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Gespenster

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13.01.2012
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Gespenster

Einkaufzentren sind ihm schon an normalen Tagen zu viel, aber jetzt, eine knappe Woche vor Weihnachten, fühlt Andreas sich von den grellen Lichtern, den brandenden Stimmen, den Weihnachtskugeln und falschen Geschenkboxen, von den drängelnden und an Kassen wartenden Menschenmassen überwältigt. Ihm ist zu warm und er spürt, wie unter Mantel und Schal sein Hemd an ihm klebt. Die Gegenwart all der vorbeihastenden Fremden zieht schmerzhaft an seinen Schläfen.
Er tritt aus dem skandinavischen Kramladen heraus, setzt beide Plastiktüten ab, öffnet seinen Mantel und wischt sich die Stirn. Für wen benötigt er noch ein Geschenk? Und hat er wirklich alles, was Lara ihm an aufgeschrieben hat? Für Laras Vater hat er eine Flasche Whiskey gekauft. Für ihre Freunde Markus und Ellen haben sie einen schwarz-metallenen Kerzenständer. Für seine Mutter wird er am Heiligen Abend einen Strauß Blumen abholen … Wein! Er hat den Rotwein vergessen!
Seine Hände haben sich gerade wieder um die Schlaufen der Plastiktüten geschlossen, er hat einen Fuß schon angehoben, um sich wieder durch die Menge zu kämpfen, als er Annabelles Gesicht in der Menge erkennt. Es ist nur ein kurzer Moment, aber er ist sich sicher: Zwischen den kulissenhaft vorüberziehenden Mänteln und Köpfen hat er Annabelles Gesicht aufblitzen sehen. Ehe er einen klaren Gedanken fassen kann, haben sich seine Beine bereits in Bewegung gesetzt. Er erreicht den Punkt, an dem er sie ausgemacht hat und blickt um sich.
Andreas überragt die meisten anderen um einen halben Kopf es gelingt ihm, Annabelle über Schultern und Haare hinweg wiederzufinden. Ist sie das wirklich? Aber der Zweifel meldet sich nur leise, fast unhörbar hinter dem Pochen seines Herzens. Viele könnten von hinten, auf diese Entfernung so aussehen: eine mittelgroße Frau mit schulterlangem, von helleren Strähnen durchzogenem, nussbraunen Haar. Ihren beigen Mantel kennt er nicht, natürlich nicht, vermutlich hat sie ihn noch gar nicht besessen, damals, vor zehn Jahren. Aber der kurze Moment, in dem er ihr Gesicht erkannt hat, hat in seiner Erinnerung einen Schaltkreis geschlossen. Der Gang, die Art wie sie sich bewegt: Sie muss es sein. Und Andreas folgt ihr, beeilt sich, weil sie schon einen erheblichen Vorsprung hat. Andreas ist nicht nur größer sondern auch breiter gebaut als die meisten und er hat Probleme, sich durch die Menschenmassen hindurchzuarbeiten. Ein Rentner blafft ihn von der Seite her an, als Andreas mit einer Tüte an seinem Rollator hängenbleibt.
Und selbst wenn sie es ist – was tust du hier eigentlich? Die Frage klingt noch in ihm nach, während er Annabelle über den Platz in den ebenfalls überfüllten Bahnhof folgt. Als er die große Halle betritt, nimmt sie gerade die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Am Gleis angelangt sieht er sie nicht mehr, aber dort steht ein Regionalzug und die Anzeigetafel zeigt die Abfahrt in einer Minute. Ein Teil von Andreas, ein entfernter Teil, ist davon überzeugt, dass er den Verstand verloren haben muss, als er in den Zug steigt.
Eine Signalmelodie ertönt und der Zug setzt sich in Bewegung. Großartig. Was soll ich Lara erzählen? Aber die Frage beschäftigt ihn nur einen Moment. Ob sie wirklich in diesen Zug gestiegen ist? Verschwitzt und abgehetzt kommt er sich unglaublich dumm vor. Die Tragelaschen der vollgepackten Tüten schneiden in seine Handflächen. Schließlich lässt er sich am Ende des Abteils auf einen Sitzplatz fallen. Du spinnst. Das war gar nicht Annabelle. Du spinnst und du siehst Gespenster.
Aber als er seinen Blick wieder hebt, ihn zur Heckscheibe des Wagons wandern lässt, sieht er sie: Durch zwei Glasscheiben von ihm getrennt sitzt sie im nachfolgenden Wagon. Den beigen Mantel hat sie in der Wärme des Zuges aufgeknöpft. Durch die Reflektionen beider Scheiben kann er keine Details erkennen, was den unheimlichen Effekt erzeugt, dass Annabelles Gesicht um keinen Tag älter wirkt als noch vor zehn Jahren. Aber sie sieht erschöpft aus, ihre ganze Haltung verrät es. Den Kopf hat sie gegen das Sitzpolster zurückgelegt. Sie blickt schräg zur Decke hinauf. Beinahe als würde sie träumen.


Annabelle hatte diesen verträumten Blick als sie, den Kopf schräg gegen das Polster des Sofas gelehnt, zu ihm aufsah. Als würde sie mit offenen Augen träumen. Ihr Hals wirkte in dieser Position sehr lang, gegen das dunkle Haar unglaublich weiß und irgendwie – sehr offen, sehr verletzlich. Für einen Moment wurde das Verlangen, sich hinunter zu beugen und sie zu küssen, sie dort auf diesen perfekten, weißen Hals zu küssen, fast übermächtig stark.
Reiß dich zusammen und du bist ganz schön betrunken, sagte die vernünftige Stimme in ihm. Aus Verlegenheit – und um etwas Abstand zwischen sich und sie zu bringen – tat er für eine Sekunde so, als läse er das Etikett der leeren Bierflasche in seiner Hand, beugte sich vor und stellte sie auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa.
Der Raum, soweit er das in seinem Zustand einordnen konnte, sah schon wieder ganz passabel aus: Die Tische hatten sie gewischt und den Boden gesaugt. Der Zigarettenrauch und der harzige Grasgeruch zogen durch die weit geöffneten Fenster hinaus in die kalte Dezemberluft. Die schmutzigen Pappteller und Plastikbecher hatten sie in große Müllsäcke gestopft. Am anderen Ende des Raumes, hinter der improvisierten Theke stand ihr gemeinsamer Kommilitone Edgar – Eddie – und sortierte ein paar leere Flaschen in Kästen. Aus den Boxen drang noch leise „My Friends“ von den Red Hot Chili Peppers.
Als Andreas sich wieder zurücksinken ließ, befand Annabelle sich immer noch in der exakt gleichen Position – nur etwas näher. Oder bildete er sich das ein? Immer noch hatte sie den Kopf schräg gegen das Polster gelehnt und sah mit diesem träumenden Blick zu ihm auf. Oder durch ihn hindurch?
Dann bewegte sie die Lippen. „Es schneit“, hörte er und ihre Stimme klang weich, müde und etwas unstet. Er wandte den Kopf und tatsächlich: Vor dem offenen Fenster waren im aus dem Raum dringenden Licht schwere, weiße Flocken zu sehen. Sie taumelten langsam und lautlos herunter. Einige fielen durchs Fenster herein, tanzten in der aufsteigenden Wärme und schmolzen, sobald sie das Fensterbrett trafen. „Und noch drei Tage bis Weihnachten“, bemerkte er sinnlos, um irgendetwas zu sagen.
„Glaubst du an Gespenster?“, fragte sie plötzlich. Er war überrascht – und gleichzeitig doch nicht. Den Sinn ihrer Frage verstand er nicht – aber er glaubte zu spüren, wie sie auf diese Frage gekommen war: Etwas an dieser Stunde, zwischen zwei und drei Uhr früh, die frostige Winternacht, die Schneeflocken, die selbst wie flüchtige Geister im letzten Licht tanzten. Und, so stellte er nun fest, auch Eddie war plötzlich fort. Hatte die Musik ausgestellt und war unbemerkt verschwunden. Nun war es still und sie waren allein, nur sie zwei. Annabelle und er.


Kaum tritt Andreas auf den Bahnsteig hinaus, als ihm auffällt, dass er die beiden Einkaufstüten – die Geschenke, die Zutaten fürs Weihnachtsessen, den Whiskey für Laras Vater – im Zug hat stehen lassen. Er will schon in die Bahn zurückspringen – aber Annabelle entfernt sich den Bahnsteig hinab. Er folgt ihr.
Wenige Fahrgäste sind in diesem kleinen Ort ausgestiegen und Andreas hält Abstand. Der Weg führt vom Bahnhof über einen windigen Marktplatz, dann eine kopfsteingepflasterte Dorfstraße hinab und am gefrorenen Ufer eines Sees entlang. An einer Sandsteinkapelle biegt Annabelle ein und Andreas folgt ihr in eine ruhige Straße mit bescheidenen Einfamilienhäusern. Die Sonne verschwindet bereits und über den Hecken leuchten Lichterketten. In den Fenstern beginnen elektrische Kerzen zu glimmen.
Andreas‘ Hände fühlen sich in seinen Manteltaschen klamm und kalt an. Desorientiert bleibt er bei der kleinen Steinkirche stehen. Ein Gefühl der Vertrautheit verunsichert ihn. Ist er schon einmal hier gewesen? Als Jugendlicher, im Sommer zum Schwimmen am See? Auch die Wohnstraße mit ihren unscheinbaren Häusern und Vorgärten kommt ihm bekannt vor. Hat er hier als Kind einmal einen Freund besucht?
Schließlich öffnet Annabelle das Gartentor zu einem allein stehenden Haus am Ende des Weges, kurz vor dem Rand eines Wäldchens. Andreas bleibt in einigem Abstand stehen und beobachtet, wie Annabelle die Haustür aufschließt. Für einen Moment dringt warmer Lichtschein heraus in den kalten Dezemberabend, dann schließt sich die Tür. Der gusseiserne Gartenzaun ist alt und das Haus selbst dürfte vom Anfang des letzten Jahrhunderts stammen. Die Fassade allerdings ist frisch gestrichen und das Dach neu gedeckt. In der Einfahrt steht ein roter VW-Kombi.
Nachdem er eine Weile gefroren und Annabelle nicht mehr gesehen hat, gelingt es Andreas sich loszureißen. Na schön, denkt er, während er, wütend auf sich selbst, den Weg zur Kirche zurück nimmt, du hast für dieses Jahr genug gesponnen. Überleg dir besser eine Ausrede für Lara!
Als er den verwaisten Marktplatz erreicht, spürt er bereits die Schwäche und das Halskratzen einer beginnenden Erkältung. Großartig. Er zieht den Schal ärgerlich enger, hat für eine Sekunde den Impuls, sich damit zu strangulieren. Im Bahnhof hat ein Kiosk noch offen und Andreas kauft sich einen heißen Kaffee. Wenn dem vergilbten Fahrplan zu trauen ist, wird er hier noch eine Dreiviertelstunde warten.
Mit jeder Minute fühlt Andreas sich schwächer. Er ist sich immer weniger sicher, ob es sich bei der Frau, die er zu ihrem Haus verfolgt hat, wirklich um Annabelle handelte – oder er einer Illusion unterlegen ist. Sicher: ihr Gang, die Silhouette ihres Körpers, das nussbraune Haar, auch das Gesicht – die Art, wie sie träumend den Kopf zurückgelegt hat …
Noch acht Minuten, verrät ihm die Bahnhofsuhr. Er wird Lara erzählen, dass er sich schon den ganzen Tag krank gefühlt hat, aber heute doch länger arbeiten musste. Und deshalb nicht zum Einkaufen gekommen ist. Sein Kollege Rainer ist seit zwei Tagen krank, das passt perfekt: Er hat sich angesteckt. Das wird mit etwas Glück Laras Mitleid wecken. Er wird sich eine Kanne Tee machen, sich ins Bett legen und hoffentlich …
Das Haus am Ende des Weges. Aus den Fenstern drang bereits Licht, als Annabelle heimkam. Der Kombi in der Einfahrt. Mit einem Mal muss Andreas es wissen. Er wirft den kalten Kaffee in einen Mülleimer und eilt aus dem Bahnhofsgebäude. Er zittert. Ob vor Aufregung oder Fieber weiß er jetzt schon nicht mehr.


Jetzt, sagte eine feste Stimme in seinem Kopf. Das ist der Moment. Annabelles Augen hatten noch immer den träumenden Ausdruck, aber in ihnen lag auch etwas Fragendes. Ihr Gesicht war seinem so nah, dass er die winzig feinen Härchen auf ihren Wangen erkennen konnte und ihre Lippen waren leicht geöffnet.
Andreas drehte seinen Oberkörper, brachte sein Gesicht noch näher an ihres. Dies war der Moment, von dem er immer wieder geträumt hatte, seit er Annabelle nach einer unbeschreiblich langweiligen Vorlesung kennengelernt hatte. Der Moment, von dem er immer wieder versucht hatte, sich einzureden, dass er ihn sich nicht herbeisehnte. Und noch immer taumelten die Schneeflocken wie betrunkene Gespenster zum Fenster herein.
Aber was war, wenn er die Situation missverstand? Wenn ihr Blick, ihre leicht geöffneten Lippen kein Zeichen waren, sondern daher kamen, dass sie – wie er selbst – während der Feier lediglich zu viel getrunken hatte?
Er rückte ein kleines Stück von Annabelle ab. Außerdem waren sie Freunde. Würde er nicht ihr Vertrauen missbrauchen, wenn er sich jetzt plötzlich, nach einer Party auf sie stürzte? Wollte er ihre Freundschaft riskieren? Wofür? Schließlich hatte sie ja einen Freund. Und genau genommen war er selbst auch immer noch mit Hanna zusammen – trotz ihres jüngsten Streits.
Er bekam sich in den Griff. Der Moment ging vorüber und schon war er sich sicher, einem schlimmen Fehler aus dem Weg gegangen zu sein. Er antwortete auf ihre Frage nach den Gespenstern etwas Witziges, halbwegs Originelles und sofort entspann sich ein fröhliches Gespräch über Geistergeschichten. Sie alberten noch eine Weile herum, Annabelle verwuschelte ihm das Haar – was sich jetzt seltsam anfühlte. Bald darauf schalteten sie das Licht aus, verließen den Raum der Fachschaft und blieben bis zu ihrem Abschluss befreundet.


Ein Blick. Nur einen Blick ins Innere muss er riskieren, dann wird er gehen. Aber diesen Blick muss er haben.
Andreas nähert sich dem Haus von der Rückseite her. Während er am Waldrand herumschleicht, ist er sich selbst unheimlich. Wie ein Raubtier kommt er sich vor, wie ein Ungetüm aus den Tiefen der Wälder. Er geht gebeugt, um seine große Gestalt zu verbergen. Die einsetzende Dunkelheit und die Schatten zwischen den Baumstämmen helfen ihm.
In dem ersten Fenster, dem er sich nähert, hängt eine knallbunte Lichterkette. Ein Kinderzimmer, denkt er. Und richtig: In dem warm erleuchteten Zimmer liegt, den Kopf auf dem Bauch eines großen Teddybären, ein Mädchen auf seinem Bett. Das Mädchen ist vielleicht sieben Jahre alt und trägt einen hellblauen Pyjama. Ihre Haarfarbe gleicht der Annabelles. Das Mädchen hält mit beiden Händen ein Buch über dem Kopf und am konzentrierten Blick und den sich öffnenden und schließenden Lippen erkennt Andreas, dass das Mädchen zu lesen versucht.
Helene, denkt Andreas und der Klang des Namens in seinen Gedanken versetzt ihm einen Stich. Sollte er eine Tochter haben, wollte er sie immer Helene nennen. Das Buch in ihren Händen kommt ihm bekannt vor. „Das Große Gutenachtbuch Für Kleine Träumer“, steht dort. Als Kind hat ihm sein Großvater aus dem gleichen Buch vorgelesen und er weiß, dass er es irgendwo aufbewahrt hat, falls er selbst einmal Kinder haben sollte. Irgendwo auf dem Dachboden muss es noch sein – falls Lara es nicht entsorgt hat.
Hinter dem nächsten Fenster verbirgt sich ein weiteres Kinderzimmer. Dem leeren Kinderbett in der Ecke nach handelt es sich um das Zimmer eines jüngeren Kindes. Ein Junge, denkt Andreas und weiß nicht warum. Leon. Noch eine Weile verharrt er vor dem leeren Kinderzimmer, starrt auf die Tapete mit dem wiederkehrenden Motiv eines Zeichentrick-Flugzeugs.
Er geht endlich weiter und blickt in die Küche. Dort steht seitlich zum Fenster Annabelle, die ruhig und konzentriert damit beschäftigt ist, Zwiebeln und Mohrrüben zu schneiden. Gleichmäßig bewegt sie das Messer auf und ab. Jetzt, im hellen Licht erkennt Andreas, dass sie sich in den letzten zehn Jahren doch verändert hat: Das Gesicht ist etwas voller geworden und um Augen und Mundwinkel sind Falten entstanden. Doch gleichzeitig trägt sie das Haar noch – oder wieder? – wie damals. Ihm wird geradezu schmerzhaft bewusst, was für eine schöne Frau Annabelle ist.


Andreas geht das Zeitgefühl verloren, während er dabei zusieht, wie Annabelle das Abendessen für ihre Familie kocht. Von ihm unbemerkt hat es zu schneien begonnen. Er ist so versunken, dass er die Flocken zunächst nur als Unschärfe seines Blickes auf Annabelle wahrnimmt – dann überrascht auf die feucht werdenden Ärmel seiner Jacke schaut.
Plötzlich verändert sich etwas. Annabelle wendet sich von ihren Töpfen ab und blickt zur Küchentür. Dort steht ein Mann. Aber so sehr Andreas seinen Kopf auch wendet: Lediglich die breiten Arme ragen in sein Blickfeld. In ihnen wiegt der Mann einen vielleicht dreijährigen Jungen. Leon, flüstert es wieder in ihm.
Annabelles Gesicht wird hell und warm, während sie mit ihrem Mann redet. Sie nimmt ihm den Jungen aus den Armen, beugt sich zu ihm hinab und spricht zu ihm. Jetzt tritt Annabelles Mann in die Küche. In dem Moment, als Andreas sein Gesicht sieht, setzt sein Geist für einen Moment aus – wie eine Kerze, die im plötzlichen Windstoß verlischt. Andreas schließt die Augen, hört sich selbst irgendetwas murmeln – doch als er die Lider wieder öffnet, ist die Illusion nicht verschwunden. Im Gegenteil: Der Mann steht jetzt inmitten der Küche und schaut hinaus in die Nacht, frontal in Andreas Gesicht.
Es ist sein eigenes Gesicht, in das er da schaut und das ihm aus der Küche entgegen blickt. Der Mann trägt Andreas‘ Gesicht. Der Andreas vor dem Fenster versteinert. Der andere muss ihn entdeckt haben. Müsste. Aber er schaut nur hinaus ins dichter werdende Schneegestöber und durch Andreas hindurch. Unaufgeregt wendet er sich wieder ab und sagt etwas zu Annabelle.
Als er sich wieder bewegen kann, tritt Andreas direkt ans Fenster. Aber noch immer scheint ihn niemand zu sehen. Die Sorge entdeckt zu werden hat sich vollständig aufgelöst und geblieben ist einzig der Drang herauszufinden, was hier vor sich geht, warum der Mann dort drinnen sein Gesicht trägt. Andreas klopft mit der Hand an die Scheibe. Im Innern der Küche sagt Annabelles Mann etwas, das sie zum Lachen bringt und sie verlassen gemeinsam den Raum.
Die Schneeschicht auf dem Boden ist noch dünn, doch als Andreas das Haus umrundet, fühlt es sich an, als stapfe er durch einen Meter hohe Watte. Vielleicht ist es der Schock, vielleicht die beginnende Erkältung, aber sein ganzer Körper fühlt sich unwirklich an, als könne er sich beim nächsten Windstoß gleichfalls in winzige Flocken auflösen.
Er erreicht die Haustür, presst die Klingeltaste mit seinem Daumen nach unten, für zehn Sekunden am Stück. Dann noch einmal. Doch drinnen geschieht nichts. Auch nicht, als er mit beiden Fäusten gegen die Haustür hämmert. Die Kälte hat inzwischen seine Jacke durchdrungen und als Andreas die Arme ermüdet sinken lässt, durchläuft ihn ein Schauder. Um ihn ist jetzt alles in Dunkelheit versunken. Nur vereinzelt stehen Straßenlaternen und Weihnachtslichter blass in der Finsternis.
Andreas lässt die Haustür links liegen und betritt die Veranda. Hinter der Glastür, im Wohnzimmer, ist die Familie um den Esstisch versammelt. Der Mann, der Andreas Gesicht trägt, löffelt sich gerade Erbsen auf den Teller, während Annabelle den kleinen Leon füttert. Helene ist damit beschäftigt, das Fleisch auf ihrem Teller in gleichmäßige Stücke zu zerschneiden. Ihr hochkonzentrierter Gesichtsausdruck gleicht dem Annabelles. Der Weihnachtsbaum neben dem Tisch ist hell erleuchtet.
Noch einmal, hoffnungslos, klopft Andreas gegen die Scheibe. Er weiß bereits, dass es nichts nützen wird: Nichts verbindet ihn hier draußen mit der Welt in Annabelles Haus.


Andreas‘ Finger, seine Arme und Beine haben begonnen und dann wieder aufgehört, vor Kälte zu brennen. Sein Haar ist nass von geschmolzenem Schnee. Doch immer noch wartet er vor Annabelles Haus – weil er nicht weiß, was er sonst tun soll. Weil da kein anderer Ort mehr ist, an den er gehen kann. Nur das pechschwarze Nichts jenseits der Veranda.
Im Haus ist es still geworden. Andreas hat durch die Fenster verfolgt, wie die Eltern die Kinder zu Bett gebracht haben. Annabelle saß bei Leons Bett, während er sanft einschlief. In dem anderen Kinderzimmer bot sich ihm ein Anblick, der sein Herz zu gleich mit Frieden und Schrecken erfüllte: Er sah den Mann, der sein Gesicht trägt, der kleinen Helene aus dem „Gutenachtbuch für Kleine Träumer“ vorlesen. Dabei fühlte er, wie er die blau gefrorenen Lippen synchron mit denen seines Doppelgängers bewegte. Die Worte, die sie formten, kannte er nicht. Bald darauf gingen die Lichter im Erdgeschoss aus.
Frierend wartet Andreas noch immer, weiß nicht worauf. Vielleicht nur darauf, dass auch die letzte Weihnachtsbeleuchtung im Haus und auf der Veranda verlischt und die Welt vollends im Dunkeln versinkt. Da erscheint im Haus ein fahles Licht, zeichnet grau die Treppe ins Obergeschoss nach. Einen Moment später kommt Annabelle die Treppe herab. Sie geht auf die Verandatür zu, lächelt Andreas warm an.
Sie schiebt die Verandatür auf, tritt zu ihm heraus. Sie ist nur mit Pantoffeln und einem Bademantel bekleidet, der sich im Wind wellt und Andreas beinahe streift. „Annabelle“, flüstert er.
Annabelle legt den Kopf schief, schließt die Augen ein wenig, als lausche sie einem Geräusch im eisigen Wind. Dann zieht sie den Bademantel fröstelnd enger um sich. Aus der Tasche holt sie ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten. Die Glut brennt hellrot in der Dunkelheit und Andreas beobachtet gebannt, wie sie sich durch die gesamte Zigarette frisst. Mit einem letzten Frösteln drückt Annabelle die Zigarette in einem Aschenbecher aus und wendet sich um.
Andreas folgt ihr nach drinnen und mit pochendem Herzen die Treppe hinauf. Sein Herz spürt er noch. Alles andere ist von der Kälte wie abgetötet. Er hatte gehofft, dass die Wärme in seine Glieder zurückkehren würde. Aber ihm ist weder kalt noch warm. Stattdessen fühlt er sich benommen und zugleich unendlich leicht.


Andreas steht am Fußende des Bettes, in dem Annabelle und der Mann mit seinem Gesicht liegen. Nur eine Nachttischlampe spendet noch Licht – in seinem Rücken spürt Andreas die Dunkelheit wie eine schwere, schwarze Masse. Das gedämpfte Licht zeichnet Annabelles Züge weicher. Jetzt kann Andreas keinen Unterschied mehr erkennen zwischen ihrem Gesicht damals und heute.
Annabelle hat den Kopf gegen die Brust ihres Mannes zurückgelehnt, dessen Hand auf ihrem Bauch ruht. Das hellbraune Haar fällt leicht über ihren langen, weißen Hals. Sie sieht müde aus und ihr Blick hat bereits etwas, als sehe sie erste Bilder des Traums. Er ist, obwohl unfokussiert, etwa auf die Stelle gerichtet, an der Andreas steht. Aber inzwischen hat er begriffen, dass keiner der beiden ihn wahrnehmen kann.
„Glaubst du eigentlich an Gespenster?“, fragt sie mit leiser Stimme.
Andreas sieht sein Gesicht lächeln. Der Mann im Bett küsst Annabelles Hinterkopf und fragt, zugleich amüsiert und überrascht: „Wie kommst du jetzt darauf?“
„Ich weiß nicht recht“, sagt Annabelle und gähnt. Sie dreht den Kopf so, dass ihre linke Wange auf der Brust des Mannes zu liegen kommt. Fast glaubt Andreas, den warmen Abdruck auf seiner eigenen Brust zu spüren. „Ich dachte nur: Ist es nicht vollkommen unwahrscheinlich, dass wir tatsächlich glücklich sind?“ Ihre halbträumenden Augen scheinen jetzt direkt in seine zu schauen.
„Hmm …“, macht der Andreas im Bett, während er seinen Arm um Annabelle legt. „Du hast Recht. Wahrscheinlich gehört zum Glücklichsein unwahrscheinlich viel Glück.“
„Beinahe unmöglich viel Glück.“ Der Gedanke scheint sie jetzt ernstlich zu beunruhigen. „Denk doch nur mal an die ganzen anderen Möglichkeiten, nur damals, als wir zusammengekommen sind: Wenn ich damals bei Alex geblieben wäre. Oder du dich mit Hanna versöhnt hättest …“
Der Andreas im Bett murmelt zustimmend. „Oder wenn ich mich einfach nicht getraut hätte, dich an diesem Abend zu küssen.“
Annabelle bewegt zustimmend den Kopf an seiner Brust. „An jedem Abend, wenn wir hier liegen, habe ich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Aber wie wahrscheinlich ist so etwas? Ist es nicht so viel wahrscheinlicher, an einem falschen Ort zu landen? Oder an irgendeinem halb oder fast richtigen Ort?“ In ihre Stimme hat sich jetzt ein Anflug von Angst geschlichen. Andreas sieht es auch in ihrem direkt durch seine eigenen Augen gehenden Blick. „An irgendeinem Ort, an dem man dauerhaft spürt, dass man nicht ganz richtig ist? An dem man nie voll und ganz fühlt, dass man hier richtig ist?“
Der Andreas im Bett nickt und murmelt nachdenklich.
Annabelle fröstelt. „Glück ist so unwahrscheinlich. Eigentlich müssten wir umgeben sein von Gespenstern. Von Schatten oder Resten dieser anderen Möglichkeiten, in denen wir nicht hier sind. Von traurigen Gespenstern.“
„Aber“, sagt Andreas zu ihr und seine Stimme klingt fest und beruhigend. „Wir sind hier. Und wir sind zusammen. Und wir sind glücklich.“ Er küsst sie auf die Stirn und Annabelles Züge entspannen sich. Andreas greift an ihr vorbei, knippst den Lichtschalter aus und warme Dunkelheit verschlingt ihn.

 

Hallo Meridian ,

so jetzt habe ich vor dem Schlafengehen noch Deine Geschichte gelesen. Dem Grunde nach fand ich sie ganz nett, auch wenn sie hier und da noch ausbaufähig ist. Das Ende gefällt mir, da offen bleibt, wer nun das Gespenst ist, quasi zwei Realitäten nebeneinander leben. Allerdings bekommt die Geschichte erst aber der Mitte Fahrt. Die ganze Kaufhaus- und Verfolgungsszene bis in den Zug, war mir etwas zu langatmig und langweilig.

Ein wenig irritieren mich auch die ganzen Doppelpunkte. Ich denke, die könnten zum größten Teil durch Punkte getauscht werden.

Auf dem kurzen Weg vom Büro hier herüber war ihm noch kalt gewesen, jetzt ist ihm zu warm und er spürt, wie unter Mantel und Schal sein Hemd unter den Armen und über der Brust an ihm klebt.

Hier kommst Du mit den Zeiten durcheinander. "Auf dem kurzen Weg vom Büro hier herüber war ihm kalt, jetzt ist ihm zu ..."


am anderen Ende des Einkaufszentrums zurück – und richtig:

Der Gedankenstrich kann m.E. weg.

Das könnte jeder sein.

Jede? Oder? :D

Und selbst wenn sie es ist – was tust du hier eigentlich?

Der Wechsel der Perspektive stört hier den Lesefluss. Ich fände "Was tat er hier eigentlich" schöner.

Ein Teil von Andreas, ein entfernter Teil, ist davon überzeugt, dass er den Verstand verloren haben muss, als er, kurz bevor sich die Türen schließen, in den Zug einsteigt.

"... als er kurz bevor sich die Türen schließen, in den Zug einsteigt" M.E. ist da ein Komma zu viel. Vielleicht gibt es dazu noch eine Zweitmeinung :shy:


Durchaus gerne gelesen. Die Idee ist auf jeden Fall gut.

Viele Grüße
Mädy

 

Hallo Meridian,

Einkaufzentren sind ihm schon an normalen Tagen zu viel, aber jetzt, eine knappe Woche vor Weihnachten, fühlt Andreas sich von den grellen Lichtern, den brandenden Stimmen, den Weihnachtskugeln und falschen Deko-Geschenkboxen, von den schiebenden und an Kassen wartenden Menschenmassen schier überwältigt.
Dein erster Satz, mit den vielen Informationen, überwältigt mich auch ein bisschen. Aber das passt dann wohl ganz gut zu Andreas Empfinden. :shy:


Er hasst volle Orte.
Ich finde volle Orte, ist keine schöne Ausdrucksweise. Da findest du bestimmt etwas besseres.


Die enge Gegenwart all der vorbeihastenden Fremden zieht schmerzhaft an seinen Schläfen. Auf seinen Augen lastet ein blendender Druck.
Enge Gegenwart und blendender Druck auf den Augen klingt falsch für mich.


Und selbst wenn sie es ist – was tust du hier eigentlich?
Kommentar von Mädy: Der Wechsel der Perspektive stört hier den Lesefluss. Ich fände "Was tat er hier eigentlich" schöner.
Sehe das ähnlich. Mein Vorschlag: „Was tut sie hier eigentlich?"


Verschwitzt und abgehetzt kommt er sich unglaublich dumm vor. Die Tragelaschen der vollgepackten Tüten schneiden in seine Handflächen.
Gutes Bild.


Dann bewegte sie die Lippen. „Es schneit“, hörte er und ihre Stimme klang weich, müde und etwas unstet. Er drehte den Kopf und tatsächlich: Vor den offenen Fenstern waren im aus dem Raum dringenden Licht schwere, weiße Flocken zu sehen. Sie taumelten langsam und lautlos herunter. Einige fielen sogar durchs Fenster herein, tanzten in der aufsteigenden Wärme und schmolzen, sobald sie das Fensterbrett trafen. „Und noch drei Tage bis Weihnachten“, bemerkte er sinnlos, um irgendetwas zu sagen.
Die Stelle mag ich sehr. :)


Wenige Fahrgäste sind in diesem kleinen Ort, dessen Name auf „-ow“ endet, ausgestiegen
Hmm, 20min Fahrt mit dem Regio aus der Stadt raus. Teltow? :schiel:
Der Weg führt aus dem Bahnhofsgebäude über einen windigen Marktplatz, dann eine kopfsteingepflasterte Dorfstraße hinab und am gefrorenen Ufer eines Sees entlang.
Nee, es gibt in Teltow nur einen Kanal. Kleinmachnow? Ach, es gibt allein um Berlin, echt viele Orte mit –ow.


und Andreas hält Abstand, um nicht gesehen zu werden.
Warum möchte er nicht von Annabelle gesehen werden?


Andreas‘ Hände fühlen sich in seinen Manteltaschen klamm und kalt an.
Ich denke, das Apostroph brauchst du nicht, nur weil sein Name auf s endet. (mehrfach im Text) Hände, die sich klamm anfühlen, passt für mich nicht. Wäsche kann klamm sein. Hände vllt. starr/taub vor Kälte.


Endlich öffnet Annabelle das niedrige Gartentor zu einem etwas allein stehenden Haus ganz am Ende des Weges, kurz vor dem Rand eines Wäldchens.
Warum endlich. War Andreas es leid, ihr noch weiter zu folgen?


Andreas bleibt in gebührendem Abstand stehen
Klingt sehr förmlich. Vllt. einfach bliebt in einigem Abstand/einiger Entfernung stehen.

Noch immer steht Andreas unschlüssig[da/…].

Nachdem er eine Weile gefroren und Annabelle nicht mehr gesehen hat, gelingt es Andreas endlich, sich loszureißen.
Wortwiederholung. MMn könnten beide endlich weg.


Nachdem er eine Weile gefroren und Annabelle nicht mehr gesehen hat, gelingt es Andreas endlich, sich loszureißen. Na schön, denkt er, während er, wütend auf sich selbst, den Weg zur Kirche zurück nimmt,
Oh nein, er geht einfach wieder? :hmm:


Annabelles Augen hatten noch immer den träumenden Zug, aber in ihnen lag auch etwas Fragendes.
Ich weiß schon, dass du hier nicht den (Regio-)Zug meinst. Trotzdem würde ich es, so dicht um die Bahnhofsszene und Zugerinnerungen, ändern. Vllt. in Ausdruck.


Aber – was war, wenn er die Situation missverstand? Wenn ihr Blick, ihre leicht geöffneten Lippen kein Zeichen waren, sondern daher kamen, dass sie – wie er selbst – während der Feier mindestens ein Bier zu viel getrunken hatte?
Der erste Gedankenstrich, hinter aber, kann weg. Bei wie er selbst, finde ich es gut.


Würde er nicht ihr Vertrauen missbrauchen, wenn er sich jetzt plötzlich, nach einer Studentenparty auf sie stürzte?
Ja wenn er sie küssen will, dann jetzt! Er kann es doch auf den Alk schieben! ;)
Andreas würde es mMn (nur) als Party bezeichnet. Du hast bereits erwähnt, dass sie sich in einem Tutorium kennen gelernt haben. Alle um sie herum sind Studenten(Edgar,…). Brauchst also keine Differenzierung.
Der ganze Absatz hat mir zu viele Gedankenstriche.


Während er am Waldrand herumschleicht, ist er sich selbst unheimlich. Wie ein Raubtier kommt er sich vor, wie ein uraltes Ungetüm aus den Tiefen der Wälder. Er geht gebeugt, um seine große Gestalt zu verbergen. Die einsetzende Dunkelheit und die tieferen Schatten zwischen den Baumstämmen helfen ihm.
Schönes Bild.


Irgendwo in seinem Hinterkopf ist noch die leise Sorge entdeckt zu werden. Er hält sich still außerhalb des aus dem Fenster fallenden Lichtkegels. Gleichzeitig ist die Sorge überdeckt von einer ganz unvernünftigen, doch übermächtigen Gewissheit, nicht entdeckt werden zu können.
Überdeckt könntest du mit überlagert oder ähnlichem ersetzten.


In dem Moment, als Andreas sein Gesicht sieht, setzt sein Geist für einen Moment aus
Ich kenne nur: sein Verstand setzt für einen Moment aus.


Um ihn ist jetzt alles in klamme Dunkelheit versunken.
Klamme passt hier nicht.


Noch einmal, hoffnungslos, klopft Andreas gegen die Scheibe. Er weiß bereits, dass es nichts nützen wird: Nichts verbindet ihn hier draußen mit der Welt in Annabelles Haus.


Andreas‘ Finger, seine Arme und Beine haben begonnen und dann wieder aufgehört, vor Kälte zu brennen. Sein Gesicht ist taub und das Haar nass von geschmolzenem Schnee. Doch immer noch wartet er vor Annabelles Haus – weil er nicht weiß, was er sonst tun soll. Weil da kein anderer Ort mehr ist, an den er gehen kann. Nur das pechschwarze Nichts jenseits der Veranda.

Hier hast du die Absätze so getrennt, dass ich dachte, es gäbe einen weiteren Sprung in die Vergangenheit. Da es die gleiche Szene ist, könntest du es ranziehen.


Er sah den Mann, der sein Gesicht trägt, der kleinen Helene aus dem „Gutenachtbuch für Kleine Träumer“ vorlesen. Dabei fühlte er, wie er die blau gefrorenen Lippen synchron mit denen seines Doppelgängers bewegte.
Das ist gruselig schön.


Der Andreas im Bett murmelt zustimmend. „Oder wenn ich mich einfach nicht getraut hätte, dich an diesem Abend zu küssen.“
Nach diesem Satz könnte die Geschichte für mich enden. Danach kommt mir zu viel Erklärung und Grübelei.


Deine Geschichte zieht sich ganz schön. Aber mir gefällt echt, wie du Andreas Gedanken und Gefühle beschrieben hast. Das hast du für mich gut dosiert, ohne zu übertreiben. Im großen Ganzen könnte man über Sinnhaftigkeit des Konstrukts der Geschichte streiten. Muss man aber nicht.

Gern gelesen.
Viele Grüße
wegen

 

Andreas‘ Hände fühlen sich in seinen Manteltaschen klamm und kalt an.

Ich denke, das Apostroph brauchst du nicht, nur weil sein Name auf s endet. (mehrfach im Text)

Hi, normalerweise mische ich mich nicht in Korrekturen ein, doch hier muss ich leider intervenieren ;)

Wann du das Apostroph in diesem Fall weg lässt, dann sind es nicht die Hände von Andreas sondern von Andrea.
Generell wird ein Apostroph gesetzt, wenn der Grundname auf s, ss, ß, tz, z, x, ce endet. :teach:

Gruß, GoMusic

 

Hey GoMusic,
stimmt, du Fuchs. 1a nach Duden. :)
Das hätte ich vorher nachschlagen sollen.
Danke fürs intervenieren.

VG
wegen

 

Hey Meridian,

Du also auch, so eine Geschichte - damals, vor zehn Jahren und jetzt Wiedersehen :). Aber so ganz anders. Mir hat das Seltsame am Ende echt gut gefallen. Das er sich da selbst sieht und die zwei Realitäten ineinander verschwimmen. Cooler Effekt. Und auch so ein Wunschdenken, sich in dem Leben sehen, wäre man damals nicht rechts, sondern links abgebogen. Wie wäre es gelaufen, wenn man sich in der einen Situation anders entschieden/verhalten hätte?

Die Geschichte an sich finde ich echt schön. Stilistisch hatte ich eher Hummeln im Hintern - noch 'ne Drehung, noch ein Schneeflöckchen, ein Lichtlein, ah jetzt geht weiter, und dann wieder Ding und Dongs und irgendwann wurde ich dem müde und habe überflogen, mich bei den Sätzen aufgehalten, die mir was erzählen, und die beschreibenden überlesen.
Ich sage mal, aus den jetzt 27.127 Zeichen mal gut 7000, besser noch 8000 Zeichen rausstreichen, ganze Sätze, halbe Sätze, einzelne Wörter - verdichten das Ganze - ich glaub, es täte dem Text gut. Vieles schreibt man ja mehr für sich, um sich als Autor die Situation vor Augen zu führen, aber die Hilfskrücken müssen bei der Überarbeitung dann auch wieder raus. Der ganze Anfang schon, was brauchen wir denn, einen abgeschuffteten Typen, der sich nach dem Sofa und Ruhe sehnt (was ihm im weiteren Verlauf ja nicht erfüllt wird) und Anabelle. Allein bis die endlich beim Bahnhof ankommen, was da alles weg könnte ... Der Leser hat's kapiert, er braucht das nicht x-mal erzählt bekommen. Und komme mir jetzt nicht mit Stimmung. Das ist die Standartausrede Nr. 1. Stimmung wird nicht durch Schörkel rechts und links aufgebaut, auch nicht durch Masse an Details, sondern mit den richtigen Details ;).

Einkaufzentren sind ihm schon an normalen Tagen zu viel, aber jetzt, eine knappe Woche vor Weihnachten, hält Andreas es kaum aus. Er tritt aus dem überteuerten Kramladen – skandinavische Sitzmöbel, Kerzenständer, Tee – heraus und setzt für einen Moment beide Plastiktüten ab, öffnet seinen Mantel und wischt sich die Stirn. Für wen benötigt er jetzt noch ein Geschenk? Wen kann er von der Liste streichen? Und hat er wirklich alles, was Lara ihm aufgeschrieben hat? Wein! Er hat den Rotwein vergessen!

Nur mal so, was Du im ersten Absatz alles nicht brauchst, und der Leser trotzdem mit den nötigen Infos versorgt wird. Alles andere ist echt Schickschnack und fördert nur die Ungeduld. Fehlt ja jetzt nichts, was man nicht selbst kennt, was spannend oder besonders schön wäre. Klar gibt es Text, die episch breiter angelegt sind, wo es vom Geschehen weg geht, wo Beschreibungen ihren Raum einnehmen und man sich als Leser vom Text einlullen lässt. Ich habe die sogar sehr gern, so als Gegenpunkt zu der alltäglichen Hektik, aber dazu gehört dann auch schon eine Portion Erfahrung, um den Leser bei der Stange zu halten. Und es ist nicht beliebig. Die Details, an denen Autoren sich dann abarbeiten, sind alles andere als beliebig. Wenn Thomas Mann ein Kleid über drei Seiten beschreibt, beschreibt er nicht (nur) ein Kleid, sondern im besten Fall eine ganzes Familiendrama (oder so). Das mal so am Rande. Also, 7000 Zeichen sind im dem Text locker drin, die weg können ;). Vielleicht bringt es Dir ja Spaß, die Löschtaste zu betätigen und der Zeichenanzahl beim Sinken zuzusehen. Vielleicht auch nicht, dann lass es. Dein Text. Dein Empfinden. Du bist der Chef!

In diesem Sinne,
Beste Grüße,
Fliege

 

Hallo Maedy, hallo wegen und hallo Fliege,

Und entschuldigt die späte Antwort. Allerlei unwichtigere Dinge haben mich in den letzten Tagen von meinen Geschichten ferngehalten. ;) Ich habe mich aber sehr über eure Kritiken gefreut - und über eure Bereitschaft, euch durch die ca. 27k Zeichen durchzukämpfen, wo es nötig war.

Ihr macht es mir leicht, weil eure Kritiken in eine ähnliche Richtung gehen. Ich nehme mit: Den meisten Lesern gefällt der Text insgesamt ganz gut, es gibt ein paar gelungene Stellen und meine Idee kommt rüber. Aber da ist auch zu viel ödes Zeug, zu viel Füllmaterial und halbseitenweise ist es einfach langweilig. Ich denke, das kann ich unterschreiben und was diesen negativen Teil der Kritiken angeht, kann ich wohl sagen: Ich hab es befürchtet.

Ich scheine da eine "Phase" durchzumachen, weil ich Vergleichbares auch schon zu meiner Geschichte "Unerreicht" gelesen habe. Und auch da stimmte es. Ich bin in letzter Zeit beim Schreiben auch deutlich "breiter" geworden. Für mich dreht sich Schreiben zu 80% um das Wie und zu 20% um das Was. Ich lese auch gern Texte, die sehr handlungsgebtrieben sind, verknappt, schnell, roh. Aber in aller Regeln ist das nicht das, was ich selbst schreiben will.

Aber an der Stelle ruft mir Fliege zu:

Und komme mir jetzt nicht mit Stimmung. Das ist die Standartausrede Nr. 1. Stimmung wird nicht durch Schörkel rechts und links aufgebaut, auch nicht durch Masse an Details, sondern mit den richtigen Details .
Und das ist auch richtig. Ich will meine Stilblüten (solche sind es ja) auch gar nicht rechtfertigen sondern höchstens erklären. Ich habe wohl versucht, den Leser mit einer Flut an Details und kleinen Nebengedanken dazu zu zwingen, das Gleiche zu sehen, was ich vor Augen hatte, ihm die Bilder mit den kleinen Pinsel direkt ins Hirn zu malen. Keine Gute Idee.

Ich werde mich zwingen (auch mit euren Anmerkungen im Detail) noch mal mit der Machete durch die Geschichte zu gehen mit dem Ziel, hier etwa um die von Fliege angeregten 7000 Zeichen nach unten zu kommen. Mal sehen, ob die Geschichte dann noch funktioniert und ob es mir gelingt, das Schöne zu behalten und das Füllmaterial loszuwerden. Vielleicht ist der Text danach auch komplett schief und verhackstückt, aber eine gute Übung wäre es sicher für mich.

Es würde mich freuen, wenn der ein oder andere Leser, der die jetzige Fassung kennt, sich dann noch einmal durchkämpfen würde.

Schöne Grüße
Meridian

 

Hallo zusammen,

Ich weiß nicht, ob ich gerade gegen Forenregeln verstoße, in dem ich meine eigene Geschichte hiermit wieder nach oben pushe und die Regeln, falls es sie noch gibt, kann ich nicht finden. In dem Fall bitte ich um Verzeihung. Jedenfalls: Die Geschichte hat jetzt 15% ihres Umfangs verloren, was ich als ganz erfolgreiche Diät bezeichnen würde. Ich hoffe, sie hat an den richtigen Stellen abgenommen.

Im günstigsten Fall liest sich das Ganze jetzt etwas flüssiger und weniger länglich.

Schöne Grüße
Meridian

 

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