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Gespräche über den Tod und was danach kommt
Babette konnte es kaum abwarten bis es endlich Freitag Nachmittag wurde. Um sechzehn Uhr hatte sie sich mit Stefan auf der Fußgängerbrücke vor dem U-Bahnhof Landungsbrücken verabredet.
Um fünfzehn Uhr verließ sie, mit frisch gewaschenem und mindestens fünfzigmal gebürstetem Haar, angetan mit ihrem neuen Lackmantel, die Wohnung. Auf dem Weg zum Bahnhof, für den sie zu Fuß knapp fünf Minuten brauchte, kam sie an einer Drogerie vorbei. Spontan entschloss sie sich, noch einen Lippenstift passend zum Rosa des Mantels, zu kaufen. Auf der Bahnhofstoilette malte sie sich sorgfältig die Lippen an, nickte ihrem Spiegelbild in dem von Fliegendreck fast blinden Spiegel zufrieden zu und eilte zum Bahnsteig. Vor lauter Aufregung hatte sie ganz zitterige Beine. Als die S-Bahn sich langsam in Bewegung setzte, stieg ihr Pulsschlag dramatisch an, und das verschlimmerte sich, je näher sich der Zug der Station Landungsbrücken näherte. Als sie um viertel vor vier die Bahn verließ, und sich in Richtung Fußgängerbrücke aufmachte, war sie so nervös, das ihr fast übel wurde. Da kam sie an einem Passfotoautomaten vorbei, drehte noch einmal um, schlüpfte hinein und setzte sich auf den Hocker. Sie steckte fünf Mark in den Schlitz, setzte sich in Position und dann blitzte es auch schon dreimal. Keine drei Minuten später kamen die Bilder aus einem Fach an der Seite. Zwei waren unbeschreiblich grässlich und wurden sofort vernichtet. Das dritte fand Gnade vor ihren Augen, und sie steckte es in ihr Portemonnaie. Dann eilte sie auf die Brücke und sah sich um. Keine Spur von einem Stefan! Sie schaute auf die Uhr, es war mittlerweile fünf Minuten vor vier. Nervös ging sie auf und ab, es umwehte sie ein schneidend kalter Wind. Menschen hasteten an ihr vorbei, aber es war kein Stefan dabei! Unruhig und ungeduldig blickte sie sich um, da kam ein Bettler in abgerissenen Kleidern auf sie zu und packte sie am Arm.
„Haste mal ne Mark?“ fragte er und verströmte den penetranten Geruch nach Alkohol und ungewaschenem Körper und Schweißfüßen. Unwillig riss Babette sich los: „Nein, ich habe selbst kein Geld.“ Der Mann wollte nicht aufgeben, grabschte wieder nach ihrem Arm und forderte: „Dann gib mir wenigstens ne Zigarette!“ „Ich rauche nicht!“ zischte Babette unwirsch und versuchte, den lästigen Menschen abzuschütteln. „Ach komm, hab dich nich so!“ ließ dieser aber nicht locker, „los, eine kleine Zigarette wirste ja wohl überhaben!“ Da fühlte Babette sich plötzlich von zwei starken Armen hochgehoben und auf die Seite gestellt! Stefan war da, und er sah den Mann so böse an, dass dieser eilig das Weite suchte. Dankbar sank Babette in seine Arme. Ach, tat das gut! Er roch noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Stefan hielt sie lachend ein Stück von sich ab und rief: „Mensch, Mädchen, lass dich mal anschauen! Toll siehst du aus! Kein Wunder, dass die Männer an dir kleben wie die Fliegen am Honig!“ Lachend gab Babette das Kompliment zurück, auch Stefan hatte sich extra schick für sie gemacht. „Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag?“ wollte Stefan wissen. „Lass uns doch erst mal ein bisschen durch die Stadt bummeln,“ schlug Babette vor, „am besten fangen wir hier an den Landungsbrücken an. Hier legen die ganzen großen Überseeschiffe an, da gibt es viel zu sehen.“ Stefan war einverstanden, und so zogen die beiden los. Unterwegs wurden sie von Männern, die wie Matrosen aussahen, aufgefordert, doch unbedingt an der unwiderruflich letzten großen Hafenrundfahrt teilzunehmen, ein unvergessliches Erlebnis der ganz besonderen Art. Dankend lehnten die beiden immer wieder ab. „Diese Leute erzählen auf den Hafenrundfahrten immer eine ganze Menge Blödsinn. Sie spinnen Seemannsgarn. Darum heißen sie auch alle :“He lücht!“ Das ist plattdeutsch, und heißt: „er lügt“. Und jetzt sprechen sie alles, was nach Touristen aussieht an, und versuchen, sie zum Mitfahren zu überreden, damit sie ihre Schiffe vollkriegen. Das ist hier immer so.“
Babette ergriff lachend Stefans Hand, zog ihn zum Westende des Landungsbrückengebäudes, zu dem Kuppelbau, der den Einfahrtsschacht des alten Elbtunnels beherbergte. „Der alte Elbtunnel, ein unbedingtes Muss für alle Hamburg – Besucher!“ rief sie marktschreierisch und spielte mit blitzenden Augen die Fremdenführerin. „ Er wurde in den Jahren 1907 – 1911 gebaut, um den Fährverkehr über die Elbe zur Werftinsel Steinwerder zu entlasten. In vier großen Aufzugkörben werden Autos 20 Meter tief in die etwa 450 Meter langen, säuberlich gekachelten Röhren hinabgelassen und, man beachte die Feinheiten, auch wieder heraufbefördert! Für Fußgänger, wie dich und mich, gibt es separate Aufzüge, sowie Treppen.“ Und kichernd boxte sie Stefan in die Seite, zerrte ihn in Richtung Personenaufzug, und fuhr fort, zu deklamieren, was sie eben gerade aus den Augenwinkeln auf einem Schild gelesen hatte: „ Nachts und Sonntags ist für Pkws keine Durchfahrt möglich. Personen können den Tunnel gratis benutzen, Autos müssen eine Mark und fünfzig bezahlen! Gott sei Dank sind wir keine Autos,“ und sie sah Stefan herausfordernd in die Augen. „Tja, warum eigentlich nicht“ schmunzelte dieser, „dann lass uns 20 Meter unter der Elbe einen knappen halben Kilometer ans andere Ufer laufen. Ist doch mal was anderes?“ Und Hand in Hand betraten sie einen der beiden Fahrstühle. Auf der Fahrt unter die Elbe wurde Babette ein wenig mulmig zumute. Hoffentlich würde der Tunnel nicht gerade jetzt brechen und es den Wassermassen hoch über ihren Köpfen gestatten, hier alles zu überfluten. Sie setzte ein sorgenvolles Gesicht auf, und Stefan sah sie fragend an. „Ach, es ist nur eine winzig kleine, ganz belanglose Tunnelphobie,“ versuchte Babette zu witzeln, es gelang ihr aber nicht so recht. „Hast du Angst, das der Tunnel einstürzt, während wir hier auf dem Elbgrund lustwandeln?“ vermutete Stefan richtig, während sie den Fahrstuhl verließen und begannen, den hell erleuchteten Tunnel zu durchschreiten „Ja, stell dir mal vor, plötzlich gibt es einen Knall. Dann ein Rauschen, Brausen, Gurgeln, und dann? Bis wir tot sind, ertrunken, dauert doch einige Zeit. Ertrinken muss ein grausamer Tod sein,“ Babette erschauderte, von ihren eigenen Gedanken zutiefst beunruhigt. Stefan legte beruhigend seinen Arm um ihre Schulter, zog sie ein Stück zu sich heran und schlenderte langsam mit ihr weiter. „Und was wird dann sein, wenn wir tot sind? Hast du dir darüber schon einmal Gedanken gemacht?“
„Schon oft habe ich darüber nachgedacht,“ entgegnete Babette, „ich glaube, wenn wir tot sind, träumen wir unser Leben weiter. Wir merken gar nicht, dass wir nicht mehr da sind. Das bemerken nur die anderen, sie fühlen eine Leere, und sie beweinen uns. Wir aber träumen und träumen, und unser Leben wird plötzlich gut und alle Probleme lösen sich. Ein sicheres Anzeichen für dein Ableben dürfte sein, dass es dir plötzlich richtig gut geht.“ „Du meist also, dass der Mensch, der geht, gar nicht merkt, dass er gegangen ist?“ vollzog Stefan Babettes Gedanken nach, „und jeder, dem es plötzlich nur noch gut geht, müsste sich fragen, ob er überhaupt noch lebe. Aber das kann doch nicht ewig so weitergehen, irgendwann muss man doch mal merken, dass etwas nicht stimmt.“
„Nein, die menschliche Eitelkeit verhindert, dass es auffliegt. Nur ganz wenige Menschen werden es schaffen, zu durchschauen, was wirklich passiert. Und ich bin sicher, diese Menschen werden eine Lösung finden, aus dem Vakuum herauszufinden. Sie werden eine Tür entdecken, die es ihnen ermöglicht, den Traumzustand zu verlassen. Was sie dann allerdings erwartet, weiß ich auch noch nicht. Ich muss noch intensiv darüber nachdenken.“ Babette ging nachdenklich weiter.
„Du meinst also,“ räusperte Stefan sich, „Verstorbene bleiben im Käfig ihres Körpers gefangen, träumen so vor sich hin, bis sie vielleicht vergammeln und die Würmer sie auffressen? Die Seelen schnallen überhaupt nicht, dass eine neue Ära angebrochen ist, ein neuer Daseinszustand? Das kann ich nicht glauben! Ich glaube, dass die Seele die nutzlos gewordene Hülle des toten Körpers im Moment des Todes verlässt. Sie bricht auf in eine neue Dimension des Seins, sie geht dahin zurück, woher sie kam. In den Kosmos, wo sie auf lauter alte Freunde und Bekannte trifft, die vor ihr gegangen sind. Und da wird dann entschieden, ob sie in einem neuen Körper wiedergeboren wird, noch neue Prüfungen durchstehen muss, in dem kurzen Erdenleben. Oder ob sie die Gnade erfährt, geläutert und ausgereift in die endgültige Existenzform zu gelangen, die uns Seelen bestimmt ist. Einem wunderschönen, großen, erfüllenden Endzustand, den wir alle anstreben, ohne es zu wissen. Ein Endzustand, der vieler, vieler Erdenleben und damit verbundenen Prüfungen bedarf. Damit wir die Perfektion erreichen, die es uns erlaubt, dorthin zu gelangen!“ Stefan hatte sich richtig in Rage geredet, er ließ Babette los, ja, stieß sie fast zurück, um mit wild in der Luft fuchtelnden Händen weiterzureden. „Nur so kann man sich doch erklären, warum so viele unschuldige, kleine Kinder sterben müssen, junge Menschen, die augenscheinlich noch gar nichts vom Leben gehabt haben. Warum muss ein vierjähriges, unschuldiges Kind sterben? Die Antwort, die uns auch ein Trost ist, lautet: Die Seele, die in diesem Kind gewohnt hat, ist fertig! Die letzte schwere Prüfung nach einer ganzen Reihe von Leben war die, als Kind zu sterben. Davor war die Seele in einem Schwerverbrecher, einer Märtyrerin, einer langweiligen Durchschnittshausfrau. Einem Krebskranken, einem gehängten Kriegsverbrecher – oder Opfer, einem Waisenkind, einem König, einem gefeierten Filmstar. So eine Seele muss alle Fassetten der menschlichen Existenzform durchlebt haben, um endlich, irgendwann fertig und ausgereift zu sein. Das ist, was ich fest glaube!“
Inzwischen waren die beiden, abgelenkt durch ihre intensive Unterhaltung, am anderen Ende des Tunnels angelangt. Babette bemerkte es zuerst, und sie sah sich fragend zu Stefan um, der ein Stück hinter ihr zurückgeblieben war.
„ Und was nun? Mit der Fähre zurück, oder den gleichen Weg zu Fuß?“ Stefan sammelte sich, überlegte kurz, und entschied dann: „Ach, lass uns mal ruhig zu Fuß gehen, wir haben noch viel zu besprechen, oder?“ Er lächelte Babette an, schob seinen Arm unter ihren, und sie wandten sich zum gehen.
„OK,“ murmelte Babette, „ich muss dir auch noch mal ausführlich auf deine Vorstellungen vom Tod antworten.“
Und sie gingen, inzwischen wieder Hand in Hand, den langen Weg zum Tunnelanfang zurück, inspiriert durch die unwirkliche Umgebung zu erneuten, tiefschürfenden Gesprächen.