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Gesiebtes Gehirn
„Du wirst bekannt durch eine Tat, lass es eine heldenhafte oder verwerfliche sein, und die Menschen erinnern sich an dich. So oder so. Du bist für viele Menschen eben nur diese Erinnerung, diese Essenz deines Wesens. Noch in vielen Jahren wirst du welche hören: >Ach der, der damals…< Finde dich mit der Einfachheit der menschlichen Erinnerung ab. Es ist allein schon ein Wunder, dass sie nicht alles vergessen, was sie nicht selber sind.“
Sommer und Wind in den Eichen. Hölzerne Bänke an hölzernen Tischen. Zwei Männer sitzen dort. Gläser mit Apfelschorle gefüllt.
„Einst glaubte ich, die Welt zu verstehen, indem ich sie erlebe, einfach hinein gehe und schaue, höre, fühle. Welch ein Traum! Die Zeit ist unerbittlich, musst du wissen. Sie fragt nicht nach dir, sie ist egoistisch, schreitet unbeirrt voran. Du oder sonst wer sind ihr nicht wichtig, geschweige denn bekannt. Doch jeder von uns kennt sie, meint sie zu kennen. Eines Tages erinnern wir uns dann bewusst an sie und sagen: >Damals…< Sie war immer da, aber wir sprechen über das, was früher war, vergangen ist, vergangen bleibt, nicht oft.“
Die Kellnerin wird gleich an den Tisch kommen.
„Manchmal fühlen wir so klar wie selten zuvor. Doch sprechen wir es aus? Selten, seltene Menschen, die das tun. Meistens regen sie sich auf, meinen, sich zu kennen, und mit sich die Welt. >Gut…schlecht…wunderbar!< Welch eine Illusion. Und wenn sie klar sehen, hören sie dann klar? Und wenn alles verständlich ist, sind sie dann nicht geblendet? Wie kann man sich seiner Empfindungen zur gleichen Zeit denn sicher sein, derer fünf wir mindestens haben?
Erinnerung. Ja, da scheinen wir auf der sicheren Seite. Sehen ihn als Helden oder Trunkenbold, als Verfechter seines Rechts und als Stimme des Volkes! Als Kerkermeister! Als Folterknecht! Sadist! Sind das die wahren Weltgeschichten? Soll einer je verstehen, wie der Mensch auf das kommt, was er meint, zu wissen, zu fühlen, sagen zu müssen?“
Sie wird eine weitere Apfelschorle bringen.
„Wo ist er hin?“
„Nicht mehr da!“
„Entwischt.“
„Geflohen?“
„Ausgebüchst.“
"Oh nein!"
Er bedankt sich für das Getränk.
„Ich glaube zu wissen, dass man sich gerade an mich erinnert. Selten, dass man dies mit Sicherheit sagen kann. Allein mit den Sinnen ist dies nicht möglich einzufädeln. Dazu gehört Verstand. Ja, ohne ihn würden wir vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So unrecht hat der alte Weimarer gar nicht. Doch heutzutage will man vergessen, ihn immerzu vergessen. Welcher Schüler noch freiwillig ihm gedenkt? Ha, Frevelfrage! Ich aber konnte nie vergessen, auch als du nicht mehr bei mir warst. Immer warst du da. Immer!“
Die Nachricht spricht sich rum.
„Man muss das Schicksal lenken, nicht sich vom Schicksal lenken lassen. Das machen doch die meisten Menschen: glauben an eine höhere Macht, an eine Energie, die alles umfasst. Gott nennen sie es nicht mehr, nein: Energie. Wie auch immer, der Glauben ist schwer abzubringen vom Pfad der Unwissenheit. Die Jünger treu wie ehemals. Frag die Zeit, sie wird es bestätigen. Von allen hier wird sie es, die sich nicht für den Einzelnen interessiert, gerade dir bestätigen. Du bist immer noch der gleiche Jünger, Judas, der mich verriet!“
Der Funkspruch erreicht die Zentrale.
„Mir hört sie oft zu, denn ich habe mich in ihr verewigt. Habe sie mir zum Sprachrohr gemacht, durch dass alle anderen von ihr erfahren. Es war eine Symbiose – wir beide zogen unseren Vorteil heraus. Sie wird nicht vergessen, ich auch nicht. Glücklich sind wir!“
Martinshorn.
„Hat er?“
„Ich weiß nicht.“
„Aber wenn?“
„Dann wird’s Zeit.“
„Hoffentlich ist es nicht zu spät.“
Autos fahren an den Straßenrand.
„Du scheinst mir nicht mehr zu folgen, Vater. Wer außer Mutter kennt dich noch in jedem Augenblick seines Lebens? Ich versuche zu vergessen...
Doch die Nacht – weißt du um ihre Macht? Sie ist erbahmungslos. Träume sind zeitlos, Vater! Sie kennen keine Schranken, keinen Halt, kein Mitleid! Kriechen in deine Welt und quälen dich mit der Erinnerung. Damals, weißt du jetzt, warum ich DAMALS so betone? Die Zeit, nein, sie kennt mich nicht. Deshalb ist s ihr auch scheißegal, was sie mir antut! Ich erinnere mich noch sehr genau an dich, an den Keller, an den Gürtel, an die Zigaretten, an Mutter, die schweigend zusah, an den modrigen Geruch, an die kalten Nächte, an die Ratten, die an meinen Zehen nagten, an die Angst, die Furcht, den Schmerz, die Einsamkeit – an den Hass, ja, an ihn, den Hass, erinnere ich mich sehr genau! Jeden Tag, jede Sekunde, bis jetzt! Bis zu diesem Zeitpunkt, Vater, trieb er mich voran, ließ er mich am Leben, nährte mich, gab mir Wärme, gab mir Kraft, Mut und mir mich zurück. Ich fühle mich lebendig, seitdem ich hasse, heiß und sprühend vor Energie, die ich für dich angereichert habe!“
Sie hat die Polizei gerufen.
„Schau sie dir an, die Menschen um uns, denke an die Zeit, die sie nur dann nicht vergessen, wenn eine heldenhafte oder verwerfliche Tat geschehen ist.
An diese Zeit werden sie sich erinnern, Vater, so wie ich mich mein Leben lang an deine Taten erinnert habe!“
Das Glas fiel vom Tisch und zerbrach. Die Schorle floss durch die Ritzen der Steine wie kleine Rinnsaale und vermischte sich zu rötlichen Strömen.
„Jetzt schweigst du. Lässt mich wieder allein. Aber diesmal für immer.“
Statt Martinshörner fuhren jetzt zwei schwarze, große Wagen zum Cafe.
Er hatte Recht. Die Gäste vergaßen nie wieder.