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Gesiebtes Gehirn

jbk

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17.06.2003
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Gesiebtes Gehirn

„Du wirst bekannt durch eine Tat, lass es eine heldenhafte oder verwerfliche sein, und die Menschen erinnern sich an dich. So oder so. Du bist für viele Menschen eben nur diese Erinnerung, diese Essenz deines Wesens. Noch in vielen Jahren wirst du welche hören: >Ach der, der damals…< Finde dich mit der Einfachheit der menschlichen Erinnerung ab. Es ist allein schon ein Wunder, dass sie nicht alles vergessen, was sie nicht selber sind.“

Sommer und Wind in den Eichen. Hölzerne Bänke an hölzernen Tischen. Zwei Männer sitzen dort. Gläser mit Apfelschorle gefüllt.

„Einst glaubte ich, die Welt zu verstehen, indem ich sie erlebe, einfach hinein gehe und schaue, höre, fühle. Welch ein Traum! Die Zeit ist unerbittlich, musst du wissen. Sie fragt nicht nach dir, sie ist egoistisch, schreitet unbeirrt voran. Du oder sonst wer sind ihr nicht wichtig, geschweige denn bekannt. Doch jeder von uns kennt sie, meint sie zu kennen. Eines Tages erinnern wir uns dann bewusst an sie und sagen: >Damals…< Sie war immer da, aber wir sprechen über das, was früher war, vergangen ist, vergangen bleibt, nicht oft.“

Die Kellnerin wird gleich an den Tisch kommen.

„Manchmal fühlen wir so klar wie selten zuvor. Doch sprechen wir es aus? Selten, seltene Menschen, die das tun. Meistens regen sie sich auf, meinen, sich zu kennen, und mit sich die Welt. >Gut…schlecht…wunderbar!< Welch eine Illusion. Und wenn sie klar sehen, hören sie dann klar? Und wenn alles verständlich ist, sind sie dann nicht geblendet? Wie kann man sich seiner Empfindungen zur gleichen Zeit denn sicher sein, derer fünf wir mindestens haben?
Erinnerung. Ja, da scheinen wir auf der sicheren Seite. Sehen ihn als Helden oder Trunkenbold, als Verfechter seines Rechts und als Stimme des Volkes! Als Kerkermeister! Als Folterknecht! Sadist! Sind das die wahren Weltgeschichten? Soll einer je verstehen, wie der Mensch auf das kommt, was er meint, zu wissen, zu fühlen, sagen zu müssen?“

Sie wird eine weitere Apfelschorle bringen.

„Wo ist er hin?“
„Nicht mehr da!“
„Entwischt.“
„Geflohen?“
„Ausgebüchst.“
"Oh nein!"

Er bedankt sich für das Getränk.

„Ich glaube zu wissen, dass man sich gerade an mich erinnert. Selten, dass man dies mit Sicherheit sagen kann. Allein mit den Sinnen ist dies nicht möglich einzufädeln. Dazu gehört Verstand. Ja, ohne ihn würden wir vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So unrecht hat der alte Weimarer gar nicht. Doch heutzutage will man vergessen, ihn immerzu vergessen. Welcher Schüler noch freiwillig ihm gedenkt? Ha, Frevelfrage! Ich aber konnte nie vergessen, auch als du nicht mehr bei mir warst. Immer warst du da. Immer!“

Die Nachricht spricht sich rum.

„Man muss das Schicksal lenken, nicht sich vom Schicksal lenken lassen. Das machen doch die meisten Menschen: glauben an eine höhere Macht, an eine Energie, die alles umfasst. Gott nennen sie es nicht mehr, nein: Energie. Wie auch immer, der Glauben ist schwer abzubringen vom Pfad der Unwissenheit. Die Jünger treu wie ehemals. Frag die Zeit, sie wird es bestätigen. Von allen hier wird sie es, die sich nicht für den Einzelnen interessiert, gerade dir bestätigen. Du bist immer noch der gleiche Jünger, Judas, der mich verriet!“

Der Funkspruch erreicht die Zentrale.

„Mir hört sie oft zu, denn ich habe mich in ihr verewigt. Habe sie mir zum Sprachrohr gemacht, durch dass alle anderen von ihr erfahren. Es war eine Symbiose – wir beide zogen unseren Vorteil heraus. Sie wird nicht vergessen, ich auch nicht. Glücklich sind wir!“

Martinshorn.

„Hat er?“
„Ich weiß nicht.“
„Aber wenn?“
„Dann wird’s Zeit.“
„Hoffentlich ist es nicht zu spät.“

Autos fahren an den Straßenrand.

„Du scheinst mir nicht mehr zu folgen, Vater. Wer außer Mutter kennt dich noch in jedem Augenblick seines Lebens? Ich versuche zu vergessen...
Doch die Nacht – weißt du um ihre Macht? Sie ist erbahmungslos. Träume sind zeitlos, Vater! Sie kennen keine Schranken, keinen Halt, kein Mitleid! Kriechen in deine Welt und quälen dich mit der Erinnerung. Damals, weißt du jetzt, warum ich DAMALS so betone? Die Zeit, nein, sie kennt mich nicht. Deshalb ist s ihr auch scheißegal, was sie mir antut! Ich erinnere mich noch sehr genau an dich, an den Keller, an den Gürtel, an die Zigaretten, an Mutter, die schweigend zusah, an den modrigen Geruch, an die kalten Nächte, an die Ratten, die an meinen Zehen nagten, an die Angst, die Furcht, den Schmerz, die Einsamkeit – an den Hass, ja, an ihn, den Hass, erinnere ich mich sehr genau! Jeden Tag, jede Sekunde, bis jetzt! Bis zu diesem Zeitpunkt, Vater, trieb er mich voran, ließ er mich am Leben, nährte mich, gab mir Wärme, gab mir Kraft, Mut und mir mich zurück. Ich fühle mich lebendig, seitdem ich hasse, heiß und sprühend vor Energie, die ich für dich angereichert habe!“

Sie hat die Polizei gerufen.

„Schau sie dir an, die Menschen um uns, denke an die Zeit, die sie nur dann nicht vergessen, wenn eine heldenhafte oder verwerfliche Tat geschehen ist.
An diese Zeit werden sie sich erinnern, Vater, so wie ich mich mein Leben lang an deine Taten erinnert habe!“

Das Glas fiel vom Tisch und zerbrach. Die Schorle floss durch die Ritzen der Steine wie kleine Rinnsaale und vermischte sich zu rötlichen Strömen.

„Jetzt schweigst du. Lässt mich wieder allein. Aber diesmal für immer.“

Statt Martinshörner fuhren jetzt zwei schwarze, große Wagen zum Cafe.
Er hatte Recht. Die Gäste vergaßen nie wieder.

 

Hallo,
sehr komplex, und auch sehr gut. Obwohl ich mir nicht sicher bin, worum es genau geht, hat es mir sehr gut gefallen(vor allem, nachdem du die Fehler beseitig haben wirst;)). Du beschreibst auf zwei Ebenen, einerseits sind da die Reden des Protagonisten, die teils sehr philosophisch sind und die Welt analysieren, zum anderen ist da das einfache Geschehen im Café, das am Ende mit dem Tod endet. Es hat den Anschein, als würde der Prot zu jemandem reden, seinem Vater? Am Ende sind ja anscheinend auch beide tot, sonst kämen ja nicht zwei Leichenwagen. Doch wer ist der Prot? Ein Wahnsinniger, der seinen Begleiter und anschließen sich selbst aus dem Leben scheiden lässt? Oder ist er eine Art höherer Geist, jetzt im Sinne von erleuchtet, der genug weiß, um vom Leben Abschied zu nehmen? Ich bin da wirklich ein bisschen ratlos, aber du wirst mir sicher weiterhelfen können.
Hier noch die obligatorische Fehlerliste:

Die Zeit ist unerbittlich musst du wissen
Komma vor "musst"
Eines Tages dann erinnern wir uns dann bewusst an sie und sagen
zweimal "dann", das solltest du ändern
nicht wirklich oft
wie denn oft? unwirklich? - "nicht wirklich" solltest du nicht verwenden, es sei denn, du meinst wirklich eine irreale Ebene, ansonsten ist diesr ugs. Begriff sehr unsinnig, vor allem in der Schriftsprache, also entweder "wirklich nicht" oder das "wirklich" streichen
Manchmal dann fühlen wir so klar wie selten zuvor
"Manchmal dann" klingt nicht gut, "Manchmal fühlen wir uns dann..." ist viel besser, oder umgekehrt
dass mir in diesen Momenten erinnert wird
das klingt seltsam, aber ich weiß so spontan auch nicht, wie man es besser formulieren könnte
Ja, ohne ihn werden wir vergessen
würden
Doch heutzutage will man vergessen, ihn immerzu
ihn immerzu vergessen
die sich nicht interessiert für den einzelnen
die sich nicht für den Einzelnen interessiert
ist es

Gruß
Arthuriel

 

Hallo Rubinstein,

jaja, die obligatorische Liste...;)
Ausführlich und nützlich wie immer.

Schön, dass du trotz der Komplexität weiter gelesen hast. Hatte schon die Befürchtung, dass eine etwas schwerere Kost eine nicht zu knackende Nuss für einen Teil der Leser sein könnte.
Aber auf dich kann ich mich ja verlassen;)

Der Prot. ist, wie du vermutet hast, der Sohn eines Vaters, der wiederum in der Vergangenheit seinen Sohn misshandelt hat.
Ob der Sohn jetzt im Gefängnis oder einer Anstalt war, sei der Fantasie des Lesers überlassen. Wichtig ist vordergründig, dass er geflohen ist. Das Motiv dazu liefert ja der Text.
Mit den Leichenwagen triffst du ins Schwarze!

grüßt
Jan

 

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