Gesehen
Gesehen
1
Und wieder war es so ein Tag. Gabriele, noch erschöpft von der langen Nacht zuvor, in der sie etwas getan hatte, was sie nie jemandem anvertrauen könnte, stand auf und hatte eigentlich gar keine Lust, sich für den Tag fertig zu machen. Wie abenteuerlich war doch ihr Abend. Warum konnte nicht jeder Tag so aufregend sein? Natürlich hatte Gabriele ein schlechtes Gewissen, irgendwo, aber das Hochgefühl überwog.
Langsam schlenderte sie die Treppe hinunter in die Küche. Der Fernseher lief, wie jeden Morgen. Gabriele hasste das, war andererseits aber ganz froh darüber, so ließ ihre Mutter sie wenigstens am Morgen, vertieft in das Frühstücksfernsehen, in Ruhe.
"Guten Morgen." Das war alles, was ihre Mutter in aller Frühe hervorbrachte. Und "Guten Morgen" war auch das, was Gabriele ihr entgegnete. Dann hörte die morgendliche Konversation auf.
Gabriele griff sich die Cornflakes-Schachtel, die schon auf dem Tisch bereitstand, und schüttete ihre Müslischale bis an den Rand voll, um dann so viel Milch dazu zugeben, dass die Schüssel regelrecht über zulaufen drohte. Sie löffelte die Schale wortlos aus. Im Fernsehen sah sie wieder einmal diesen blond gefärbten Idioten, dessen einziger Job es zu sein schien, die Leute zu Hause über den Klatsch und Tratsch aus der Prominenz zu unterrichten. Heute stand wiedereinmal die gewagte Frisur einer Pop-Sängerin im Vordergrund. Lächerlich. Wen interessierte so etwas? Genug, dachte sich Gabriele. Sonst würde es sich wohl kaum lohnen, sieben Tage die Woche von morgens bis abends immer wieder den selben Mist zu bringen.
Gabriele stand auf, von der unerwünschten Informationsflut nur noch schlechter gelaunt, und ging ins Bad. Geistesabwesend stieg sie unter die Dusche. Sie konnte immer nur an die vergangene Nacht denken. Was für ein Gefühl, so unvergleichlich. Niemals würde sie auch nur einem Menschen davon erzählen. Das blieb ihr Geheimnis. Ihres, und das des unbekannten Jungen, mit diesem geheimnisvollen Lächeln, dessen Namen sie nicht kannte.
Hastig putzte sich Gabriele die Zähne, sie war schon wieder spät dran, dann zog sie sich an, packte ihre Sachen und machte sich auf den Weg zum Bus.
Und wieder erlebte sie eine Situation wie jeden Morgen. Gabriele war nicht sonderlich beliebt, so stand sie etwas abseits von den anderen Leuten, die sich angeregt unterhielten. Aber, wie jeden Morgen, senkten sie ihre Stimmen, als sie kam. Vermutlich lästerten sie wieder über sie, aber das war ihr egal. Sie hatte ja Thomas und Birgit. Solange sie zu ihr hielten, störten sie die Kommentare der anderen nicht. Oder wollte sie sich nur nicht eingestehen, dass sie es hasste, wenn andere schlecht über sie redeten?
Gabriele schüttelte den Gedanken aus ihrem Kopf, sie war viel zu nachdenklich. Nun hatte sie wieder das Bild von diesem Jungen im Kopf. Er sagte sie würden sich heute wieder am selben Ort treffen. Wie wunderbar, wenigstens etwas, auf das man sich freuen konnte.
Plötzlich spürte Gabriele etwas eigenartiges. Kein schönes Gefühl, es jagte ihr Angst ein. Sie sah sich um. Links die Leere, hier auf dem Land nichts außergewöhnliches. Rechts die Wartenden und darunter auch dieser Junge. Sie kannte ihn nicht, aber sein Blick machte ihr Angst. Er sah ihr tief in die Augen, starrte sie regelrecht an und grinste. Erschrocken sah Gabriele wieder weg. Sie mied Augenkontakt, sie hatte Angst, jemand könnte ihre Blicke fehldeuten. Es war albern, das wusste sie, aber sobald ihr Blick einen anderen traf, wendete sie sich ab und fühlte sich mies.
Normalerweise legte sich das Gefühl schnell wieder, aber heute war das anders, und Gabriele wusste auch warum. Der Junge starrte sie immer noch an, sie konnte es nicht sehen, aber sie spürte es, wagte aber nicht, sich noch einmal um zudrehen.
Ein Quietschen. Der Bus hielt an. Gabriele wartete bis alle eingestiegen waren und betrat als letzte den Bus. Sie kaufte ihr Ticket und hielt Ausschau nach einem freien Platz. Sie hatte Glück. Gleich drei Plätze waren im hinteren Teil des Busses noch frei. Gabriele ging zu dem letzten durch und setzte sich. Der Bus fuhr an und eigentlich hätte Gabriele nun wieder Gelegenheit ihren Gedanken nachzugehen. Aber der Junge an der Bushaltestelle beschäftigte sie, mehr noch als der Junge vor der Villa, am Abend zuvor. Sie sah sich um. Der Junge saß ganz vorne, direkt hinter dem Fahrer, daher konnte sie ihn beim betreten des Busses nicht sehen. Er sah aus dem Fenster, sprach mit niemandem und ging wohl seinen eigenen Gedanken nach. In dieser Hinsicht war er ihr nicht unähnlich. Er blickte auf jeden Fall nicht zurück, starrte sie nicht mehr an.
Die restliche Fahrt verlief ereignislos. Der Junge drehte sich nicht einmal zu ihr um, sie hatte ihn die ganze Zeit über im Auge behalten. Vielleicht bildete sie sich alles nur ein. Der Bus kam vor der Schule zum Stehen.
Gabriele streckte sich ein letztes Mal, dann schwang sie sich ihren Rucksack auf den Rücken. Ein vorsintflutliches Modell. Alle anderen trugen diese modernen Markenrucksäcke, sie musste sich mit diesem alten Ding herumschlagen, der schon mehr als einmal geflickt wurde. Langsam folgte sie den Schülern. So wie sie als letzte eingestiegen war, war sie auch die letzte, die den Bus verließ.
Draußen blieb sie eine Weile stehen, atmete noch einmal tief die frische kühle Morgenluft ein. Sie wollte sich gerade auf dem Weg zum Haupttor machen, da sah sie wieder diesen Jungen. Und er starrte sie wieder an und grinste. Noch bevor sie seinem Blick wieder ausweichen konnte, rief er ihr zu: "Hallo Gabriele!"
Gabriele erschrak. Wer war er, und warum kannte er sie? Und vor allen Dingen, warum zum Teufel sprach er sie an? Sie antwortete ihm nicht, sondern sah nur beschämt zum Boden. Als sie wieder aufblickte, war er schon in der Masse untergegangen.
Gabriele machte sich nun wirklich auf den Weg zum Haupttor, der Unterricht begann. Es standen Mathematik und Chemie an, ihre beiden Hassfächer. Das würde sicherlich kein schöner Tag mehr werden.
2
Endlich hatte sie es hinter sich. Acht Stunden Unterricht hatte sie heute gehabt und fühlte sich nun total geschlaucht. Angeregt unterhielt sie sich mit Thomas und Birgit. Sie beratschlagten, ob sie am Wochenende schwimmen gehen sollten. Birgit wollte lieber mit ein paar Freundinnen shoppen gehen, aber Gabriele ließ nicht locker und konnte sie letztendlich doch überzeugen mit schwimmen zu gehen. Zwar hatte Birgit ihr vorgeschlagen zum shoppen mitzukommen, aber es behagte Gabriele nicht mit Birgits Freundinnen, die sie kaum kannte, die aber eindeutig auch zu den Leuten gehörten, die gern über sie herzogen, unterwegs zu sein.
So verabschiedete sich Gabriele voller Vorfreude von den beiden, die beide in die andere Richtung fuhren, und begab sich zum Bus. Das waren die schlimmsten Minuten des Tages, das Warten auf den Bus. Man ist hungrig, sehnt sich nach ein wenig Spaß, der beim Lernen in der Schule nun einmal gänzlich auf der Strecke blieb, kann aber nichts tun als da stehen und warten. Aus Langeweile starrte Gabriele ihre Schuhe an, nagelneue Chucks, die sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die inspizierte jeden Millimeter und versuchte wiederkehrende Muster zu entdecken. Das war so ein Tick von ihr. Sie erwischte sich immer wieder dabei, solche Muster zu suchen. Auf den Badezimmerkacheln, an der Rauhfaser-Tapete oder auch auf den Sitzen des Busses. Ein langweiliger Zeitvertreib, aber ein Zeitvertreib.
Der Bus ließ noch lange auf sich warten, aber jemand anders nicht. "Gabriele!", hörte sie. Eine unbekannte Stimme. Nein, sie hatte sie schon einmal gehört, aber sie konnte sie nicht zuordnen. Sie drehte sich um. Der Junge. Er grinste wieder, starrte sie an. Und er hielt etwas in der Hand. Ein Foto.
"Was ist?"
"Ich wollte nur 'mal hallo sagen, heute morgen hast du nicht reagiert."
"Heute morgen?" Gabriele stellte sich unwissend. "Wer bist du überhaupt?"
"Es wundert mich nicht, dass du mich nicht kennst. Ich bin erst vor einer Woche hierher gezogen. Meinen Eltern gehört die Villa in der Schloss-Straße, ziemlich protzig, was?"
Gabriele erschrak, wie schon so oft an diesem Tag. Die Villa in der Schloss-Straße?
"Du kennst das Haus, nicht wahr?"
Gabriele schwieg, brachte dann aber stotternd ein "Ja" hervor.
"Ziemlich gut sogar, würde ich behaupten."
Er grinste sie wieder an, das war kein freundliches Grinsen, es war höhnisch, und Gabriele wusste auch wieso. Also hatte sie sich doch nicht getäuscht, als sie gestern dieses Knacken gehört hatte.
"Was sagst du zu unserem neuen Parkett-Boden? Gefällt er dir? Ich hoffe, du konntest ihn im Licht der Taschenlampe gut sehen."
Er reichte ihr das Foto, dass er in der Hand hielt. Es zeigte Gabriele mit dem geheimnisvollen Jungen, in eben jener Villa. Ein Schweißausbruch überkam Gabriele. Sie war eindeutig zu erkennen, wie sie gerade die goldene Uhr einsteckte, die dort auf dem Nachtschränkchen gelegen hatte. Jetzt überwog das schlechte Gewissen. Sie war entdeckt worden. Man hatte sie erwischt!
Gabriele brachte keinen Ton hervor. Das war aber auch gar nicht nötig, der Junge war schon wieder weg. Doch die Angst ließ sie nicht los. Würde er Anzeige erstatten? Ihr fiel kein Grund ein, warum er es nicht tun sollte, und doch hoffte sie, dass er es nicht tat.
Die Vorfreude auf das schöne Wochenende versiegte sofort. Sie würde wohl doch nicht schwimmen gehen, es würde erneut ein nachdenkliches Wochenende werden. Sie machte sich ständig Gedanken über Dinge, auf die sie keinerlei Einfluss nehmen konnte.