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Gespräch für die Ewigkeit oder: Die blaue Blume

jbk

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17.06.2003
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Gespräch für die Ewigkeit oder: Die blaue Blume

Die Dämmerung legte sich zwielichtig ins Zimmer von Herrn K.
Es war kein großes und kein kleines Zimmer. Nicht zu viele, aber auch nicht wenige Möbelstücke standen so im Zimmer verteilt, wie er es mochte. Da waren der Kleiderschrank aus Birkenholz, der mehrere Fächer in verschiedenen Höhen hatte, in denen Hosen verschiedenen Aussehens (Jeans-, Stoff- und Korthosen), verschiedenfarbige Hemden (rote mochte er besonders gerne), T-Shirts für die warmen Tage, Socken (keine gelben) und Unterwäsche lagen. Ferner stand in einer Zimmerecke, eine antike Kommode aus feinem gemasertem Holz, die er von seinem Vater einst geerbt und sorgfältig restauriert hatte, damit sie noch eine halbe Ewigkeit länger denjenigen erfreuen sollte, der sie betrachtet oder an ihr Platz nimmt, um etwa in einigen ruhigen Stunden an ihr Gedanken aufs Papier zu bringen. Auch ein offenes Regal weilte vor einer Wand. Hier verwarte er seine Lieblingsbücher auf, das Gesamtwerk von Hermann Hesse, dem Autor seiner Jugend, dessen Schriften er bereits mit 18 Jahren kannte und liebte, aber auch Leinenbände der Goetheschen Gedichte, des Werthers, der Wanderjahre und der Faust gehörten dazu. Einen ganz besonderen Platz unter diesen Werken aber hatte Novalis. „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren…“ war eine Lebensweisheit, die Herrn K. sein ganzes Leben lang begleitet hatte und er kannte die Höhle und die Wiese, die Heinrich von Ofterdingen schon früh durchwandert hatte, nur zu gut.
Und noch etwas war charakteristisch für sein Zimmer: die vielen, selbst gemalten Bilder.

Der Sohn von Herrn K. schaute aus dem Schlafzimmerfenster in den späten Tag. Durch diesige Luft ließ er seinen Blick über Felder, auf denen das Korn stand, hin zu den Umrissen des Waldrandes schweifen, dessen Bäume nur mehr bläulich in den sich dunkelnden Westhimmel ragten. Der Mond wanderte schon seinen gemächlichen, steten Gang und Grillen zirpten ihr immerwährendes Lied.
Herr K. indes hustete schwer.
„Der Mond erfreut mich nicht mehr.“, sagte sein Sohn, immer noch aus dem Fenster blickend. „Er scheint immer noch silbern und erhaben, doch nicht mehr so wie früher. Die Zeiten ändern sich, auch ohne unser Wollen. Meistens merken wir es erst dann, wenn der Wandel vollzogen ist. Dann aber wissen wir es mit schmerzlicher Gewissheit, dass wir etwas verloren haben, was nicht wiederkehrt. Doch ich spüre es schon jetzt- und es macht mir Angst.“
Er drehte sich um und setzte sich auf den Stuhl neben seines Vaters Bett.
„Ich will nicht, dass du den gleichen Gang vor dir hast.“
„Michael“, sagte Herr K., „das ist der Lauf des Lebens. Dinge ändern sich nun mal. Das war schon immer so, und so wird es auch bei uns keine Ausnahme machen.“
„Ich fürchte den Verlust so sehr. Es ist nicht fair. Warum du?“ Er schaute zum Boden, die Hände vor dem Gesicht verschlossen. „Warum du?“
„Es ist an der Zeit. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, Michael.“ Wieder schweres Husten. „Er gehört zum Leben dazu.“
„Und was ist mit dem Sterben?“
„Es schmerzt. Wie auch die Geburt eine schmerzvolle Erfahrung im Leben ist. Aus der Wärme in die Kälte. Beim Tod ist es nur umgekehrt.“
Sein Sohn blickte wieder auf. „Du fürchtest dich nicht?“
„Warum sollte ich? Sieh: Mein Leben war erfüllt. Ich hatte das Glück, immer das tun zu dürfen, was ich wollte. Ich habe dich aufwachsen sehen dürfen. Das hat mich stolz gemacht. Ich hatte eine liebenswerte Frau, die alles verkörperte, wonach ich mich sehnte. Jetzt sehne ich mich dahin, sie wieder zu sehen. Nach ihrer Stimme, ihrer Anmut, ihrer Großzügigkeit und Sanftmut.“
Michael hielt sein Herz. „Und was ist mit mir? Ich werde dich vermissen. Wenn du weg bist, ich- ich weiß nicht, was dann kommt… Soviel, was unbesprochen zurück bleibt. Fragen, die noch nicht gestellt, Antworten, die noch nicht gegeben sind. Deine Stimme, deine Anwesenheit- weg! Nicht mehr da- das ist… so ungerecht!“
Herr K. holte hörbar Luft. Sein Atem rasselte, und Michael schaute besorgt, sogar geängstigt, wie ein Kind zu seinem Vater.
„Du kennst die Kommode, die mein Vater mir einst gegeben hat.“, begann Herr K. nach einer Pause. „In ihr gibt es ein Fach, hinter der kleinen Tür. In der oberen Ecke ist ein Schalter, der ein Fach öffnet. Meine Tagebücher liegen darin. Du sollst sie lesen. Dort stehen Antworten auf noch nicht gestellte Fragen. Lese sie, mein Junge. Bitte.“
„Aber deine Stimme… sie wird mir fehlen.“
„Mach dir nicht so viele Gedanken um mich. Ich bin alt und glücklich. Das solltest du wissen und behalten: Ich bin glücklich, auch im Sterben, weil ich einen Sohn habe, der bei mir ist, wenn ich den letzten Weg begehe.“
Michael schluchzte.
„Und meine Bilder. Geh in mein Atelier, schaue dich um. Sie sollen dir gehören. Durch sie lebe ich doch weiter, lebe in deiner Erinnerung immer wieder auf. >Die Erinnerung ist eine Zauberin, die alles verschönt, was sie berührt.< Ein Zitat eines russischen Schriftstellers. Die Bücher, ja, lese sie. Auch so werde ich bei dir sein.“
„Woher nimmst du nur die Kraft?“
„Sie bleibt übrig, wenn der Körper kraftlos wird. Sie ist wie das Mondlicht in der Dunkelheit, die Seele, mein Junge, stirbt niemals.“
Michael stand auf und ging wieder zum Fenster. Der Mond stand nun im vollen Glanz am Himmelschwarz. „Ein Licht in der Dunkelheit, sagst du…“ Ein Licht in der Dunkelheit, wiederholte er leise, den Tränen nahe.
Noch eine Weile blickte er zum Himmel. Im Zimmer war es ruhig. Kein Husten mehr, kein Rasseln, nur sanftes Mondlicht, silber- matt, wie das Gegenteil eines Schattens.
„Die Seele…“, dachte er.

 

Hallo jbk

sehr rührend, einfülsam und bildlich hast du diese Geschichte geschrieben.
Schön wie du die melancholische Stimmung in diesem Zimmer eingefangen hast.


Ich habe dich aufwachsen sehen dürfen, ein Baby zum Kind, ein Kind zum Jugendlichen, einen Jugendlichen zum jungen Erwachsenen und schließlich
zum Mann werden sehen

Dieser Satz hat mich ein wenig verwirrt.

Ansonsten hab ich sie gerne gelesen

Morpheus

 

Jo Morpheus,

habe deinen Vorschlag umgesetzt.
Sorry, hatte die Geschichte ganz vergessen; deshalb das späte Reply.

Grüßt
Jan

 

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