- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Gespräch mit Joe
Was gingen ihn die selbstgemachten Probleme der Alten an. Hans war es egal. Für ihn bliebe Alles beim Alten, dachte er und meinte damit das Neue in seinem Leben.
Endlich, es war Samstag. Er lebte von Samstag zu Samstag. Schon Morgen würde das Warten von Neuem beginnen, bis er dann wieder sagen könnte: „Endlich, Samstag.
Als Hans das Big Apple in Augsburg betrat, war der Abend bereits in vollem Gange. Black Sabbath, Santana, Jimmy Handriks. Hier wurde seine Musik aufgelegt. Überall süßlicher Rauch. Begrüßung hier, Händeschütteln da, man kannte sich. Nicht lange, und er hatte in Händen, worauf er tagelang gefiebert hatte. Ein rundes Stück Löschpapier, nicht größer als ein Streichholzkopf, für jeden unauffällig, der nicht darum wusste. Für Hans jedoch das Ticket für die Reise in eine andere Welt.
Der große Raum erinnerte ihn an ein römisches Theater. Terrassen führten stufenartig nach unten. Jugendliche Besucher verstreuten sich darauf. Ganz unten, in gedämpftem Licht die Tanzfläche, die Arena. Schemenhaft bewegten sich Gestalten, tak tak tak, im Stakatorhythmus der Lichtorgeln. In kreisenden Bewegungen ließen sie ihre langen Mähnen fliegen.
Hans schlenderte durch die Halle, hinauf zu den oberen Terrassen. Bässe ließen sein Bauchfell vibrieren. Mit einem Schluck aus der Colaflasche spülte er das Blättchen hinunter. So machte er es seit Monaten, jeden Samstag Abend.
Aus dem Hintergrund erreichten ihn Musikfetzen. Deep Purple, Childe in Time. Damm damm damm, dip dirididididip, damm damm damm. Die Hymne des Augsburger Big Apple in dieser Zeit.
Damm damm damm machten die Blitze der Lichtorgel, damm daaamm daaaaamm. Dann zerriss das Band, das ihn soeben noch im Hier und Jetzt gehalten hatte. Seine Gedanken flohen, er wollte sie festhalten, doch sie fügten sich zu keinem Sinn zusammen. Die Realität verlor ihre Form, floss von ihm ab wie heißes Wachs und riss ihn mit sich fort, in eine andere Wirklichkeit.
Nun war er willenloser Beobachter beziehungsloser Fiktionen. Immer neue Gedanken entstanden, breiteten sich aus, verästelten sich, brachten neue Blüten hervor. In tausend Knoten verstrickt, entfernten sie sich immer weiter von ihrem Ursprung.
Er fühlte, wie ihn ein unsichtbarer Schild umspannte. Wie eine gläserne Kugel wölbte es sich über ihn und grenzte ihn nach draußen ab. Draußen, das war jetzt die Welt der anderen. Er war drinnen, in seiner eigenen kleinen Welt, seinem Universum, innerhalb eines großen andern, gefangen in einer Umgeben von beängstigend fremder Vertrautheit.
Gestalten huschten ziellos an ihm vorüber. Sie hasteten hin und her und hin und her. Wie gebannt saß er da, versuchte zu verstehen, welchem Plan sie folgten, wohin sie gingen und woher sie kamen, wenn sie wieder vor ihm auftauchten und ihm aus ihren Fratzen entgegenblicken.
Hans war alleine, in seiner von Autismus durchdrungene Sphäre. Plötzlich fühlte er eine Veränderung. Jemand war zu ihm gekommen. Sein Herz raste, er wagte nicht auf zu blicken.
Eine Stimme sagte: „Wovor hast du Angst?“
„Wer bist du?“
„Weißt du es nicht? Dann ist es Belanglos, nenne mich einfach... Joe“
„Joe? Was willst du von mir? Verschwinde!“ Zögerlich hob er den Kopf, blickte er über seine Schulter. Doch da war nichts. Vorsichtig tastete er nach allen Seiten, suchte nach den unsichtbaren Grenzen dieser Umklammerung. Er wusste, sie war da, real wie die Luft, die er atmete. Doch er griff immer nur ins Leere.
Damm damm damm, dip dirididididip, damm damm damm. Das Gewitter der Lichtorgeln zog ihn an. Auf der letzten Terrasse vor der Arena kauerte er sich auf eine Bank.
„Joe. bist du da?“
„Ich bin da.“
„Ich sehe dich nicht, bist du wirklich? Oder... ?“
„Das mit der Wirklichkeit ist eine seltsame Sache. Wirklich, fragst du! Ist es nicht paradox, wenn du die Wirklichkeit bemühst und sie zur gleichen Zeit in Frage stellst? Von welcher Wirklichkeit sprichst du? Wirklichkeit entsteht nicht irgendwo, sie entsteht in dir selbst, jeden Augenblick neu. Du fragst ob ich wirklich bin. Du selbst hast mich geschaffen! Nun existiere ich. Das ist Realität. Es ist deine Realität.
„Meine Realität, was soll das bedeuten? Ich spüre da ist etwas, da, und da, und da, es grenzt mich ein, überall ist es, ich weiß es ist da, doch ich kann es nicht sehen, es lässt sich nicht fassen. Was soll daran real sein!“
Joe lachte. Hans konnte hören, wie sich das Lachen an irgendwelchen Wänden reflektierte. Das Lachen verstummte. „Wie willst du einen Eindruck anfassen, wie geht das. Oder nach Gedanken greifen. Wie geht das? Du kannst sie nicht anfassen. Nicht mit den Händen.“
„Nicht mit den Händen? Ich will nichts wissen von diesen Dingen. Für mich kann es nur das geben, das ich anfassen kann. Mehr nicht.“
„Du denkst es gibt nur eine Wirklichkeit? Wie schrecklich wäre das für unsere Welt. Ein einzig gültiges Schema. Welche Kultur würde daraus entstehen?! Ganze Völker gingen schon daran zugrunde. Die Vielfalt ist es, die uns belebt. Schau dir diese Menschen an, da draußen, in der Arena, was siehst du?
„Was soll ich sehen, da sind Schatten, flackerndes Licht, schemenhafte Gestalten mit abgehakten Bewegen.“
„Genau das ist dein Eindruck, wenn du sie aus deinem Blickwinkel betrachtest. So lässt du sie in dir entstehen, in diesem Augenblick. So erlebst du sie in deiner Realität. Doch glaubst du wirklich, diese Menschen erleben sich genau so, wie du sie erlebst. Sie haben ihren eigenen Kosmos und erleben ihre eigene Realität. Womöglich kommst du gar nicht vor, in ihrer Wahrnehmung. Dann existierst du nicht einmal für sie. Würdest du dann sagen, das kann nicht sein, nur weil sie dich nicht realisieren in ihrer Welt?“
„Jeder schafft sich sein Universum selbst?“
„Ja! In jedem Augenblick von Neuem. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Realität zu erleben. Stell dir einen Berg vor, von der Sonne in das schönste Licht gerückt. Du stehst davor und denkst dir: wunderbar, die grünen Wiesen am Hang, die Bäume, der Bach, und lässt ein Bild in dir entstehen. Jedoch hinter dem Berg ist Schatten, eine andere Person denkt: kalt ist es, hinter diesem hässlichen, kahlen Berg. In ihm entsteht ein anderes Bild, eine andere Realität von diesem Berg“.
Hans resümierte: „Eine Sache, verschiede Realitäten“
„So ist das, mit der Wirklichkeit. Der Berg ist und bleibt der selbe. Nur die Betrachter hatten ihn unterschiedliche realisiert. Unterschiedliche Realitäten existieren gleichberechtigt nebeneinander. Verändere deinen Blickwinkel und es wird eine neue Realität in dir entstehen.“
„Und diese Zelle, die mich begrenzt ist Realität!“
„Deine Realität, dein Universum. Du hast es geformt mit deinen Wünschen und deinen Ängsten. Heute Abend ist dein Universum ein Käfig, in dem du dich selbst gefangen hast. Steh auf, und befreie dich. Schaffe eine neue Realität in dir.“
Es war das letzte Mal, dass Hans das Big Apple besuchte. Doch Joe ist er noch viele Male begegnet. Und wenn sie nicht.....