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Geschichtenlose Gesichter
Sein Klopfen weckte mich und bevor ich reagieren konnte, riss er die Tür mit einem lauten Krachen auf. “Willst du nicht mal aufstehen? Wir könnten Fahrrad fahren.” Es wurde gerade hell draußen.
Ich seufzte leise und nickte meinem Vater mit einem halb erzwungenen, halb ehrlichen Lächeln zu. “Ich zieh mich erstmal an, dann können wir los fahren,” sagte ich und wollte noch fragen wo er denn hinfahren wolle, aber ich wusste die Antwort schon. Das Ziel war, wie immer, die Stadt. Er lächelte mich an und verließ den Raum ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Ich richtete mich langsam auf und suchte verschlafen nach dem Koffer in dem ich meine Zahnbürste vermutete. Es war der Rote, hinten in der Ecke. Es klebte noch immer der Zettel von der Bostoner Airport Security am Henkel. Routinemäßig hatten sie den sorgfältig geordneten Inhalt des Koffers nach Sprengstoffsätzen untersucht, “a totally random selection" erklärten sie mir ohne das ich gefragt hatte. Ergebnislos hatten sie mir, fast mit enttäuschten Gesichtern, den nun vollkommen durchwühlten Koffer zurück gegeben.
Mich über diesen Koffer beugend begann ich mit der Suche nach meiner Zahnbürste, indem ich die Unordnung langsam vom Koffer auf den Boden meines alten Kinderzimmers übertrug. Während das letzte Kleidungsstück über meine Schulter flog, erinnerte ich mich daran, dass ich mir bereits gestern die Zähne geputzt hatte, und das die Zahnbürste sich im Becher neben dem Waschbecken befinden musste. Ich putze mir also halbwegs sorgfältig die Zähne, nahm eine lange heiße Dusche, und zog eine zufällige Auswahl an vollständig zerknitterten, umabgestimmten Klamotten an.
Die Stimme meiner Mutter klang hoch: “Nein Ralph, die hat Tom gestern nach Hause gefahren, darüber haben wir doch gesprochen. Und du hast schon wieder vergessen den Wasserhahn im Gästebad auszustellen.” Schrill und langsam betonte sie jede einzelne Silbe des Satzes, der von einem didaktischen Rhythmus begleitet wurde.
“Entschuldigung,” antwortete mein Vater merklich genervt. Er stapfte aus der Küche in den Flur, legte anscheinend eine Pause ein, schaute sich wahrscheinlich um, und fand letztendlich das Gästebad. Das Zischen des Hahnes fiel mir erst auf, als es verstummte.
Als ich die Treppe herunterging, fielen mir die Überreste vom Geburtstag meiner Mutter auf: Über der Tür zum Esszimmer hing ein Banner, das meine Schwester am Vortag angebracht hatte: “Alles Gute zum 60. Leyla,” stand da geschrieben. Auf dem Boden waren Fussabdrücke und Geschenkpapier, die letzten Indizien der gestrigen Besucher. Ich wusste, dass diese Unordnung meine Mutter aufregen würde und war deswegen froh aus der Wohnung raus zu kommen, ohne sie vorher sehen zu müssen.
“Ah, da bist du ja, wollen wir?” fragte mein Vater mich freudig. Er hatte sich bereits seine dicke Jacke, Schal, Stiefel und Mütze angezogen. Es war Herbst, und er sah aus, als hätte er sich für eine Expedition in die Arktis vorbereitet. Ich schaute raus. Das Wetter entsprach vollkommen meinen Erinnerungen: Windig, regnerisch, grau. “Ich habe dir auch schon eine Mütze rausgesucht.” Er hielt eine graue Wollmütze hoch: “Es ist kalt.”
“Danke, aber es geht schon.”
“Sicher? Nicht das du dich nachher beschwerst, weil dir die Ohren frieren. Es ist kalt.”
Ich antwortete nicht.
Wir gingen heraus und stiegen auf unsere Fahrräder. Meine linke Pedale war kurz davor abzufallen, die Gangschaltung war kaputt, und die Kette war durch den ganzen Rost wie festgefroren, doch das Fahrrad war mir neu. Wie lange ist mein letzter Besuch her? Wir verließen die Auffahrt und fuhren an dem kleinen Wald unseres Nachbarn vorbei—Ich dachte kurz drüber nach, zu fragen, ob er noch lebte, doch ich blieb stumm. Langsam, und in leichten Schlangenlinien, fuhr mein Vater vor mir her. Er kannte den Weg gut, schon seit Jahren fuhr er fast täglich Richtung Stadt, zum Kaffee trinken, oder Eis essen, oder so.
Nach ein paar Minuten versuchte ich die Stille zu brechen,aber nicht weil sie mir unangenehm war, ganz im Gegenteil, ich genoss sie und den beißenden Wind, der mir Tränen in die Augen trieb. Es war ein Gefühl von Heimat, vom echten Norden. Hier war noch alles wie früher, nichts hatte sich geändert. “Die haben den Knick hier geschnitten, oder?”
Er hörte mich nicht.
“Die Bäume hier haben die gefällt, oder?” sagte ich etwas lauter.
“Jaha, das ist schon kalt!” schrie mein Vater seinen Kopf nach hinten drehend gegen den Wind zurück. Er hatte mich nicht verstanden. Sein Hörgerät lag, wie immer, auf dem Nachtisch neben seinem Bett. Er wusste nicht wie man es anschaltete, doch zugeben wollte er das natürlich nicht. Ich überlegte kurz, ob ich mich wiederholen wollte, aber bevor ich was sagen konnte sprach mein Vater wieder: “Schläft Hannah eigentlich noch?”
“Die habe ich doch gestern schon zurück nach Elmshorn gefahren, die hat Uni, das weißt du doch.”
“Ach ja, ja,” sagte er, als könne er sich erinnern.
Das “das weißt du doch” war unnötig gewesen, ich hatte mal wieder geredet ohne zu denken. Papa schaute nachdenklich. Ich hätte gerne gewusst was in seinem Kopf vorging.
Ich nutzte die erneute Stille, um das Gespräch mit Hannah, meiner Schwerster, von gestern Abend zu rekapitulieren. Wir saßen im Auto, sie drehte die Lautstärke des Radios herunter und fing an zu reden: “Letztens war ich beim Sport, und Papa sollte mich abholen, weil…”
Ich kann mich nicht mehr erinnern warum, unwichtig.
“…Also, er sollte mich abholen, und Mama hatte ihm auch extra das Navi eingestellt, und er musste eigentlich nur fahren. Ich stand da nun also im Dunkeln, in der Kälte und wartete. Um halb neun sollte er da sein. Es wurd’ halb neun, zwanzig vor, viertel vor, zehn vor, und ich wartete und wartete. Und er kam einfach nicht. Ich war natürlich voll genervt, weil es ja auch geregnet hat und war ja auch kalt. Und dann, dann sah ich irgendwann unser Auto in den Kreisel fahren, und er nahm die falsche Ausfahrt. Ich stellte mich dann also an den Kreisel und wartete. Er kam wieder, fuhr langsam in den Kreisel, an mir vorbei, wurde schneller, und weg war er. Erst beim dritten Mal blieb er stehen, und auch nur weil ich mich quasi direkt vors Auto geschmissen hab’!”
Ich murmelte ein “Mhm.”
“Du glaubst das nicht,” fing sie nach einer kurzen Pause wieder an, “die Frontscheibe war total beschlagen, kein Wunder dass er so langsam gefahren ist und nichts sehen konnte. Der muss den ganzen Weg so langsam gefahren sein, so lange wie der gebraucht hat!”
“Ihr könnt’ ihn ja aber auch nicht so alleine fahren lassen.” Ich versuchte so vorwurfslos wie möglich zu klingen, und trotzdem warf Hannah mir einen genervten Blick zu.
Sie redete weiter: “Jaa, also nachdem ich dann die Autotür aufgemacht hatte, hat er mich gefragt, ob ich nicht lieber zurück fahren möchte.”
“Er war bestimmt voll im Angstzustand,” warf ich ein. Ich schalte in den fünften Gang, das Auto krächzte laut. “Scheiß Gangschaltung!” Ich hatte mich zu sehr an das Fahren mit Automatik gewöhnt.
Hannah ignorierte meinen Kommentar und kam zur Botschaft ihrer kleine Geschichtsstunde: “Also, jemand sollte nochmal mit ihm zum Arzt fahren. Gucken was er hat. Die haben zwar gesagt das er kein Alzheimer hat, aber vielleicht lag das ja am Doktor. Vielleicht nochmal zu Doktor Bodenberg gehen, bei dem kriegt man ja immer schnell einen Termin. Du hast doch Zeit solange du hier bist. Da könntet ihr beide mal dahin gehen. Wenn Papa alleine geht, dann kann er ja auch immer einfach sagen, das da nichts war.” Sie sagte das mit einem freundlichen, aufgesetzten Lächeln. Es war typisch für Hannah alles Anderen in die Schuhe zu schieben. Das ganze Jahr lang lebte sie quasi einen Katzensprung von Papa entfernt, aber für sowas hatte sie angeblich trotzdem nie Zeit. Und meine Mutter, die glaubte immer noch das Papa seine Verwirrung nur vorspielte, damit sie ihn nicht verlassen würde. Schwachsinn. Für zwei Wochen bin ich da, nehme extra meinen Urlaub um vorbei zu kommen, nur damit die beiden mir alles in die Schuhe schieben können.
Papa und ich fuhren in die Fußgängerzone der Stadt ein. Meine Ohren brannten von der Kälte des Fahrtwindes.
“Wollen wir einen Kaffe beim Bäcker Kruse trinken gehen?” fragte er mich.
“Gerne”
“Okay, hier links—”
“Ich weiß Papa,” unterbrach ich ihn. “Ich hab’ hier auch zwanzig Jahre gelebt.”
Auf dem Weg zum Bäcker schaute ich mich um. Ich hatte die Stadt anders in Erinnerung, doch es hatte sich eigentlich nichts geändert. Hier und da hatte ein Geschäft zu gemacht, wohl zu wenig Kundschaft, oder niemand der hätte übernehmen können oder wollen. Auch die Gebäude schienen seit meinem letzten Besuch vor zwei Jahren grauer geworden zu sein, doch etwas Anderes viel mir zuerst auf: Nirgendwo waren Kinder, nur alte Menschen. Rollatoren, gekrümmte Rücken, gelangweilte, lange Gesichter. Ist das schon immer so gewesen? Ich beobachtete ihre leidvollen, langsamen, Gänge, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Da wird man ja depressiv.
Als wir uns hinsetzten versuchte Papa erneut ein Gespräch anzufangen: “Und habt ihr auch so viele Asylanten in Kiel?” Das war Papas Art mich zu fragen, wie es bei mir lief.
“Papa,” sagte ich mit ungewolltem, vorwurfsvollem Unterton, “zum unzähligsten Mal, ich wohne nicht in Kiel, das hab’ ich dir doch schon ganz oft gesagt. Wo wohne ich?”
“Ahh, jaa.” Er lachte traurig. Bei jedem unserer Telefonate der letzten Jahre hatte er mich gefragt, wie es denn so bei mir in Kiel laufen würde. “Du wohnst, na, wie heißt das nochmal.” Er lächelte mich unschuldig an und spielte hektisch mit dem Ring an seinem Finger.
“Ich wohne in Boston.”
“Ja, das weiß ich doch. Wer war das nochmal in Kiel?”
“Das ist Robin. Der wohnt da.” Robin war mein älterer Halbbruder. Keiner aus meiner Familie hatte ihn in den letzten Jahren gesprochen, geschweige denn gesehen.
“Ah, klar. Stimmt…”
Es wurde wieder ruhig zwischen uns beiden. Mittlerweile standen zwei Tassen Kaffee vor uns. Wir saßen draußen, eingehüllt in Decken, unter einem Sonnenschirm, und nur das Prasseln des Regens brach die Stille.
Früher, da konnten Papa und ich ununterbrochen reden, wir waren so unzertrennlich wie meine Mutter und Hannah. In unseren Urlauben, wenn sich die beiden an den Pool des Hotels legten, liehen wir uns Fahrräder aus und erkundeten die unberührten Dörfer der Einheimischen. Wenn die beiden shoppen gingen, besuchten wir Museen oder lernten Französisch zusammen. Wir hatten die gleichen Interessen—unsere Meinungen waren stets unterschiedlich genug, um lebhaft diskutieren zu können, doch nie so fundamental, dass die Diskussionen im Streit endeten. Wir hatten Spass zusammen.
Jetzt war das anders. Papa hatte schon lange aufgehört zu lesen. Seine Sprachen hatte er verlernt. Geschichte hatte er vergessen. Seine Gedankengänge waren zu verschachtelt, um noch ernsthafte Gespräche zu führen. Und er wusste das natürlich, dass sah ich ihm in all den Momenten des Vergessens an. Er versuchte es mit einem Lächeln zu überspielen, aber ich kannte ihn zu gut. Ich wusste, dass er wusste.
“Wie lange bleibst du denn?” Er lehnte sich nach vorne, wippte mit seinem Unterkiefer unruhig auf und ab und nuckelte an seiner Lippe.
Es war nicht das erste Mal seit meiner Ankunft, dass er mir diese Frage gestellt hatte, und das nervte mich. “In drei Tagen flieg ich zurück.”
“Schon?” fragte er mit einem enttäuschten, fast erschütterten Blick. Er versuchte nicht mir Schuldgefühle einzuflößen, doch er war erfolglos.
“Ich muss wieder arbeiten, aber ich komm’ diesmal schneller wieder,” sagte und meinte, und wollte ich wirklich.
“Das ist gut… Und wenn du wieder in Kiel bist dann, dann grüß,” er pausierte, “deine Frau und, und… Und Cara.” Das er sich an den Namen meiner Tochter erinnern konnte, zauberte ein Strahlen auf sein Gesicht. “Grüß Emily und Sara von mir,” sagte er, und betonte die Namen dabei triumphal.
“Mach ich,” erwiderte ich. Und wieder wurde es still.
Ich löste meinen Blick von Papa und beobachtete erneut die alten Gestalten die, wie auf einem tragisch-komischen Catwalk, schwermütig vor uns die Straße entlang krochen. Ihre Gesichter waren voller Falten, die von vielen Jahren erzählten, von Jahren voller Ereignislosigkeit. Sie hatten die kleine Stadt und deren Umfeld in diesen Jahren beobachtet, sie aktiv konserviert, gemerkt wie die Zeit voranschritt und trotzdem kein Veränderung gesehen. Ihre faltigen Gesichter erzählten keine Geschichten. Ich schaute zurück in Papas Gesicht. Da sah ich Geschichten. Geschichten, die ich oft gehört hatte und die dennoch nie mein Interesse verloren hatten. Geschichten von Nachkriegszeit und Abenteuer, Fussball und Frauen, Kuriositäten auf Reisen und Feiern und Menschen. Und ich sah, wie sich neue Falten gebildet hatten, und wie manche Geschichten dabei waren zu verschwinden. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffe, und Papa schaute mir ins Gesicht und lächelte mich an, und ich schaute in seins und lächelte zurück—und sagte nichts.