Reflexartig antwortete sie: „Natürlich nicht. Wie käme ich dazu …“
Sie hatte fortsetzen wollen: … meine eigenen Forschungsberichte falsch auszulegen. Aber die Worte kamen nicht über ihre Lippen. Wie sollte sie beweisen, dass sie nicht doch optimistischer gewesen war als ihre Berichte? Dass ihre Hoffnung nicht so irrational groß war, dass sie sie mit einem Kind demonstrieren wollte?
Kazek wartete, ernst und geduldig. Natalie schwieg und verfluchte ihre Sprachlosigkeit.
„Wissen Sie, was ich in Ihrer Antwort vermisse, Natalie?“ Sein Ton war nicht triumphierend, nicht belehrend. Nur eindringlich.
„Sie solidarisieren sich in keinster Weise mit denen. Sie haben niemals auch nur ein kritisches Wort zur Geburtenkontrolle fallen lassen.
Dabei haben selbst die Exekutivräte - die gewählt wurden, weil sie das umsetzen, was die Mehrheit als notwendig erkannt hat – auf dem Forum immer wieder erklärt, wie sehr ihre Aufgabe an ihrem Gewissen nagt. Einige haben sogar schon gesagt, dass sie Zweifel haben, ob sie das Richtige tun. Niemand hat sie deswegen abgesetzt. Wie sollten wir auch? Es geht uns allen nicht anders als ihnen.“
Kazek beugte sich nach vorn, sein Gesicht nur eine Ellenbogenlänge von ihrem entfernt.
„Sagen Sie mir die Wahrheit, Natalie: Bezeichnen Sie sich selbst als politische Aktivistin?“
Politische Aktivistin? Nein, das war sie nie gewesen. Ihre politische Mission hatte darin bestanden, der Menschheit beim Überleben zu helfen. Gesellschaftliche Belange waren immer die Sache der anderen gewesen.
Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie sich der Bewegung anschloss, um gegen die Barbarei der Kindstötung zu kämpfen. Aber das Bild war blass hinter dem Dunstschleier der Erschöpfung. Der Kampf war für sie verloren, welchen Sinn hatte er noch? Das Bild von Raoul, ihrem Ehemann, stand ihr viel klarer vor Augen und spendete ihr Trost – und hielt ihren Lebenswillen aufrecht.
Kazek verzog keine Miene, als sich ihr Schweigen hinzog. Offenbar war ihm das als Antwort genug.
„Sehen Sie“, fuhr er fort. „Was ich aber nicht verstehe, ist, was Sie wirklich zu dem bewegt hat, was Sie getan haben.“
Diesmal wartete er länger auf Natalies Entgegnung. Sie versuchte sich zu sammeln, um ihre Motive zu erklären. Das Gespräch hatte einen Verlauf genommen, auf den sie nicht im Mindesten vorbereitet war. Es war falsch gewesen, einfach nur ein Eingeständnis heucheln zu wollen, das erkannte sie jetzt. Wie hätte sie das glaubwürdig vermitteln sollen, wenn ihr Therapeut mehr über sie zu wissen schien als sie selbst? Aber was sollte sie sonst tun? Um Verständnis werben? Wie konnte sie darauf hoffen, damit etwas erreichen zu können? Aber etwas anderes wollte ihr nicht einfallen, und das Schweigen zog sich hin und wurde immer unangenehmer, während Kazeks erwartungsvoller Blick auf ihr ruhte. Sie war am Zug; ein Zurück gab es nicht. Sie hatte vor den Schergen des Geburtenkontrollrates schon etwas dazu gesagt, daran erinnerte sie sich verschwommen. Aber es war der Ausruf einer verzweifelten Mutter gewesen, ein irrsinnig hysterischer Versuch, das Leben des eigenen Kindes zu retten. Vielleicht würde ihr jetzt jemand zuhören.
„Hoffnung“, entgegnete sie schließlich. „Ich wollte mit Raoul zusammen ein Zeichen setzen, dass wir uns nicht aufgeben dürfen. Ohne Hoffnung sind wir tot. Es macht dann keinen Unterschied mehr, ob wir körperlich sterben.“
Kazek nickte. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie eine subtile Veränderung in seinem Gesichtsausdruck, eine Art Verschlossenheit, die sich plötzlich hinein stahl, als würde er sich unbehaglich fühlen. Der Eindruck verflog aber so schnell, wie er gekommen war.
„Aber Sie haben dieses Zeichen im Geheimen gesetzt, für niemanden sichtbar außer für Raoul und Sie.“
„Natürlich.“ Feindseligkeit schlich sich in ihre Stimme.
„Das bedeutet, dass es auch für niemand anderen bestimmt war. Keine Botschaft, die Sie an den Rest der Menschheit schicken wollten. Kein Fanal des Widerstands. Nur für Raoul und Sie.“
„Für jemand anderen konnte es ja auch nicht bestimmt sein, oder?“ Der feindselige Unterton wurde stärker, lauter. Sie konnte nichts dagegen machen.
„Sie haben das Kind von Ihren Rationen miternährt.“
„Ja, natürlich.“
„Und deshalb dachten Sie wohl auch, dass an Ihrem Verhalten nichts Verwerfliches sein konnte.“
Natalie funkelte ihn an. Ja, sie wollte in der Tat gerne hören, was sich dieser scheinheilige Helfershelfer von Mördern einfallen ließ, um aus ihr die Täterin zu machen.
„Was hätten Sie denn getan, wenn das Kind älter geworden wäre? Hätten Sie es bis ins Erwachsenenalter von Ihren Rationen ernährt?“
Sie kniff die Lippen zusammen. Ja, dazu wäre sie bereit gewesen. Andererseits hatte sie auch im Interesse ihres Kindes gehofft, nicht für immer durch drei teilen zu müssen.
„Irgendwann wären Sie alle drei unterernährt gewesen, Natalie. Und dabei ist nicht einmal berücksichtigt, ob die Rationen in den nächsten Jahrzehnten nicht ohnehin gekürzt werden müssen.
Aber so wäre es nicht gekommen, nicht wahr? Wenn es eines Tages so alt gewesen wäre, dass die Gesellschaft es aufnehmen muss, dann hätte es eine eigene Ration bekommen. Nicht nur Sie, die ganze Gesellschaft hätte dann verzichten müssen.“ Er beugte sich wieder nach vorn. „Wann wollten Sie die Existenz ihres Sohnes offen legen?“ Zum ersten Mal benutzte er die Geschlechtsbezeichnung.
Über diesen Punkt hatte sie allerdings nachgedacht. Sie hätte ihn unmöglich in der Forschungsanlage und der angeschlossenen Wohnung gefangen halten können.
Die Schwangerschaft geheim zu halten war noch einfach gewesen. Sie und Raoul hatten abgeschieden gelebt. Unter einem Vorwand hatten sie sich zu einem Außenposten versetzen lassen, der zur Überwachung der Entgiftung ausgelegt war und um den sich niemand riss.
Ihr Sohn hätte mit ihnen in der Station gelebt, bis er so alt war, dass niemand es mehr verantworten konnte, ihn zu töten. Dann wollte sie die Gesellschaft vor vollendete Tatsachen stellen: Erklärt uns zu Verbrechern oder hofft mit uns.
All das hatte sie viele Male durchdacht – zwar erst mit einer gewissen Verspätung, aber das konnte Kazek nicht wissen. Und sie würde sich hüten, es ihm zu erzählen.
„Wenn er alt genug ist, dass niemand ihn mehr umbringen wird, nur weil er da ist.“
„Wann genau wäre das denn gewesen? Wann wäre es mit keinerlei Risiko verbunden gewesen, ihn zu zeigen?“
Sie zögerte. „Ein paar Jahre. Drei. Vielleicht vier.“
„Und nach, sagen wir, vier Jahren wären Sie ganz sicher gewesen, dass man ihn akzeptiert? Wirklich sicher? Immerhin wäre es um sein Leben gegangen.“
„Ich verstehe nicht …“
„Sind Sie sicher, dass Sie nach vier Jahren den Mut gefasst hätten, ihn aus der Beengtheit der Forschungsstation zu entlassen? Oder hätten Sie auf Nummer sicher gehen wollen und ihn noch ein weiteres Jahr drin behalten wollen, und dann vielleicht noch eins? Statt dass er auf dem Forum mit den anderen Kindern spielt und in den hydroponischen Anlagen herumtollt und die Welt entdeckt? Wenn Sie vor die Entscheidung gestellt worden wären, ob seine Sicherheit wichtiger ist oder dass er ein Leben hat wie andere Kinder – wofür hätten Sie sich im Zweifelsfall entschieden?
Sie hätten einen Präzedenzfall geschaffen, Natalie. Bisher konnte kaum eine unautorisierte Schwangerschaft länger als sieben Monate geheim gehalten werden, und die Fälle, in denen es zur Geburt gekommen ist, sind sehr selten. Länger als ein paar Tage ging auch das nie gut. Andere Eltern genossen nicht den Luxus der Abgeschiedenheit, wissen Sie? Die Folge davon ist: Wir wissen nicht, wo wir die Grenze ziehen sollen.“
Schockiert sank Natalie auf ihrem Sessel zusammen. Wie hatte sie sich dessen nicht bewusst sein können? Bei dem Gedanken an ihren Sohn, wie er einsam, abgeschnitten von der Außenwelt und anderen Kindern, in der Station aufwuchs, hatte sie sich bereits während der Schwangerschaft schuldig gefühlt. Aber der Gedanke, dass er noch immer im Kindesalter frei sein konnte, hatte ihr Gewissen beruhigt.
„Und was hätten Sie dem Kind alles aufgebürdet? Nicht nur, dass Sie Ihm hätten beibringen müssen, dass alle Menschen außer seinen Eltern seine Feinde sind, vor denen er sich zu verstecken hat, wenn sie zu Besuch kommen; er hätte niemals wie ein normaler Mensch behandelt werden können, weder bei den Befürwortern der Geburtenkontrolle noch bei ihren Gegnern.
Den einen wäre er eine Verkörperung ihres schlechten Gewissens gewesen, die lebende Erinnerung an Taten, von denen alle wissen, dass sie notwendig, aber falsch sind; sie hätten sich in seiner Nähe unbehaglich gefühlt.
Die anderen hätten ihn als Galionsfigur benutzt für ihren Kreuzzug gegen die Geburtenkontrolle, um so endlich die Mehrheit auf ihre Seite zu bekommen. Er wäre überall herumgezeigt worden, als wäre er die Wiedergeburt eines Heiligen oder Propheten.
Stellen Sie sich das einmal für ein Kind vor, Natalie: Feindseligkeit auf der einen, Anbetung auf der anderen Seite. Und dazwischen Befangenheit. Keine Menschen, die ihm unvoreingenommen begegnen. Nicht einmal Kinder. Denn deren Eltern haben ihnen garantiert erzählt, wer er ist und was er darstellt.“
Jedes Wort schnitt wie ein Messer in ihre Seele; legte ihre Gedankenlosigkeit bloß; zerrte ihre Motive ans Tageslicht und zeigte, wie egoistisch sie sich in Wahrheit verhalten hatte.
Schon der Name, den sie sich für ihren Sohn ausgedacht hatte, drückte ihm einen Stempel auf: Espoir. Das war französisch und hieß „Hoffnung“.
Espoir, vergib mir. Ich habe nie darüber nachgedacht, was ich dir antue.
Kazek ließ seine Worte noch ein paar Sekunden lang wirken, dann ergriff er wieder das Wort. „Natalie, ich muss noch etwas von Ihnen wissen. Raoul trägt genauso viel Schuld wie Sie an der Sache, und er hat es auch nicht zurückgewiesen. Die Ereignisse sind ein Schock für ihn gewesen, und zunächst hat er uns verurteilt, so wie Sie. Aber er hat es schneller überwunden als wir dachten. Inzwischen wird in Erwägung gezogen, ihn wieder vollständig zu rehabilitieren.“
Natalie wollte die plötzliche Flut der Erleichterung verbergen, die ihren Geist durchspülte, aber sie konnte es nicht. Und nicht nur, weil sie der Themenwechsel völlig überrascht hatte. Raoul war in den letzten Monaten der einzige Mensch gewesen, um den sie sich gesorgt hatte. Jeder tröstliche Gedanke an ihn war von Angst begleitet gewesen: wie hart man ihn bestraft hatte; ob er überhaupt noch seine Arbeit tun durfte, oder ob man doch noch entschieden hatte, ihn auch einzusperren; ob die Kollegen und Freunde ihn noch akzeptierten, oder ob er durch ihre Schuld Außenseiter war; und ob er ihr verziehen hatte oder einen Groll gegen sie hegte.
Zumindest zum ersten Punkt hatte sie jetzt Gewissheit, zum dritten wenigstens Hoffnung.
Kazek legte wieder eine Pause ein. Sein Blick fixierte sie, prüfend. Sie kam sich vor wie ein Bazillus unter dem Mikroskop.
„Sagen Sie mir die Wahrheit: Haben Sie die Schwangerschaft gemeinsam geplant, oder stellten Sie ihn vor vollendete Tatsachen?“
Sie krümmte sich innerlich zusammen wie ein ertapptes Kind. Sie hatte immer gehofft, dass man sie als Ideenstifterin und ihn als Mitläufer ansehen – oder vielmehr: erkennen – würde.
Aber es war eine andere Sache, es freiheraus zugeben zu müssen. Dass sie selbst in einer Weise vorgegangen war, derer sie sich schämen musste. So schäbig und erpresserisch vor den Menschen zu treten, den man liebte, und ihm ins Gesicht zu sagen: Entweder du hilfst mir, oder du verrätst mich.
Wie konnte sie anklagend auf andere zeigen, wenn sie selbst Scham empfand? Und noch wichtiger: Wie sollte sie wieder gutmachen, was sie angerichtet hatte?
Und wieso hast du mit dieser Frage nicht gerechnet? Obwohl, welche Antwort hättest du dir schon zurechtlegen sollen?
Diesmal ließ Kazek ihr alle Zeit der Welt zum Antworten. Wieder hatten ihre Worte Schwierigkeiten, die Lippen zu verlassen.
„Ich habe ihm erst im Nachhinein von meiner Schwangerschaft erzählt“, presste sie schließlich hervor. „Ich wusste, dass er es für eine Sünde hält, das ungeborene Leben zu töten. Ich glaubte, er würde nur einen Schubs in die richtige Richtung brauchen, um sich für meine Idee zu begeistern.“
Sie widerstand dem Impuls einzuräumen, dass es nach einiger Zeit funktioniert hatte. Raoul sehnte sich genauso nach Hoffnung wie sie; niemals hätte er sich eine unerlaubte Vaterschaft aufdrängen lassen, wäre es anders gewesen. Und in den Monaten, die Espoir vergönnt gewesen waren, war er der liebevollste Vater gewesen, den man sich vorstellen konnte.
Aber sie war sich nicht sicher, ob ihn das belasten würde. Er hatte sich auf die Geburtenkontrollschläger wie ein Berserker gestürzt, bis man ihn krankenhausreif prügelte, was in den Augen der Räte Bände sprechen musste. Dennoch wollte man ihn wieder vom Haken lassen. Sie durfte ihm das nicht kaputt machen.
Der Therapeut nickte, als habe er nichts anderes erwartet. „Das war eine Frage, die wir klären mussten. Unter den Gutachtern gibt es verschiedene Meinungen, was seine Rolle in der Sache angeht. Sie haben soeben bestätigt, was ich mir bereits dachte. Wenn Sie es offiziell machen, wird das wahrscheinlich das Zünglein an der Waage für seine Rehabilitierung sein. Wir brauchen gute Geologen wie ihn – und Sie – und können es uns nicht leisten, sie für immer stillzulegen, weil sie in ihrem Leben einen Fehler gemacht haben.“
Er blickte sie direkt an. „Wenn Sie Heilung suchen, Natalie, müssen Sie die Schuld vor sich selbst eingestehen. Aber diese Entscheidung betrifft nur Sie allein.
Wenn Sie Raoul helfen wollen, sollten Sie so schnell wie möglich offiziell zugeben, die treibende Kraft gewesen zu sein. Nicht, dass es Ihnen nicht helfen würde.“ Er lächelte, und es wirkte warmherzig und echt. „Bisher durfte er Sie nicht besuchen, weil wir nicht sicher waren, ob es Ihrer Entwicklung schadet. Ob er Sie nicht eventuell in Ihren Illusionen bestärkt. Aber nun bin ich mir sicher, dass es nicht der Fall sein wird.“
Natalies letzter Widerstand zerbarst wie ein Tonkrug unter einem Hammer. Immer noch spürte sie Groll in sich, aber nun war er überlagert von Verwirrung und Selbstzweifel. Sie wollte noch immer den Geburtenkontrolleuren die Schuld an allem geben, aber jetzt war sie nicht mehr sicher, wie viel Schuld sie selbst beigesteuert hatte. Wie viel von dem Hass, den sie auf die Schlächter empfand, hatte sie selbst verdient?
Und nun würde sie endlich wieder mit ihrem Mann zusammen sein. Sie würde endlich wieder einen Anker haben, der sie im Diesseits festhielt.
Ja, sie würde die Geschehnisse aufarbeiten und auch den Anteil, den sie selbst daran hatte. Sie würde versuchen, die Heilung in Gang zu setzen und wieder zur Normalität zu finden. Und dazu musste sie irgendwann ihren Groll überwinden.
„Es war mein Fehler“, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. „Ich habe meinen Mann in eine unerträgliche Zwangslage gebracht. Ich habe meinem Kind beinahe ein Leben in Unfreiheit aufgezwungen. Ich habe allen anderen eine Entscheidung aufgezwungen, wie sie niemand haben sollte.“
Beim letzten Satz schmeckte sie noch Galle, aber es war besser, es gleich auszusprechen, statt sich dazu drängen zu lassen.
Die Erleichterung in Kazeks Miene war so offen und ehrlich, dass Natalie ihn erstaunt anblickte.
Nein, nicht nur Erleichterung. Dankbarkeit. Als hätte er sehnsüchtig gewartet, dass ich ihm eine Last von den Schultern nehme.
Ihre Verwirrung wuchs, als er ihre Hand in seine beiden nahm und fest drückte.
„Danke, Natalie. Sie haben sich damit sehr geholfen, und auch Raoul. Und allen anderen.“
Beim letzten Satz huschte sein Blick kurz zur Seite, und er fuhr hastig fort: „Wir haben für Sie ein neues Zimmer vorbereitet. Es ist ein bisschen geräumiger und komfortabler als Ihr altes.“ Er lächelte entschuldigend. „Sie werden in ein paar Tagen noch einmal offiziell vor dem Beurteilungsrat Ihre Aussage von gerade eben wiederholen müssen. Bis dahin wird Raoul Sie besuchen können. Und nach ein paar weiteren Tagen sind Sie wieder draußen.“
Natalie nickte nur. Sie versuchte entschlossen, sich die plötzliche Eruption von Euphorie nicht anmerken zu lassen.
Nach dem formellen Abschied fand sie sich allein auf dem Flur wieder, in der Hand den Schlüssel zum neuen Zimmer, und folgte wie in Trance der Wegbeschreibung.
Sie hätte sich wie eine Verräterin vorkommen müssen. Stattdessen konnte sie an nichts anderes denken als an das Leben, das sie endlich wieder zurückbekommen würde.
Die Schuld und der Hass brannten dumpf im Hintergrund ihres Geistes, es war verwirrend, wie sich beide miteinander vermischten. Ohne fremde Hilfe würde sie sich nicht mit ihnen auseinandersetzen können. Aber sie wusste auch, dass sie Heilung suchen musste. Nur so konnte sie wieder Hoffnung schöpfen. Und damit ihren Sohn in Ehren halten.

 

MB, anlässlich dessen Rückkehr ich vor Begeisterung in paar ausrangierte Raumschiffe mit Feuerwerk beladen in Supernovae schieße, präsentiert ein nachdenkliches Social-Fiction-Kammerspiel. Der ausführliche Dialog erforscht die Details der Situation und tastet sich bis in den Bereich gesellschaftlicher Folgen des Tuns Einzelner vor. Schuld, Verzweiflung, Hoffnung - Themen, die immer aktuell sind, werden am Beispiel des Zwangs zu Vernunft auf Kosten der Selbstbestimmung beleuchtet.

Man muss sich auf die Geschichte einlassen und darf keine Action und Spannung erwarten. Nicht einmal das Ambiente spielt eine wesentliche Rolle; insofern ist die Reduktion auf die Innenwelt der Hauptfigur (mit dem Gegenüber als Reflektions-Trigger) beinahe schmerzhaft. Ich bin sicher, dass diese Geschichte viele Leser überfordern wird.

Ich empfinde das Werk als gelungenen Beitrag; ledlglich der letzte Abschnitt, der einen Perspektivwechsel mit sich bringt, erscheint mir fragwürdig. Fügt er der Geschichte etwas relevantes hinzu? Nach meinem Verständnis nicht. Der Text könnte m.E. ohne weiteres auf ihn verzichten, würde vermutlich sogar gewinnen: Die Lektüre ist anstrengend genug, warum dem Leser noch den Perspektivwechsel zumuten?
Aber vielleicht übersehe ich da auch was.

Danke für die Geschichte und danke für Deine Rückkehr. Bleib ein bisschen, ja? ;)

Uwe
:cool:

 

Danke für die Geschichte und danke für Deine Rückkehr. Bleib ein bisschen, ja?

Okay, ich versuche es. ;)

Die Ambivalenz der Story ist tatsächlich so groß, dass nicht mal ich als Autor wüsste, wo ich stehen soll. :D
Dass sie dadurch kontroverse Interpretationen zulässt, ist durchaus nicht unbeabsichtigt.
Hoffentlich wirkt sich der hohe Anspruch nicht negativ aufs Feedback aus *hoffundbet*.

Den Perspektivenwechsel am Schluss hatte ich eingebaut, um eine Außenperspektive einzubringen, die herausstellt, warum es gerade in Natalies Fall so wichtig ist, sie "zur Vernunft zu bringen". Ich dachte, dass es ihre Perspektive verändert hätte, wenn sie davon wüsste.
Wenn ich es mir recht überlege, ist das vielleicht doch nicht der Fall.
Ich warte erst mal ab, was der nächste Kritiker zu diesem Punkt sagt.

 

Hallo Megabjörnie,

du hast eine saubere Geschichte geschrieben. Sprachlich und stilistisch sind mir keine Schnitzer aufgefallen*, das Setting ist interessant und wird glaubhaft vermittelt, die Psychologie der Figuren und ihr "Duell" miteinander ist gut ausgearbeitet.
Aber leider finde ich nicht den Draht zu Natalie. Ihr Schicksal lässt mich völlig unberührt. Mit welchem Ergebnis sie nun aus dem Gespräch mit dem Therapeuten herauskommt, interessiert mich zwar auf einem intellektuellen Niveau, aber nicht emotional.
Vielleicht, weil über die Gefühle immer nur nachgedacht und gesprochen und hypothetisiert wird, aber sie nicht gezeigt werden?
Vielleicht wäre ein Einstieg in die Geschichte mit einer Szene, in der Natalie das Kind von den Häschern aus den Armen gerissen und ihr Mann zusammengeschlagen wird, in der wir ihre Angst und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erleben, ein Weg, eine stärkere emotionale Bindung zu Natalie aufzubauen?
Umso stärker hätte der Leser am Ende Reflektionsspielraum über den Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft. Wem gilt es zu folgen, wenn man zwischen dem Überleben seiner Famile und dem Überleben der Menschheit entscheiden muss. (Ganz nüchtern betrachtet ist die Antwort natürlich klar. Gerade deswegen vermisse ich halt den emotionalen Gegenpol zu dieser Perspektive.)

ledlglich der letzte Abschnitt, der einen Perspektivwechsel mit sich bringt, erscheint mir fragwürdig. Fügt er der Geschichte etwas relevantes hinzu? Nach meinem Verständnis nicht.
Hier schließe ich mich tendentiell Uwe an. Den letzten Abschnitt fand ich auch etwas aus der Geschichte heraustretend.

Viele Grüße,
Teetrinker.

* Na, ja, einer doch:

Er hatte sich auf die Geburtenkontrollschläger wie ein Berserker gestürzt, bis man ihn blutig zusammenschlug,
Die beiden Schlag-Variationen vertragen sich nicht so gut, finde ich.

 

Vielleicht wäre ein Einstieg in die Geschichte mit einer Szene, in der Natalie das Kind von den Häschern aus den Armen gerissen und ihr Mann zusammengeschlagen wird, in der wir ihre Angst und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erleben, ein Weg, eine stärkere emotionale Bindung zu Natalie aufzubauen?

Hmmm, nur habe ich das Gefühl, dass diese Szene dann nicht mehr in die Geschichte passen würde. Es geht im Grunde die ganze Zeit um die Therapiesitzung und die Entwicklung der Hauptperson, die sich im Dialog vollzieht.
Was du vorschlägst, ist der Einbau einer Actionszene in einer Reflektionsstory zu einer gesellschaftlichen Problemstellung. Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Der nächste Kritiker würde sich daran stören und meinen, die Story gewänne nichts dadurch.
Und wenn Uwe sagt, die Konzentration auf das Innere der Hauptperson sei "beinahe schon schmerzhaft", dann muss auf emotionaler Ebene etwas rübergekommen sein. Und Leser, die selbst Kinder haben, fühlen vielleicht doch mit Natalie und sind entsetzt über ihre Wandlung.
Man darf ja nicht vergessen, dass die Kindstötung nun mal Mord ist, auch wenn man ihn mit viel rationaler Begründung zu kaschieren versucht.

Könnte vielleicht die Ambivalenz verstärkt und die Unmenschlichkeit herausgestellt werden, wenn Espoir noch ein bisschen älter ist, als man ihn umbringt? Vielleicht ein Jahr oder mehr?

Beim letzten Abschnitt warte ich noch eine Antwort ab. Vielleicht muss ich den wirklich löschen.

Die Schlag-Variationen werden geändert. Wortwiederholungen mag ich auch nicht.

 

Was du vorschlägst, ist der Einbau einer Actionszene in einer Reflektionsstory zu einer gesellschaftlichen Problemstellung. Der Gegensatz könnte nicht größer sein.
Ja, da magst du recht haben. Allerdings hatte ich auch mehr daran gedacht, dass Natalie die Erinnerung an diesen Moment durchlebt, als sie auf die Sitzung wartet. Kommt aber im Endeffekt auf das gleiche raus.

Könnte vielleicht die Ambivalenz verstärkt und die Unmenschlichkeit herausgestellt werden, wenn Espoir noch ein bisschen älter ist, als man ihn umbringt? Vielleicht ein Jahr oder mehr?
Vielleicht eine Kombination mit einer emotionalen Einstiegsszene? Natalie erinnert sich daran, wie sie mit Espoir gespielt hat, oder wie sie ihre Ration soaufbereitet hat, dass sie ihn damit füttern konnte, vielleicht mit irgendwelchen geologischen Geräten oder so, und in diesem harmonischen Moment - Espoir sagt gerade zum ersten Mal "Mama" - wird die Tür von den Geburtenkontrollheinis aufgestoßen und Natalie ins Jetzt gerissen, weil ihre Sitzung anfängt.

Und Leser, die selbst Kinder haben, fühlen vielleicht doch mit Natalie und sind entsetzt über ihre Wandlung.
Nun, mit einem Kind kann ich dienen. Ich werde die Geschichte in den nächsten Tagen aber noch einmal lesen und versuchen darauf zu achten, woher die Distanz zu Natalie rührt. Ich melde mich dann.

 

Soooo, und hier eine etwas überarbeitete Version der Geschichte. Den Kazek-Absatz habe ich rausgenommen, dafür einen anderen an den Anfang gefügt, um der Story mehr emotionale Kraft zu geben.

Allerdings kam im Kazek-Absatz das Motiv "sich selbst ins Gesicht sehen" vor, womit sich eine Art Kreis schließen würde.
Hier noch mal der gelöschte Absatz, damit jeder, der das zum ersten Mal liest, sich ein Urteil machen kann:

Nicolas Kazek fühlte sich beschwingter, als er am Anfang der Sitzung erwartet hatte. Es gab auch Tage, an denen er kurz davor war, seine Aufgaben niederzulegen. Dies war keiner davon.
Einige Momente hatte er befürchtet, Natalie könnte wie Samija Hyung sein, die in seinen Sitzungen nur stumm dagesessen und ihn feindselig angestarrt hatte. Das Gesicht der Frau, die es danach irgendwie geschafft hatte, sich umzubringen, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt wie Säure.
Aber Natalie hatte sich für die Heilung entschieden. Das war diesmal besonders wichtig, für alle Menschen.
Die Gegner der Geburtenkontrolle versuchten immer hysterischer, die Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen. Und es hätte nur einen schlimmeren Ausgang nehmen können als den Selbstmord Natalies: Dass die Bewegung sie als Galionsfigur benutzte. Und von da an hätte es niemals gut ausgehen können. Im günstigsten Fall hätte die Gemeinschaft Der Überlebenden die Geburtenkontrolle aufgehoben und nicht gewusst, wie sie auf steigende Geburtenraten reagieren sollte. Im ungünstigsten Fall wäre es zu gewaltsamen Aufständen gegen die Kontrollkommission gekommen, und das Prinzip der Mehrheit hätte keine Gültigkeit mehr gehabt. Die Gemeinschaft wäre zerbrochen, und das wiederum hätte den Untergang der Menschheit bedeutet.
Aber all das würde nun nicht geschehen. Eine geläuterte Mutter
Während sich Nicolas im Bad mit kostbarem Wasser aus seiner Ration das Gesicht abtupfte, fiel sein Blick zufällig in den Spiegel. Und hielt inne. Zum ersten Mal seit Langem konnte Nicolas Kazek sich wieder unverkrampft ins Gesicht sehen.

So, jetzt aber Einsatz. :thumbsup:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom