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Gespräche mit den Schatten
Ein alter Mann in Dunton hatte mir von Corlis erzählt. Ein kleines, abgeschiedenes Dorf am Rande eines Moors, das gemieden wurde, weil die Menschen Duntons die Geschichten kannten: Einst soll in Corlis ein Mann gelebt haben, der Verbindung zu verbotenen Mächten aufnehmen konnte. Man sprach von Teufelsanbetung, Dämonenbeschwörung und zuweilen von Menschenopfern – nicht ein einziges Mal drangen handfeste Beweise bis nach Dunton, doch die Gerüchte hielten sich. Corlis wurde gemieden. Vor zwanzig Jahren war der Mann schließlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Doch sein Haus soll noch immer stehen: unangetastet und unverändert. Angereichert mit dem Wahnsinn der Hexerei.
Ich drängte den Alten nach mehr Informationen, doch er wurde ängstlich und flüsterte nur noch den Namen des „Hexenmeisters“: Gideon Merriphet.
Als ich diese Worte vernahm, schien eine Saite meines Selbst angeschlagen worden zu sein, und ich hastete mit meiner Reisetasche aus der Schenke. Ungeachtet des Regens machte ich mich sofort auf den Weg und begann meinen Marsch, der bald von gut ausgebauten Straßen über Feldwege führte. Der Alte hatte mir nur grob den Weg nach Corlis erklärt, doch ein untrügliches Gefühl der Sicherheit ließ mich Abzweigung für Abzweigung nehmen – und am Abend stand ich vor der kläglichen Ansammlung von Hütten, die auf der einen Seite von kargen Hügeln mit lediglich ein wenig Heidekraut flankiert und auf der anderen Seite von einem Moor bedroht wurde. Trüber Nebel hing in wabernden Fetzen über der gesamten Landschaft, was die Sicht noch zusätzlich zu den dunklen Wolken verschlechterte.
Ich spürte nun die Erschöpfung nach dem Marsch und näherte mich einem Gebäude, dessen modernes Auftreten mich auf Unterkunft hoffen ließ. Nach einem kräftigen Klopfen wurde geöffnet und ein schlaksiger, finster dreinblickender Mann stand vor mir.
„Guten Abend“, begann ich. „Vermieten Sie Betten für die Nacht?“
„Ja“, brummte er.
„Dann einen herzlich Guten Abend, werter Herr …“
„Kommen Sie rein“, brummte der Mann unwirsch, aber dafür deutlicher, als ich es von einem Hinterwäldler erwartet hätte. Ich tat wie mir geheißen und huschte ins Haus.
Der Innenraum empfing mich mit warmer, aber auch stickiger Luft. Dicke Holzbalken an Decke und Wänden beherrschten das Gesamtbild, das noch um einige dunkle Tische sowie eine ebenso düstere Theke ergänzt wurde. Licht kam von einer Deckenlampe, aber nur durch einen dicken Stoffschirm, sodass es den Raum kaum zu erhellen vermochte. Der Mann stellte mir ohne jeden Kommentar eine halbvolle Schüssel mit Suppe und einen Kanten Brot hin. Erstere war kalt, letzterer bereits hart und trocken, doch ich beschwerte mich nicht.
Der Mann kam noch einmal auf mich zu: „Name?“
„Philipp Finch. Und Sie?“
„Graham“, hielt es der Mann knapp. „Mr. Finch, Ihr Zimmer ist das erste, die Treppe rauf. Frühstück um acht. Wie viele Nächte?“
„Das kann ich noch nicht genau sagen. Zumindest mehrere werden es sein, je nachdem, wie gut ich mit meinen Nachforschungen vorankomme.“
Meine Hoffnung, Graham würde hier anbeißen und nachfragen, blieben unerfüllt. Stattdessen verzog er die Miene, als könne er Unbestimmtheiten nicht leiden und nannte mir den Preis für das Abendessen, die Nacht und das nächste Frühstück. Ich gab ihm das Doppelte, um gleich für den nächsten Tag versorgt zu sein und hoffte, damit sein Gemüt etwas zu erhellen – auch das blieb fruchtlos. Er legte mir den Schlüssel für mein Zimmer auf den Tisch und zog sich auf einen Sessel in der Ecke zurück. Zeit für Fragen ließ er mir nicht.
Also beschloss ich, mein Zimmer aufzusuchen und zu Bett zu gehen. Das Zimmer war sehr beengt, reichte aber für meine Bedürfnisse aus. Immerhin gab es ein Fenster, das den Eindruck schwächte, in einem Schrank schlafen zu müssen. Mittlerweile war es aber so dunkel und wolkenverhangen, dass auch ein pechschwarzes Gemälde dort hängen könnte.
In diesem Moment der Ruhe dachte ich nach. Ich konnte mir nicht erklären, weswegen ich plötzlich losgestürmt war – doch solche „Anfälle“ hatte ich öfter. Seit Jahren jagte ich mysteriösen Geschichten und dem Okkulten nach. Es war wie eine Sucht: hörte ich einmal davon, war ich wie elektrisiert und brach auf, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Angefangen hatten diese Zustände im Jugendalter. Aber erst seitdem ich vorgab, zu studieren und das Geld meiner Eltern nutzen konnte, brachten mich meine Reisen bis in die entlegensten Ecken unseres Landes.
Ein ruhiger Schlaf empfing mich, wenn auch nicht traumlos. Am nächsten Morgen erinnerte ich mich, durch lange Korridore zu wandern, die nicht zu normalen Häusern gehören konnten. Sie waren kaum erhellt und ich hatte das Gefühl, durch Schatten zu waten, die meine Beine umzüngelten, als wären sie gierige Flammen auf der Suche nach weiterem Zunder. Träume solcher Art begleiteten mich schon lange. Lange, verworrene und verzerrte Schatten tanzten durch nahezu jede meiner Nächte. Wahre Panik wurde mir aber bei jenen Phantastereien zuteil, in denen ich mit den Schatten tanzte, in dem sinnlosen Wabern von gegenstandsloser Schwärze einen Rhythmus erkannte und mich einfügte, als würde es einen tieferen Sinn geben. Dass da etwas sein mochte, etwas, das … eine Vorstellung, die mir nicht behagte.
Beim kargen Frühstück stellte ich fest, dass ich der einzige Gast des Hauses war. Dazu war Graham morgens noch stiller als am Abend. Also schlang ich hastig hinunter, was es gab, griff mir meinen Mantel und ging hinaus auf den Weg, der durch die Handvoll Hütten verlief.
Die Luft war kalt und feucht, als würde der Morgentau noch immer träge in der Luft verweilen. Über dem Moor hingen die Nebelfetzen und ich fragte mich, ob es den Schleier jemals ablegte. Bei diesem Wetter wäre es kaum überraschend, wenn nur wenige Menschen ihre Behausung verlassen hätten – doch ich erblickte tatsächlich niemanden.
Ernüchtert lief ich einmal den Weg entlang und besah mir die verschiedenen Gebäude. Die meisten waren sehr einfach gebaut, höchstens mit einem halben Stock obenauf. Klein und kompakt, als wöllte man sich vor einem nahen Sturm wegducken. Lediglich eine Kapelle und ein am Ende des Dorfs gelegenes Fachwerkhaus stachen heraus. Ersteres erkor ich zu einem möglichen Anlaufpunkt und versuchte die Tür zu öffnen – doch sie war verschlossen.
Ich blickte mich um und sah weder bei den nahen Hügeln noch im Moor etwas von Interesse.
Die karge Gegend ließ mich an die Orte denken, zu denen mich mein Drang bisher geführt hatte. Zumeist waren es verfallene, alte Ruinen, bei deren Anblick ich gleichermaßen einen befremdlichen Sog wie auch eine tieferliegende Furcht verspürte. Getrieben und verschreckt, die beiden Pole meiner Suche. Was ich an ihrem Ende zu finden hoffte, kann ich selbst nicht sagen.
Bisher hat sich jedes Gerücht, jede Erzählung und jedes Märchen von verwunschenen oder verfluchten Orten als unwahr erwiesen. Doch meine Sucht ließ nicht nach. Sie wurde stärker, immer stärker. Und nun stand ich hier in Corlis – es war bald Mittag und kein Leben regte sich.
Ich konnte hier nicht lange tatenlos verweilen, während die Sonne sich schwächlich ihrem Zenit entgegenschob, und so beschloss ich, mich dem Fachwerkhaus zu nähern, das ich im Dorf gesehen hatte – konnte es die Heimstätte dieses Mannes sein? Es fiel hier deutlich aus dem Rahmen, insbesondere im Vergleich zu den beiden Hütten am nächsten zum Sumpf, die sogar mit Grassoden versehen waren. Aber nicht nur der Stil der Architektur oder die Größe ließen das Haus anders erscheinen. Es war viel mehr das Alter, das es zu haben schien. Während die anderen Häuser durch Gebrauch alt wirkten – immer wieder geflickt, sogar mal zusammengebrochen und verlassen, dann wieder von einer anderen Familie aufgebaut und erneut verwittert – schien dieses Gebäude in seiner Gesamtheit alt. Als hätte es schon immer so gestanden und wäre nie verändert worden … seit der erste Besitzer das Haus vor vielen Jahren errichtet hatte.
Ich war nur noch wenige Meter von der Haustür entfernt, da hörte ich linkerhand einen Laden klappern. Rasch blickte ich zu dem ersten Zeichen von Leben in Corlis, von meinem verschlossenen Wirt abgesehen, und sah in einem Fenster das Gesicht einer alten Frau. Sie erblickte mich und auch wenn ich nur kurz ihre Augen sah, so meinte ich doch zu erkennen, wie sie sich weiteten, während gleichsam die Lippen bebten und jegliche Farbe aus dem Gesicht verschwand. Dann schloss sie in aller Hast den Laden vor dem Fenster und ich war wieder alleine im Ort.
Ich blickte wieder zum Fachwerkhaus. Und plötzlich packte mich Furcht. Kalter Schweiß brach aus, dann rannte ich – ich wollte einfach weg, nur weg. Und ich lief ins Moor.
Bereits wenige Meter nach dem letzten Haus des Dorfs stand ich im Morast, doch ich rannte weiter, immer weiter.
Der graue Dunst wirkte wie ein Willkommensgruß, der einen bereitwillig umschloss, sobald man zwei Schritte hinein in den Sumpf getan hatte. Es war ein seltsames Gefühl, derart begrüßt zu werden und obgleich es einen jeden Menschen davonjagen sollte, fühlte ich das Verlangen, weiter zu laufen. Zwischen dem Nebel ragten nur knorrige und zuweilen vollständig verfaulte Bäume empor. Blattlose Äste suchten das Licht einer Sonne, die hier ihren Kampf verloren hatte. Vom Boden erkannte ich nur wenig und das Wenige, das ich sah, war trügerisch. Mancher Flecken Erde verhieß Halt und entpuppte sich als Falle, während die eine oder andere Pfütze gerade einmal handbreit tief über sicherem Stand lag.
Ich lief weiter und weiter, hinein in den Nebel. Weiter und weiter, weg von der Sonne, weg von Corlis, weg von ihm … weg von was?
Erschrocken zuckte ich zusammen und war mir einen Moment nicht sicher, ob jemand mit mir gesprochen hatte oder ob es meine eigenen Gedanken gewesen waren, die so dröhnend erklangen. Ich erkannte in jedem Fall, dass ich weiter in das Moor vorgedrungen war, als man es tun sollte. Es schien mir beinah, als hätte ich etwas wie eine Trance durchlebt. Verstört blickte ich mich um und erkannte zu meinem Glück, dass ich durch die nebligen Schwaden ein Gebäude von Corlis zu erkennen vermochte: das alte Fachwerkhaus.
Plötzlich zögerte ich, und ich konnte mich nach diesem Moment nicht mehr erinnern warum – ich würde im Morast verloren gehen, ginge ich nicht zurück. Warum sollte man so etwas wollen? Doch nachdem ich diesen Moment einer weiteren Verwirrung überwunden hatte, suchte ich mir einen Weg durch schlammiges Sumpfwasser zurück nach Corlis.
Wieder im Dorf stellte ich fest, dass es dunkel geworden war. Ich musste unglaublich lange herumgeirrt sein. Das Moor würde ich fortan meiden, das galt mir als sicher. Ich hatte mich dort … geängstigt. Doch was sollte mir in Corlis gefährlich werden? Bevor weitere Gedanken Gestalt annahmen, kehrte ich in meine Pension zurück.
Dort wartete bereits Graham und diesmal waren wir nicht allein: ein alter Herr saß allein und trank aus einem Krug. Ich beschloss, mich zu ihm zu setzen. Hoffentlich würde er mir etwas über Gideon Merriphet und dieses Dorf erzählen können.
„Guten Abend. Mein Name ist Philipp Finch“, stellte ich mich vor.
„Ich bin Aidan. Was führt Sie wohl nach Corlis, frage ich mich“, erwiderte er. Ich wunderte mich etwas über seine altbacken wirkende Sprache, sagte aber nichts.
„Sie haben eine Idee?“
„Nun, in einem Dorf wie Corlis begrüßt man sehr selten Fremde, was durchaus an einem gewissen Ruf liegen mag. Aber er ist es auch, der die übrigen Reisenden zu uns führt.“
„Einige hier scheinen dem durchaus abgeneigt zu sein“, sprach ich offen meine bisherigen Erfahrungen an. Aidan wirkte sehr höflich und redefreudig.
„Das ist schwer zu sagen“, entgegnete der alte Mann. „Es variiert.“
„Abhängig von was?“
„Von dem, der kommt. Und in welcher Begleitung.“
„Heißt das, die Corliser haben ein Problem mit mir? Oder weil ich allein reise?“, fuhr ich etwas auf, merklich brüskiert.
„Die Sonne wirft Schatten“, brummte Aidan.
Verdutzt starrte ich ihn an: „Was meint Ihr?“
„Wie genau haben Sie sich mit dem alten Fachwerkgebäude hier bekannt gemacht?“, entgegnete Aidan, als hätte er meine Frage nicht gehört.
„Ich habe es bisher … nur kurz betrachtet. Allerdings habe ich eine Geschichte gehört, bevor ich hergekommen bin.“ Ich entschloss vorerst, die merkwürdigen Anspielungen meines Gesprächspartners zu ignorieren. Aidan blieb einen Moment stumm, nippte an seinem Krug und antwortete schließlich auf die nur halb gestellte Frage: „Ja, das Haus hatte einst einen bemerkenswerten Bewohner. Noch im letzten Jahrhundert hat er es gebaut und ist noch vor dessen Ende verschwunden. So viel dürften Sie durchaus auch aus den Geschichten wissen, nicht wahr?“
„Der Name dieses Mannes war Gideon Merriphet“, nickte ich. „Und man sagt ihm nach, dass er eine große Begeisterung für alles Okkulte gehegt haben soll.“
„In der Tat, Gideon Merriphet. Er war bereits alt, als mir noch keine grauen Haare wuchsen und doch war er noch da, als die ersten kamen. Sein Haus hatte der alte Mann nur selten verlassen.“
„Was war Besonderes an ihm?“
„Besonders? Er war unangenehm … sah einen nicht an, blickte auf den Boden. Und plötzlich blickte er auf und hatte ein teuflisches Lächeln, als wüsste er alles. Er machte Andeutungen auf Dinge, die einen gewöhnlichen Menschen nichts angingen. Schließlich wurde er gemieden, wo es nur ging.“
„Und dann ist er verschwunden, nicht wahr?“
„Ja … noch vor dem ersten Tag des Jahres 1900, so viel weiß ich noch.“
„Wenn er so selten sein Haus verließ, wer hat gemerkt, dass er verschwunden war? Und wann?“
„Das war unser Pfarrer Albert Delany gewesen. Er hat sich stets seine Gedanken um die ihm anvertrauten Seelen gemacht – nur, dass der alte Gideon nie im Gottesdienst war. Oder bei der Beichte. Regelmäßig hat Pater Delany also beim Fachwerkhaus geklopft und versucht, ihn durch gute Gespräche zurück in die Gemeinde zu bringen.“
„Wie hat Merriphet auf diese Versuche reagiert?“
„Meistens hat er die Tür nicht geöffnet oder den guten Pfarrer noch am Eingang abgewiesen. Aber einmal … da hat er Pater Delany hineingebeten. Zufällig habe ich gesehen, wie der Pfarrer hineinging, und etwa eine halbe Stunde später hat er das Haus wieder verlassen. Er war leichenblass und hat sich mehrfach bekreuzigt, ehe er zurück zur Kapelle gestürmt ist. Danach hat es Monate gedauert, bis er wieder zurück zum Fachwerkhaus gegangen ist.“
„Und dann war Merriphet verschwunden?“
„So war es. Wir hatten uns bereits alle im Dorf gewundert, dass besonders viel Zeit verstrichen war, seit er das letzte Mal vor die Tür gekommen war. Erst unser guter Pfarrer Albert Delany traute sich, zu klopfen und dann – nachdem anhaltend geschwiegen wurde – hineinzugehen. Und als er hinaus kam, berichtete er uns in wenigen Worten, dass Gideon Merriphet verschwunden war und nicht mehr wiederkehren würde.“
„Wie konnte er sich da so sicher sein? Es hätte doch auch gut sein können, dass er auf Reisen gegangen war oder Ähnliches.“
„Diese Frage stellten wir auch, doch er gab uns keine Antwort. Manche sagten bald, sie hätten Gideon Merriphet im Moor tanzen sehen, andere, dass sein Schatten sie tagsüber verfolge. Wieder andere vermeinten, dass die Sonne seit jenem Tage nicht mehr so hell über Corlis leuchte, wie sie es früher getan hätte. Und wenig später hat sich Pater Delany in der Kapelle erhängt.“
Dann stand Aidan auf und ließ mich alleine zurück.
Diese Nacht verbrachte ich unruhiger als die vorige, dachte ich doch an die bizarren und erschreckenden Eindrücke, die mir dieses Dorf verschafft hatte. Ich stand auf einem Hügel bei Corlis. Nun dämmerte der Abend und das schwache Licht der Sonne verschwand, während sich die Schatten ausdehnten. Ich sah, wie sie näher kamen und versuchten, den Hügel hinaufzukriechen, auf den noch kein düsterer Abglanz zu fallen vermochte. Ich war wohl in Sicherheit … doch es trieb mich hinunter und ich konnte nicht widerstehen, zwischen die dunklen Abbilder der Häuser zu treten – kein Mensch war da, auch kein Tier. Nichts, das sich selbst in Düsternis spiegeln konnte außer mir und den Häusern. Und so wanderte ich allein über die Wege von Corlis und doch umgeben von allem, was zu suchen ich hergekommen war. Mein erstes Ziel war die Kapelle, klein und unscheinbar in ihrer Realität. Doch groß und gewaltig war der Schatten, den sie in der Dämmerung warf. Ein reicher und mächtiger Dom einer Schwärze, die sich nicht damit begnügte, zu verschlucken, sondern stattdessen einen Griff wagte, auf alles, was in jenem Schatten lag. Gras, Heide, ein anderes Haus. Und ich sah, wie alles, das von dieser substanzlosen Berührung angetastet wurde, seine Farben verlor.
Doch da war mehr. Der Schatten der Kapelle, der Dom in der Dämmerung, er verlor … seine Form. Er zerfiel oder vielmehr, er zerfloss. Doch es war keine schwache Welle, die über Corlis hinwegschwappte, es war ein stürmisches Gewitter von plötzlich aufbrausendem Schatten. Und inmitten des Sturms blitzte kein Licht – sondern das reine Nichts.
Mit unruhigem Herzen erwachte ich und eilte nervös zum Fensterladen, um ihn aufzuschlagen. Schwaches Morgenlicht drang herein und zerteilte die Düsternis in meinem Zimmer … doch Fetzen des Schattens blieben haften und ich brauchte einige Momente, um meine Furcht zu bändigen. Etwas war anders hier in Corlis. Ich musste wissen, was es mit dem Anwesen des Gideon Merriphet auf sich hatte, dass seine Geschichte mich so aufwühlte. Aber ich fürchtete mich auch davor und nicht nur aufgrund der Dinge, die ich erfahren hatte. Es war, als würde sich ein Teil von mir wehren wollen. Steckte das hinter meinem panischen Anfall vom Vortag?
Einen solchen Zusammenbruch hatte ich erst einmal erlebt. Damals war ich noch jung gewesen, konnte mich jetzt kaum noch daran erinnern. Lediglich, dass es der Silvestertag war und eigentlich alle Vorfreude bei der Feier am Abend lag. Ich hatte gespielt, irgendwo abseits des Hauses am Rande eines dunklen, schattigen Waldes. Und irgendetwas war vor meinen Augen dahingehuscht … doch meine Erinnerungen waren bereits am Abend so unklar, dass ich nicht einmal meinen Eltern hatte erklären können, warum ich schreiend ins Haus gerannt und dort weinend zusammengebrochen war. Ein schreckliches Ereignis, wenngleich es auch eine Art Erweckung für mich bedeutet hatte. Denn anstatt fortan sämtliche beunruhigenden Orte zu meiden, suchte ich sie in meiner seltsamen Sucht auf. Jagte danach, den kalten Schauer des Unbekannten und Mysteriösen auf dem Rücken zu spüren. Dieser Drang hielt mich gepackt – aber ich bekam es auch mit einer Angst zu tun, die ich nicht benennen konnte. Würde ich hier in Corlis endlich die Antwort auf all das finden können?
Noch etwas unsicher auf den Beinen verließ ich das Gasthaus und überlegte, welche Richtung ich einschlagen sollte. Die Einwohner von Corlis hatten die Kapelle für immer verschlossen. Dazu war niemals einer von ihnen selbst im Fachwerkhaus gewesen. Wovor die Angst? Was war in dem Haus des alten Merriphet geschehen, dass der Pfarrer sich selbst umgebracht hatte?
Es gab wohl nur einen Weg, um zur sicheren Erkenntnis zu gelangen. Entschlossen erhob ich mich, was einen kurzen Blick Grahams auf mich zog. Er zog skeptisch die Brauen zusammen, sagte aber weiterhin nichts. Ich ignorierte ihn und trat vor die Tür. Die Sonne hing hinter den Wolken versteckt, doch unbeirrt lief ich den Hauptweg des Dorfes entlang, auf das eigentümliche Fachwerkhaus zu.
Und wieder war ich allein auf der Straße. Sämtliche Läden waren verriegelt. Meine Schritte verloren den Elan bereits nach wenigen Metern, als ich mir der Stille bewusst wurde. Nicht einmal von dem stetig nebelverhangenen Moor kam ein verräterisches Geräusch, das mir die Wirklichkeit meiner Umgebung bewies. Doch davon ließ ich mich nicht aufhalten und hielt weiter auf das Haus zu.
Im Erdgeschoss sah ich neben der Tür einige Fenster, die jedoch durch Läden verschlossen waren. Durch die Spalten war auch nichts zu erhaschen, da von innen dereinst die Vorhänge zugezogen worden waren. Es schienen keine Motten darüber hergefallen zu sein – gänzlich unberührt von Mensch und Tier.
Es fühlte sich seltsam an, so nah vor dem Haus zu stehen. Es war entrückt, der Welt auf sonderbare Weise fern. Irgendetwas war anders. Und mein Blick fiel auf die sonnenabgewandte Seite des Hauses. Einen Moment lang war ich nur verdutzt, dann wirbelte ich ruckartig herum und besah mir die anderen Gebäude von Corlis – dann wieder zurück. Unter größter Anstrengung und dem Aufgebot meines Willens blickte ich dorthin, wo der Schatten des Hauses sein sollte.
Die Heimstätte von Gideon Merriphet besaß keinen Schatten.
Erschrocken zuckte ich zurück, ehe mich die Faszination erneut packte. Langsam, ganz langsam führte ich meine Hand zur Hauswand … und in dem Moment, als ich sie berührte, verfinsterte sich das vor mir stehende Gebäude, als würde es mit einem Mal im Schatten eines Berges stehen. Gleichzeitig war es mir, als würde jemand nach mir greifen und mich unbarmherzig ziehen. Aber weniger meinen Körper als vielmehr meinen schieren Willen – den Willen, zu gehen.
Mit letzter Kraft riss ich eine Hand los, die niemals gehalten worden war, und wandte mich von dem Gebäude ab, das tatenlos dastand und doch nicht da zu sein schien. Dem Haus ohne Schatten.
Ich lief die Straße zurück, nahezu besinnungslos und voller Furcht. Es gab nur noch eines, das ich wollte: fort von hier. Fort von diesem Ort, der da war und dem doch etwas fehlte, der Dinge verbarg, die nicht gesehen werden sollten..
Ich lief an der Gaststätte vorbei, ohne einen Gedanken an mein Gepäck zu verschwenden. Doch ich sah wie vor mir die Schatten der Häuser zusammenfielen, als würden sie mir den Weg versperren wollen.
Es warf mich einem festen Schlag gleich auf den Boden. Vor Angst zuckte ich, obgleich es kein Geräusch gab, das mich hätte erzittern lassen. Es war die Stille von Corlis am helllichten Tage, während keiner draußen war.
Da öffnete sich hinter mir die Tür eines kleinen Hauses und ein kräftiger Arm zog mich hinein.
Als ich erwachte, war mein erster Gedanke, dass ich bewusstlos geworden sein musste. Ich konnte mich an keine Szene mehr erinnern, nachdem ich in die Schwärze eines Corliser Hauses gezogen worden war.
Um mich herum war alles dunkel. Jemand musste peinlich genau darauf geachtet haben, dass die Läden nicht nur verschlossen waren, sondern dass wirklich nicht der kleinste Rest eines Sonnenstrahls eindringen konnte … und ich empfand es als Barmherzigkeit. Denn in dieser Dunkelheit gab es kein Licht, das einen Schatten erzeugen konnte. Einen unförmigen, wandelbaren und auf ungute Weise verräterischen Schatten, der ein lächerliches Zerrbild der Wirklichkeit vortäuschte.
„Ich höre, Sie sind erwacht“, wurde ich plötzlich angesprochen. Es war die Stimme eines älteren Mannes.
„Aidan?“, fragte ich.
„Ja. Ich habe gesehen, wie Sie auf der Straße hysterisch geworden sind und dachte es wäre besser, Sie aus dem Licht zu bringen.“
„Die Sonne wirft Schatten“, echote ich, als wäre es nun auch für mich zu einem Mantra geworden.
„Ich fürchte jedoch, Sie verstehen noch nicht ganz“, wehrte Aidan ab.
„Aber ich habe es gesehen … oder vielmehr nicht gesehen. Das Haus des Gideon Merriphet. Es wirft keinen Schatten!“
Es folgte ein Moment der Stille. Wartete er auf etwas?
„Was hat Gideon Merriphet in seinem Haus getan?“, entschloss ich mich zu fragen.
Ich hörte schweres Ein- und Ausatmen, ehe Aidan antwortete: „Der alte Gideon Merriphet, der unglaublich, ja eigentlich unglaubhaft, alt war. Er kam nach Corlis und errichtete hier sein Anwesen mithilfe einiger Männer, die vorher und nachher nie wieder gesehen wurden. Anschließend begann er sein einsames Leben in unserer Mitte und bemühte sich darum, so wenig Kontakt wie nur möglich mit uns zu halten. Menschen wie Pater Delany erschwerten ihm das und er reagierte mit großer Feindlichkeit auf jeden Versuch, ihn zu stören. Nur selten gelang es jemanden, einen Blick durch die Fenster zu erhaschen. Und nur eine Handvoll Male ging einer ins Haus hinein.“
„Was habt ihr gesehen?“ Meine Stimme flatterte – ich musste wissen, was vor sich gegangen war!
„Herr Merriphet war fasziniert von okkulten Handlungen, vor allen von diversen Ritualen, die unsereins zweifelsohne als heidnisch bezeichnen würde. Sein Haus gleicht einer Bibliothek und in den Regalen stehen ausnahmslos Bücher, die das Heilige Wort verachten und Möglichkeiten versprechen, nach denen ein gottesfürchtiger Mensch nicht suchen sollte, Mr. Finch.“
„Aber was hat er getan?“, drängte ich ihn weiter.
„Diejenigen von uns, die ihn durch ein Fenster sehen konnten, als er sich unbeobachtet glaubte, erblickten ihn bei Ritualen. Er zeichnete Hexenkreise an Boden und Wände, stellte Kerzen auf und gab einen Singsang von sich, den keiner von uns jemals zu wiederholen wagte. Aber das, was uns wirklich beunruhigte und verzagen ließ, jemals wieder durch einen Spalt in dieses Haus zu spähen – das waren die Gespräche, die Gideon Merriphet führte.“
„War er nicht allein?“
„Oh doch, Mr. Finch. Für unsere Augen durchaus … zunächst. Er sprach alte Namen, zuweilen aus Kulturen, die mit klickenden und klackenden Lauten zu agieren schienen. Und im einen Moment lachten wir noch, wie wir den alten Gideon Merriphet in seinem schattendurchzogenen Haus reden sahen. Dann jedoch … gab es eine Antwort.“
„Was? Wer?“
Doch Aidan schwieg.
„Aidan?“, fragte ich nach einem Moment, doch ich erhielt keine Antwort. Sorge breitete sich aus und ich stand auf. Tastend wagte ich mich durch das Zimmer. Die Stimme des Alten war nahe gewesen und so brauchte ich nicht lange, bis meine Finger über den Rahmen eines alten Schaukelstuhls fuhren und ich den flachen Atem des Mannes hörte. Mein Kopf war nun ganz nahe an seinem und so hörte ich die leisen, kaum mehr als gehauchten letzten Worte des Mannes: „Die Schatten, Mr. Finch. Sie reisen nicht allein.“
Panisch wandte ich mich um und stolperte durch die stockfinstere Wohnung dorthin, wo ich die Wand erhoffte und fand. Hastig eilte ich an ihr entlang, bis ich ein Fenster fand und die Läden mit Wucht aufwarf.
Die Abenddämmerung flutete sogleich das Zimmer und löschte die absolute Finsternis aus. Schnell drehte ich mich um und sah den alten Aidan auf seinem Stuhl: die Augen weit aufgerissen und gebrochen, den Mund nur noch halb geöffnet und es schien mir, als würden sich schwarze Fäden aus ihm zurückziehen und in die Ecken des Zimmers verschwinden.
Ich fiel mehr aus dem Haus, als dass ich gelaufen wäre und sogleich warf ich die Pforte wieder zu und hoffte, dass all das einfach darin bliebe. Noch im selben Moment wusste ich, dass ich nun eine Pflicht hatte. Mein Blick wanderte zum alten Fachwerkhaus und im gleichen Moment fühlte ich kalte Angst und heißen Willen. Dies alles musste hier sein Ende finden.
Entschlossen stand ich auf und lief auf das Anwesen des Gideon Merriphet zu. Ich musste die Angst besiegen, die mich aus Corlis forttreiben wollte.
Feste Schritte brachten mich Stück für Stück näher an das Haus, welches die Schrecknisse eines verrückten Okkultisten beinhaltete. In der Abenddämmerung warfen sämtliche Gebäude in Corlis lange, unverfälschte und ehrliche Schatten – nur jenes Anwesen nicht. Verflucht oder verhext, vielleicht einem Bann unterlegen, widersetzte es sich mit seiner schieren Existenz allem, was wir als wirklich erachteten. Und dies war nur die erste Schicht des Grauens, das Gideon Merriphet herbeibeschworen haben musste, als er verbotenes Wissen aus allen Jahrhunderten für seine abnormen Experimente zusammengetragen hatte. Noch wusste ich nicht, wozu genau all das geführt hatte, doch ich würde es bald sehen und hoffentlich ein für alle Mal beenden können.
Erst einen Meter vor der unscheinbaren, hölzernen Tür blieb ich stehen. Mein Blick fiel auf den kupfernen Knauf der Tür, der trotz der feuchten Luft vom Moor her keine Spuren des Verfalls zeigte und somit sämtlicher Logik spottete. Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen, seit die Tür das letzte Mal geöffnet wurde und ich fühlte nun ein ungutes Gefühl, diesen Bannkreis zu durchbrechen. Doch der Schrecken würde kein Ende nehmen und ich spürte, dass auch mein Verlangen kein Ende nehmen würde. So tat ich den letzten Schritt und legte die Hand an den Knauf der Tür.
Wieder spürte ich, wie ich gezogen wurde, auf unsagbare, unkörperliche Art. Doch diesmal war ich vorbereitet, zuckte nicht zurück – ließ mich aber auch nicht treiben. Ohne Eile drehte ich den Knauf um und drückte die Tür nach innen auf.
Ich blickte in einen kleinen Flur, der rechterhand eine Garderobe aufwies. Mantel und Hut, sogar ein paar Schuhe standen dort noch. Unberührt, als wäre der Besitzer dieses Hauses nur kurz an die frische Luft gegangen. Denn stickig war es und leblos. Und wieder brauchte ich einen Moment, um die unnatürliche Tatsache zu realisieren, die meine Sinne mir gnädigerweise einige Sekunden zu verschweigen versuchten: trotz des einfallenden Lichts weigerten sich die Kleidungsstücke an der Wand sowie die Kleiderhaken selbst einen Schatten zu werfen. Als würde eine allumfassende Beleuchtung vorherrschen oder vielmehr, als wären diese Dinge nicht wirklich hier. Und so musste ich meine Hand ausstrecken und den dicken Mantel berühren.
Der Stoff war echt. Alles hier war echt … und doch fehlte allem ein essentieller Bestandteil. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Die Menschen von Corlis hatten genug mitgemacht und mussten nicht noch meinen törichten Versuch mitansehen, die Machenschaften des Gideon Merriphet mehr als zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden zu beenden. Dann ging ich den kurzen Flur entlang und öffnete die einzige Tür, welche am Ende des Ganges lag.
Und nun stand ich inmitten des okkulten Wahnsinns eines alten Mannes. Der Raum vor mir füllte beinah das gesamte Erdgeschoss aus und war derzeit noch nahezu sämtlich abgedunkelt. Doch einige wenige einfallende Lichtstrahlen offenbarten genug, um zu erkennen, dass Aidan Recht hatte. Das Zimmer war wie eine Bibliothek vollgestellt. An den Wänden reihten sich Bücherregale, ein jedes von ungleicher Größe und Form, wobei letztere ihrem eigentlichen Sinn zuweilen entgegengesetzt zu sein schien. Eine Ordnung ließ sich hier höchstens im kakophonischen Sinne erkennen. Drei unterschiedliche Schreibtische waren in der Mitte zusammengeschoben worden, während die Stühle an den Wänden standen. Der gesamte Boden war überzogen mit verwirrenden Kreidelinien, die innerhalb eines großen Kreises die verrücktesten Formen abbildeten. Eine beunruhigende Regelmäßigkeit lag in den schier endlosen Symbolen und es musste Tage gedauert haben, ein solch unheiliges Zeichen zu erschaffen.
Den Ursprung für Gideon Merriphets wahnhafte Phantasien entdeckte ich auf den zusammengeschobenen Tischen. Neben mehr als zwanzig unangezündeten Kerzen lag dort ein Dutzend der verbotenen Bücher aufgeschlagen, und nahezu alle zeigten bizarre Abbildungen. Mal waren es Beschwörungskreise, mit deren Hilfe wohl in heidnischen Zeiten Dämonen herbeigerufen werden sollten, oder Zauberformeln in glücklicherweise lang ausgestorbenen Sprachen. Zuweilen waren jedoch bizarre Bilder dabei, die Menschen mal klar, mal durchscheinend, mal auf groteske Weise verdunkelt zeigten. Ich konnte diesem ganzen Gemisch aus spürbar brodelndem Aberglauben kaum einen Sinn beimessen.
Doch irgendwie schien sich mir aus einem tieferen Bereich meines Verstandes eine Erklärung aufzudrängen. Mit einem Mal wurde es klar wie eine wolkenlose Nacht und ich begann mit jedem einzelnen Handgriff, der nötig war, um das Grauen zu beenden. Zuerst entzündete ich die Kerzen mit den beiliegenden Streichhölzern und brachte somit das Licht zurück ins Anwesen von Gideon Merriphet. Weiterhin blieb jedoch alles in diesem Zimmer, wohl im ganzen Hause, den natürlichen Schatten schuldig. Das vermochte mich jedoch nicht mehr zu schrecken und ich stellte die Kerzen an ihre Plätze: eine jede hatte ihren festen Platz inmitten des großen Kreises. Anschließend ging ich von Regal zu Regal und griff verschiedenste Gegenstände daraus. Zunächst waren es einige Kräuter, die ich in die Nähe der kleinen Lichtquellen legte. Bereits die nahe Wärme ließ sie eigenartige Düfte ausstoßen, die noch eindringlicher und gleichermaßen abstoßender waren als jeder Weihrauch. Dann waren da noch seltsame Gegenstände, die an verschiedene Fokuspunkte des Ritualkreises gelegt werden mussten. Schwarze Haare von Tieren, ein paar Federn und sogar ein Horn – aber auch ein erschreckend menschenähnlicher Zahn sowie ein Armknochen, den ich in dankbarer Umnachtung einem Affen zuschrieb.
Für den letzten Schritt trat ich wieder an die Tische und erkannte neben vielen verschiedenen Bildern – welche auch stilisierte Schattengestalten darstellten, zuweilen eng verwoben mit einem oder mehreren Menschen – den entscheidenden Zauberspruch und las ihn vor. Die Sprache war mir unbekannt, die Betonungsweise und Struktur gänzlich unbewusst und doch redete ich, als wäre sie mir schon immer zu Eigen gewesen. Ich hörte meine Stimme und sie gab mehr klackende und klickende Geräusche von sich als das, was ich als Sprache kannte.
Meine Rede endete und in diesem Moment fiel mein Blick auf den einzigen Schatten, der in diesem Haus geworfen wurde und sogleich den Grund, warum niemand bei Tage sein Haus hatte verlassen wollen: es war mein Schatten, doch war es nicht nur einer. Corlis hatte etwas über mich ans Licht gelockt, das lange verborgen war. Ich warf den Schatten zweier Männer, der eine schmal und hochgewachsen, der andere kleiner und etwas stämmiger. Dieser wirkte verwachsen, als könne die eindimensionale Verdunkelung mehr preisgeben als möglich sein sollte.
In diesem Moment begann sich dieser fremdkörperliche Schatten vom Boden abzuschälen. Erst gewann der Kopf an durchscheinender und dann fester Form, ehe der Oberkörper, seine Arme und zuletzt der Unterleib folgten. Und dann stand er vor mir.
Blasse Haut straffe sich über seinen Schädel, der wenig lebendiger erschien als der eines Toten. Schwarzes Haar fiel in Strähnen, die wie Öl wirkten, von seinem Scheitel hinab. Nahezu gänzlich schwarze Augen lagen in tiefen Höhlen, glänzten jedoch kraftvoll im Licht der Kerzen. Der gesamte Leib dieses Mannes wirkte klein und verkrümmt, eine Schulter stand vor, der Arm war angewinkelt. Doch die Hände waren wie Klauen und seine Präsenz versetzte mich in panische Furcht. Eine Schockstarre, welche die Kreatur vor mir mit einem Grinsen quittierte, das darin bestand, dass sich lippenloses Fleisch vom Mund zurückzog und den Blick auf Zahnreihen offenlegte, als wäre es ein reiner Totenschädel, der mich anlachte.
Dann begann der Mann zu sprechen. Sein Unterkiefer bewegte sich ruckartig und einer jeden Silbe hallte ein Knacken nach, als würden die Knochen aneinanderschlagen. Die Stimme selbst war sehr leise und dünn, doch reichte sie vollkommen aus, um den Raum mit Entsetzen anzufüllen.
„Endlich bist du hier“, begann das grausame und verbotene Geschöpf. „Im Anwesen von Gideon Merriphet.“
Entsetzt brachte ich nicht mehr zustande, als dem Mann in seine schwarzen Augen zu blicken. Der näherte sich mir und begann um mich herum zu laufen und mich zu mustern. „Seid Ihr der, der mit den Schatten sprach?“, stammelte ich schließlich.
„Oh ja – ich bin Gideon Merriphet. Lange verschollen … in dieser Welt.“
„Seit mehr als zwanzig Jahren“, sprach ich weiter und spürte, wie ich unerklärlich heiser wurde, als brächten mich bereits zwei Sätze zu jenen Mann zum Verstummen.
Der Beschwörer blieb vor mir stehen und grinste wieder sein Grinsen eines Totenschädels.
„Weißt du, wann genau ich verschwand?“
„Noch … vor der … Jahrhundertwende“, brachte ich hervor und jedes Wort bereitete mir tiefe Schmerzen.
„Genauer hätte ich deine Nachforschungen doch erwartet, Philipp. Du enttäuschst mich. Dabei habe ich dich so viele Jahre gedrängt. Dir im wahrsten Sinne des Wortes im Nacken gesessen.“
Verständnislos blickte ich ihn an und wandte all meine Kraft auf, nicht in die Knie zu gehen.
„Ich war da, Philipp. Immer da, in deinem Schatten. Lange hat man mich nicht gesehen, doch dieser Ort hier hat mich mehr und mehr zurückgebracht. Auch wenn ich dich in diesem Moor fast verloren hätte, ja, fast wärst du entkommen, fast hätte dich ein erbärmlicher Instinkt gerettet … Warum hast du all diese seltsamen, wenn auch schrecklich bedeutungslosen Orte aufgesucht? Warum? Weil ich wollte, dass du schließlich hierherfindest! Seit jenem Tag, in der du als kleines Kind meine Schattengestalt durch den Wald hast stürmen sehen. Seit jenem Tag, als ich dich sah und wusste, dass du der Richtige sein würdest.“
„Der Richtige …?“, ächzte ich und fühlte mich niedergedrückt. Nunmehr blickte ich zu dem Schädel auf anstatt hinab und zuckte zurück vor der Macht, die ich herausgefordert hatte.
„Mein Wirt, Philipp“, lachte die Kreatur auf. „Bis wir gemeinsam nach Corlis zurückkehren würden.“
In jenem Moment dachte ich, Gideon Merriphet würde mich anspringen und ich hastete zur Seite und packte das Erstbeste: den Schürhaken aus dem halb zugestellten Kamin. Doch die untote Gestalt sank zurück auf den Boden, wurde wieder zu dem verzerrten zweiten Schatten meiner Selbst. Einen Moment lang wechselte sich panische Furcht mit plötzlicher Erleichterung – dann streckte die krumme Gestalt ihre Hand nach meinem schmächtigen, so schwächlich wirkenden Schatten aus. Ein Riss ging durch den substanzlosen Widerhall meines Selbst. Und ein letzter Schrei entwand sich meiner Kehle.
Eine stille Nacht folgte auf den Kampf des Philipp Finch und der nächste Morgen erwartete Corlis mit trübem Licht. Doch es reichte aus, damit jeder es verstand.
Der Schatten war zurückgekehrt zum Anwesen des Gideon Merriphet.