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Geschichten aus Dingeskirchen: Die Sache mit der Nase

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29.03.2013
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Geschichten aus Dingeskirchen: Die Sache mit der Nase

Im Jahr 1950 erfanden Mitarbeiter einer kleinen Chicagoer Firma, der Zenith Radio Corporation, ein Gerät, das es jedermann ermöglichte, den lästigen Werbeunterbrechungen zu entgehen, ohne daß man sich aus seinem bequemen Sessel quälen mußte, um am Fernseher einen anderen Sender einzustellen. Irgendein Schlaukopf (Hi, ich bin Bill, meine Freunde nennen mich Bob!) taufte es auf den Namen Lazy bones. Spätere, weiter entwickelte Geräte trugen so wohlklingende Namen wie Flash-Matic, Space Commander oder Vektor.
Meins heißt CT- 851. Ich richte es auf meinen LG 32-LK 450 und drücke auf den roten Knopf oben links.

Die grinsenden Pappnasen auf dem Bildschirm sagen mir nichts. Mein Interesse hält sich in Grenzen, aber ich höre eine Weile zu.
Lassen sie mich zunächst…
Im Übrigen...
Wir müssen jetzt nach vorne schauen…
Klare Kante zeigen…
Gleichwohl… -

und dann, endlich, das Schärfste: Die Menschen draußen im Lande
Ich frage mich, wann mal einer aus dem Publikum aufspringt und einem der Schwätzer vor laufender Kamera was aufs Maul haut.
Ich zappe eine Weile hin und her. Schließlich lande ich bei einer Quizshow. Ich kann kaum glauben, was ich sehe. Ein bayerisches Pärchen: Trachtenjanker, kurze Lederhosen, a lustiga Bua bin i. Wann i aufsteh, dann sing i.
Er ist Schornsteinfeger. Sie ist Schornsteinfegerin. Er ist lustig. Sie ist lustig. Der Moderator ist lustig. Das Publikum ist lustig. Ich bin fasziniert und lege die Fernbedienung weg. Die beiden geben mit kernigen Stimmen ein Schnadahüpferl zum Besten. Aufrechte, tüchtige, glückliche Menschen. Wann i mi niaderleang tu, gebi a no koa Ruh.
Mein Handy klingelt. Es ist Manni. Er flüstert.
„Die Bullen sind bei mir. Ich bin auf’m Scheißhaus. Sieh bloß zu, daß du das Zeug irgendwie los wirst! Ich wette, die kommen auch zu dir!“ Im Hintergrund rauscht die Klospülung.
„Was ist los? Wer ist bei dir? Die Bullen?“ Ich setze mich auf, bin hellwach.
„Frag nich so blöd. Die durchsuchen hier alles. Keine Ahnung, wie die auf mich kommen. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Verfluchte Kacke!“
Ich warte, ob noch was kommt.
„Manni? Bist du noch dran?“ Aber er hat schon aufgelegt. Unschön, sprach Quasimodo.
Ich gehe zur Spüle, öffne die Klapptür und ziehe den Mülleimer raus, um an die Pillen ranzukommen. Ein blödes Versteck, wie mir jetzt klar wird. …Der Beutel stinkt nach Essig. Dann riechen die Hunde nix, is doch genial Alter, oder? Außerdem: is doch nur für drei Tage, hatte Manni gesagt.
Außerdem.
Ich stecke den Kram in eine Alditüte und verlasse die Wohnung. Der Golf springt wieder nicht an, also mach ich mich zu Fuß auf den Weg. Natürlich spüle ich das Zeug nicht runter. George wird Manni die Seele aus dem Leib prügeln, wenn überhaupt nichts mehr da ist.
Als ich an der Kirche vorbeigehe, fangen die Glocken zu läuten an.
Gleich kommen sie alle aus ihren sauberen Löchern gekrochen, die Bibelschwinger, pflegte mein Opa immer zu sagen. Sind alle ganz scharf auf die Sprüche vom Pfaffen, der ihnen ewiges Leben und Vergebung für ihre mickrigen Sünden verspricht. Und merk dir, hatte er hinzugefügt, wer an Gott glaubt, glaubt auch an den Teufel. Und wer an den Teufel glaubt, ist nicht ganz dicht.
Der Spielplatz hinter den Containern am Stadtrand ist leer. Vorsichtshalber gehe ich noch ein paar hundert Meter weiter, man kann nie wissen…
Das Gras ist noch naß. Wenigstens ist es jetzt, nach dem kurzen Gewitter am Nachmittag, nicht mehr so schwül. An der Birke am Rastplatz wende ich mich nach links und gehe ein kurzes Stück auf dem Waldweg bis zu der Stelle, an der ich den alten Milcheimer vergraben habe. Blöderweise habe ich vergessen, mir die kleine Spielzeugschaufel einzustecken. Also wühle ich mit bloßen Händen die nasse Erde auf.
Als die Tüte verstaut ist, schütte ich das Loch zu, trete die Erde fest und streue loses Gras und Laub darüber. Ich wische mir die Hände im Moos sauber und mache mich auf den Rückweg. An der Frittenbude am Gröningplatz gönne ich mir eine Currywurst und sehe den Trittbrettfahrern eine Weile bei ihren Kunstsprüngen zu. Ich kann mich nicht dagegen wehren, aber jedesmal, wenn sich einer auf die Klappe legt, freue ich mich. Es ist mir selbst unangenehm, aber ich kann nichts dagegen machen.
Ich drehe mir eine und gehe.
Der Himmel hat sich zugezogen. Ein kalter Wind weht durch die engen Straßen. Hinter den Fenstern flackern die elektrischen Lagerfeuer. Im Nachbarhaus ein besonders großes. Durch das riesige Panoramafenster kann man den Bildschirm eines gigantischen Flachbildfernsehers sehen. Tagesschau.
Soviel ich weiß, ist der Herr des Hauses Vermögensberater. Er verdient gut an der Angst und der Gier der Leute. Nach Feierabend sieht man ihn häufig auf seinem lärmigen Rasenmäher sitzen. Eigentlich ist der Rasen vor dem Haus nicht groß genug dafür, aber er genießt es sichtlich, seine kleinen Runden zu drehen. Im Herbst läuft er täglich mit einem Laubbläser durch den Garten. Überhaupt scheint er eine Vorliebe für laute Geräte zu haben. Rasensprenger, Bohrmaschine, Kreissäge, Heckenschere, Kantenschneider – das ist seine Welt. Vorgestern hat er angefangen, sein Vogelhaus mit Winzigen Schieferplatten zu decken. Hämmern. Stundenlang.
Ich träume oft davon, ihn mit Opas alter Schrotflinte von seinem lustigen kleinen Trecker zu blasen.
Als ich meine Wohnungstür aufschließe, öffnet Frau Groß von Gegenüber ihre Tür.
„Herr Harryhausen, es ist Besuch für sie dagewesen. Gerade eben. Ein Mann. Er hat gesagt, ich soll ihnen das geben.“ Sie überreicht mir ein kleines braunes Paket. Ich bedanke mich und frage nach ihrem schlimmen linken Arm. Sie lächelt und hebt ihn an, zeigt zur Decke.
„Danke der Nachfrage, alles wieder gut. “ Bevor sie mich in ein Gespräch verwickeln kann, verabschiede ich mich und verschwinde in meiner Wohnung.
Das Päckchen wiegt fast nichts. Ich lege es auf den Tisch und starre es an. Barton Fink? Der kleine Mann in meinem Kopf sagt mir, daß ich es besser nicht öffnen soll. Laß das mal lieber sein. Du wirst das bereuen, hundertpro. Laß es sein. Laß es. Ich reiße das Papier auf und öffne den Deckel. Siehst du? Was hab ich dir gesagt?
Ich schließe schnell den Deckel und klingle bei Frau Groß, frage sie, wie der Mann ausgesehen hat. Ganz normal, sagt sie, ein Mann um die vierzig. Nicht dick, nicht dünn, eher klein, vollkommen normal eben. Ach ja, er habe diese komischen Cowboystiefel getragen, die mit den schrägen Absätzen, und eine rote Wollmütze. Außerdem habe er ‚streng‘ gerochen.
Ich kenne niemanden, der solche beknackten Stiefel trägt. Ob er mit dem Auto oder einem Motorrad weggefahren sei, frage ich. Sie überlegt kurz. Aber nein, sie habe nichts dergleichen gehört, allerdings sei der Fernseher gelaufen, ziemlich laut sogar. Ihre Lieblingssendung. Die Piepenhausener Musikantenscheune, mit den netten Sängern und dem fröhlichen Moderator. Bevor sie ausführlicher werden kann, danke ich ihr nochmal und verabschiede mich.
Bist du bescheuert? Sagt mein kleiner Mann. Das Paket bei den Bullen abliefern? Das bedeutet Streß ohne Ende. Blue Velvet hoch drei. Laß es.
Irgendwo habe ich noch eine Schachtel mit Klarsichtbeuteln. Ich wühle mich durch sämtliche Schubladen, bis ich sie endlich finde. Ich reiße einen Beutel von der Rolle, verstaue das Paket darin und lege es ins Gefrierfach meines alten Kühlschranks. Es paßt kaum rein, die Eiskruste ist mittlerweile so dick geworden, daß sie vorne raus quillt. Muß dringend abgetaut werden, erinnert mich mein kleiner Mann. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und betrachte die glitzernde körnige Eisschicht. MkM hat zweifellos recht, aber ich habe jetzt keine Lust, den Kühlschrank auszuräumen. Ich knalle die Tür zu und stelle den Wasserkocher an.
Es hat wieder angefangen zu regnen. Ich stehe mit der Kaffeetasse am Fenster und sehe auf die nasse Straße runter. Manni hat wieder angerufen. Er ist mächtig erleichtert, weil es ihm gelungen ist, seinen gesamten Pillenvorrat rechtzeitig runterzuspülen.
Ich erzähle ihm von dem Päckchen.
„Ach du Scheiße!“ ist sein erster Kommentar. „Ich komm gleich vorbei…, ach übrigens, hast du…? “
„Logo, was glaubst du denn. Bin sofort los nach deinem Anruf, alles in Ordnung.“ Ich bitte ihn noch, mir Tabak aus der Tankstelle mitzubringen.
Die Straßenlampen gehen an. Ich höre lautes Gelächter und erste Trompetenstöße aus der Wohnung unter mir. Herr Kemper hat wieder Besuch von seinen Freunden aus dem Schützenverein. Jeden Freitagabend wird geübt, bis die Märsche sitzen. Ich bereite mich innerlich auf den zackigen Sound vor und lege vorsichtshalber In the court of the crimson king auf.
Herr Kemper habe ein schlechtes Gewissen wegen der Laustärke seiner dicke-Backen Combo, hatte er mir, als ich die Wohnung bezog, anvertraut. Ich könne also, immer wenn mir danach sei, meine Anlage ruhig ordentlich aufdrehen. Er habe nichts dagegen. Mein Vormieter sei ein ‚ganz Empfindlicher‘ gewesen, der habe rein gar nichts für ‚ordentliche‘ Musik übrig gehabt, und sich ständig beschwert. Da jedoch der Hauseigentümer Mitglied des Schützenvereins sei, habe der Mann eben ‚ganz schlechte Karten gehabt‘ und sei schließlich nach wenigen Monaten wieder ausgezogen.

21st century schizoid man entfaltet seine ganze Wirkung erst bei voller Lautstärke, genau wie der König Ludwig Marsch. Ich versuche mir vorzustellen, was die paar Passanten, die noch unterwegs sind, von dem psychedelischen Knüppel-Mix halten, der durch die Mauern nach außen dringt. Dann sehe ich den grünen R4 in die Straße einbiegen. Manni sieht mich am Fenster stehen und winkt mir zu, bevor er durch den dichten Regen zum Eingang rennt. Wahrscheinlich bin ich paranoid, denke ich und halte Ausschau nach den Bullen. Sei kein Idiot, sagt MkM. Die Bullen haben besseres zu tun, als Manni zu beschatten.
„Mann, was fürn Tag“, sagt Manni grinsend und streicht sich über den nassen Kopf. „Interessanter Sound, nicht übel – Knüppelmusik und King Crimson… sehr dezent. Du hast es gut. Tolerante Nachbarn sind was wert. Hier ist dein Tabak. Ich brauch jetzt erst mal’n Kaffee, Scheißwetter, zum kotzen.“
Manni redet schnell. Seine Sätze sind kurz, er liebt es, zu fluchen. Sein richtiger Name ist Robert Manikowski, wir haben uns in der Berufsschule kennengelernt. Er war der erste, der Gras in den Unterricht mitbrachte. In den Pausen haben wir uns so zugekifft, daß mir diese drei Jahre heute noch in sehr angenehmer Erinnerung sind. Heute arbeitet er in der Waschstraße. Der Job macht ihm seltsamerweise Spaß. Was monotones, Alter – das ist nicht das schlechteste. Du kannst dabei nachdenken, Musik hören und so… alles läuft automatisch ab, wenn du’s einmal drauf hast.
Seit drei Jahren hat er eine eigene Wohnung, vorher hat er bei seinen Großeltern gewohnt. Er war fünf Jahre alt, als seine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben kamen. Manni ist der Prototyp eines durch nichts zu erschütternden Optimisten. Selbst die Trennung von lovely Rita, seiner langjährigen Freundin, hat ihn anscheinend nicht sonderlich beeindruckt. So what? verkündete er ein paar Tage lang bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Konnte ja auf Dauer nix werden, war eben ‘ne Nichtraucherin. Friseuse…Mußte irgendwann passieren. Scheißweiber.
Ich mach ihm einen Kaffee, während er einen Joint der Marke Manni Extended de Luxe 2.1 baut, mit sieben Blättchen, anstatt der üblichen drei. Dabei erzählt er mir haarklein und genußvoll, wie die Bullen seine Wohnung auf den Kopf gestellt haben, ohne was zu finden. Dann zündet er die Tüte an.
Der Joint ist mächtig. Wir rauchen und lauschen dem Musikalischen Overkill. Irgendwie ergänzen sich Ludwig der Zweite von unten und der scharlachrote König, da sind wir uns einig. Manni vermutet, daß Robert Fripp bayerische Vorfahren hatte. Ich melde Bedenken an, klappe den Laptop auf und sehe bei Wikipedia nach.
„Kein Bayer dabei“, stelle ich fest.
„Wobei?“ fragt Manni, der bereits mit seinen Gedanken woanders ist. „Bayer? Was für Bayern?“
„ Fripp ist tatsächlich Engländer. Ist in, äääh… Wimborn Minster geboren, Südengland, Nähe Kanalküste… hab gedacht, der wär Amerikaner.“
Manni sieht mich fragend an. Dann grinst er und hält mir den Joint hin.
„Gutes Dope, stimmts?“
„Da gibt’s noch was…“ Ich nehme einen tiefen Zug. Die CD ist zu Ende. Unten sind sie in einen wahren Rausch verfallen, sie spielen immer schneller. Posaunen und Trompeten sind irgendwie aus dem Takt geraten. Ich frage mich ernsthaft, ob der Joint daran schuld ist.
„Ja? Was denn?“
„Ääääh…“ Ich habe vergessen, was ich sagen will. Jetzt dominieren Querflöten das Geschehen. Hohe spitze Triller. Das Salz in der Suppe der Marschmusik.
„Hör mal“, fragt Manni, “ wieviel Leute sitzen da unten eigentlich? Hört sich nach ‘ner ganzen verdammten Kompanie an…“
Dann fällt es mir wieder ein.
„Wußtest du, wer da noch gewohnt hat?“
„Wer? Wo?“
„In Wimborn Minster – Jack the Ripper hat da gewohnt.“
„Du spinnst. Den haben sie doch nie gekriegt. Aber bei Wikipedia steht, wo er gewohnt hat? Guter Witz! Scheiße auch…“ lacht Manni. „Ich sag doch – gutes Dope.“
Ich sehe genauer hin.
„Montague John Druitt“, lese ich, „kommt in Frage, Jack the Ripper gewesen zu sein. Ach so…“ Ich stemme mich hoch und gehe zum CD Spieler. Ich sehe das Gerät eine Weile an. Die Schützen sind verstummt und es ist vollkommen still. Ich höre, wie Manni den Joint im Aschenbecher ausdrückt und frage mich, weshalb ich hier stehe. Also mache ich kehrt und setze mich wieder.
„Wie sind wir auf Jack the Ripper gekommen?“ will ich wissen. Manni sitzt mit dicken Backen da und imitiert Marschmusik. Dann fällt’s mir wieder ein. Ich stehe nochmal auf und nehme die CD raus.
„Was soll ich auflegen?“
„Was ruhiges. Irgendwas ruhiges…Übrigens, du wolltest mir doch so’n Paket zeigen.“ Ich entscheide mich für Bayreuth Return von Klaus Schulze und hole dann das Päckchen aus dem Kühlschrank.
„Oh, oh, Mann...“ sagt Manni, nachdem ich es geöffnet habe. „Scheiße auch.“
Er verzieht das Gesicht. Dann bilden sich tiefe Falten über seiner Nasenwurzel.
„Laß mich überlegen… Hast du vielleicht ne Pinzette oder so was?“ Ich gebe ihm eine und er holt die Haarsträhne mit dem blutigen Hautfetzen daran aus der Schachtel und legt sie vor sich auf den Tisch. Darunter liegt ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich falte es auseinander.
„Dathassegetzdavonduaasch??“ steht da in großen schiefen Blockbuchstaben. Vor Erleichterung bekommen wir einen Lachanfall.
„Flatrate. Kein Zweifel, “ sagt Manni. „Allmählich macht der Penner wirklich ernst, Scheiße verdammte…“
Flatrate heißt nicht etwa so, weil er viel telefonieren würde. Den Namen haben ihm die Typen mit denen er ständig am Bahnhof abhängt, verpaßt. Er hat eine seltene Krankheit: immer, wenn er seine Fritten mit Schnaps runterspült, plagen ihn anschließend für Stunden gewaltige Flatulenzen, was vielleicht, abgesehen von seiner Sauferei, der Grund dafür ist, daß ihn Frau und Kinder, vor Jahren, als er noch gearbeitet hat, verlassen haben. Seitdem arbeitet er dran, sich den Verstand wegzusaufen. Daß diese Bemühungen von Erfolg gekrönt sind, beweisen die unzähligen Zettel, die er überall in der Stadt an Mauern, Schaufensterscheiben und Autos pappt. Die kryptischen Mitteilungen lauten etwa Spiessakönnmichmaalle, oder Umdreiisalleszuspätihrwixer. Er benutzt Uhu, was das Entfernen seiner mysteriösen Botschaften erschwert.
In letzter Zeit ist er dazu übergegangen, sich selbst zu verletzen. Er schneidet sich mit einer Rasierklinge in die Finger, besprenkelt ahnungslose Leute in der Einkaufszone oder im Stadtpark mit seinem Blut. Manchmal klingelt er wahllos an Haustüren und läßt wahre Schimpftiraden los. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn aus dem Verkehr ziehen.
„Jetzt reißt er sich also Haare aus, das arme Schwein“, konstatiert Manni ernst. „Mit dem halben Kopf dran.“
„Und ich hab schon gedacht, das ist irgend’ne Drohbotschaft…“
„Wer soll dir denn Drohbotschaften schicken? Dein Chef vielleicht? Deine Ex?“
„Tja – stimmt wohl. Ist irgendwie unwahrscheinlich…“
„Mit seinen Fürzen könnte der glatt als Kammerjäger arbeiten. Da bleibt kein verdammtes Auge trocken, sag ich dir. Ich war mal dabei, wie er mitten im Aldi einen losgelassen hat. Scheiße, hat das gestunken! Der Laden war in Nullkommanix leer. Er drin, die Leute draußen. Die haben alle nur den Kopf geschüttelt. Er hat dann immer gerufen Haptagetzdavon! Haptagetzdavon! Immer wieder… Gab natürlich Hausverbot, war wohl nicht das erste Mal. Aber über eins hab ich mich immer gewundert. Der Kerl sieht überhaupt nicht danach aus, klamottentechnisch und so. Immer sauber, immer normal.“
„Tut mir leid, der Mann“, sagte ich. „Noch’n Kaffee?“
„Da kannst du einen drauf lassen“, erwidert Manni und lacht sich weg. Unvermittelt reißt er sein Maul weit auf und gähnt.
„Aber ganz stark, sonst kack ich hier gleich ab …“
Unten haben sie wieder angefangen zu spielen. Buffta buffta bufftataaa… sehr nachdrücklich und trotzdem irgendwie beschwingt… Schulze kann da nicht mithalten und ich stelle den CD Player ab.
„Ich wette, die sind alle besoffen. Ich würd die mal gerne hören, wenn sie was gekifft haben. Ob die dann auch noch diesen Schwung drauf haben?“
„Glaub ich nich…“ sage ich lahm und versuche, mich daran zu erinnern, warum ich den Wasserkessel in der Hand halte. Ich muß die ganze Zeit an Flatrate denken, der jetzt wer weiß wo durch die Gegend läuft, keinen hat, mit dem er gemütlich zusammensitzen kann, der vielleicht besoffen und naß bis auf die Knochen in irgendeinem Hauseingang liegt und alles verflucht.
Gegen zwei Uhr kehrt Ruhe ein. Unten fahren Taxis vor. Wir zählen mit. Fünfzehn Mann insgesamt – Kemper steht auf dem Bürgersteig und winkt seiner Combo hinterher. Es regnet nicht mehr.
Manni sitzt mit halb geschlossenen Jalousien da. Ich richte ihm das Sofa her und lege mich schlafen.

„Aufgewacht, du Penner. Sonne scheint. Ich hab uns was zu essen geholt.“ Manni wirkt frisch und unternehmungslustig.
„Wie spät?“ Ich muß mich anstrengen, um die Augen aufzukriegen. Nach und nach realisiere ich, daß Samstag ist und ich nicht arbeiten muß. Es duftet nach warmen Brötchen und Kaffee.
„Neun Uhr. Aufstehn, Herr Harryhausen, aber zackig - Tisch ist gedeckt.“
Draußen zwitschern die Vögel. Der Himmel ist blau. Nach dem Frühstück fühle ich mich uneingeschränkt wohl, was sich schlagartig ändert, als ich das Radio anmache.
„…in den frühen Morgenstunden. Wie die Polizei mitteilt, handelt es sich bei dem Toten um einen stadtbekannten Obdachlosen, der in letzter Zeit wiederholt durch Attacken auf Passanten in den Fokus der Öffentlichkeit…“ Ich sehe Manni an. Manni sieht mich an. Ich drehe die Lautstärke auf.
„… um den 42 jährigen Hanns Dieter Bäumer. Die Polizei geht vorerst von Selbstmord aus.“
Ich sehe mich um.
„Wo ist die Haarsträhne eigentlich?“
„Hab ich in den Mülleimer geworfen“, sagt Manni und deutet auf die Spüle. Aus dem Radio dringt wieder fröhliche Popmusik. Wir rauchen schweigend.
„Glaubst du, das ist Flatrate? Hans Dieter Bäumer?“ frage ich, obwohl ich mir im Inneren längst sicher bin.
„Tja, das isser wohl. Maaaann, Scheiße…“ Manni geht zum Radio und macht es aus.
„Scheißpop! Komm, wir fahren raus. Hat ja alles keinen Zweck. Was hältst du davon? Zum See oder so…“
Ich schüttle mich, um das komische Gefühl loszuwerden, das mich überkommen hat.
„Sehr gute Idee. Laß uns fahren.“

Zuerst holen wir die Pillen. Alles ist so, wie ich es verlassen habe, niemand war da, die Blätter und das Gras, alles unberührt.
„Na, Gottseidank“, sagt Manni, als ich ihm den Beutel gebe. „Das war das letzte Mal, mit dem Scheißzeug hab ich sowieso nix am Hut.“
„Wieso hast du’s überhaupt gemacht? Und dann auch noch mit George?“
„Ich war dem noch was schuldig. Am besten, wir fahren kurz bei ihm vorbei und ich reich’s
Ihm rein.“
„Wenn er überhaupt zu Hause ist.“
George ist nicht nur zu Hause, er ist auch stinkwütend. Ich bleibe im Wagen und sehe Manni hinterher, der mit der Alditüte in der Hand den Hof überquert. George fummelt gerade an seiner neuen Harley rum. Er ist sichtlich genervt, als er Manni sieht. Er wirft einen kurzen Blick in die Tüte und wirft sie in den Hausflur. Manni macht einen auf geknickt, deutet dann auf die Maschine und nickt ein paarmal anerkennend mit dem Kopf. George läßt sich nicht drauf ein. Er gestikuliert wild mit beiden von oben bis unten tätowierten Armen, wird laut. Manni breitet bedauernd die Arme aus und sagt etwas. Die Entfernung ist zu groß, ich kann nichts Genaues verstehen. Mir wird ein bißchen mulmig, als George auf den R4 zeigt. Schließlich kommt Manni zurück, setzt sich hinters Steuer und wendet den Wagen. Er sagt erst wieder was, als das heruntergekommene Bauernhaus, das George von seinen Eltern geerbt hat, nicht mehr zu sehen ist.
„Weißt du, was das Schlimmste ist bei den verdammten Bikern?“
„Was?“
„Das man sich ständig wie ein Schwächling vorkommt.“ Wütend schlägt er mit beiden Händen aufs Lenkrad.
„Stimmt, geht mir genauso. Mach dir nix draus, guck dir doch bloß mal die Oberarme von dem Typen an – wie Schinken… Glaubst du, ich hätte nicht auch mal gerne so einem was auf sein Maul gehaun?“
„Echt? Warum?“
„Schon allein wegen dem Krach, den die Maschinen machen. Ich glaub manchmal, das die ihre Dinger extra so einstellen – daß sie die Leute absichtlich nerven wollen mit dem hirnlosen Getöse. Überhaupt – das ganze Machogeschisse geht mir auf den Sack.“
„Natürlich wollen die einen nerven, ist doch klar. Na, auf jeden Fall ist die Sache jetzt erledigt. Hoff‘ ich wenigstens. Scheiße, Scheiße – hier darf ich mich aber erst mal nicht mehr sehn lassen. George wußte schon alles, mit den Bullen und so. Keine Ahnung, woher.“
Ich krame im Handschuhfach herum, finde eine CD von Miles Davis. Genau das richtige für eine gemütliche Tour ins Blaue. Eigentlich ist ein R4 nicht das geeignete Auto, um Jazz zu hören, aber Manni hat sich vor kurzem eine richtig gute Anlage einbauen lassen, glasklare Höhen, präzise Bässe, gute Kanaltrennung. Wir ziehn uns einen kleinen Joint rein und lassen die Stadt hinter uns. Am Grillplatz halten wir an. Türkische Großfamilien, wohin das Auge blickt. Manni steigt aus und hält Ausschau nach Hassan.
„Wär das erste Mal, daß der Samstags nicht hier ist. Mann, riecht das lecker…“
Wir legen zusammen.
„Fünfzig müßten reichen, aah, da ist er ja.“ Manni winkt Hassan zu, der gerade aufsteht und zu seinem Auto gehen will. Zuerst guckt er mißtrauisch und schirmt seine Augen mit der Hand ab, weil er gegen die Sonne sehen muß. Als er uns erkennt, lacht er und kommt zu uns.
„ Hallo Leute, das ist mal eine Überraschung… Habt ihr vielleicht Hunger? Gleich gibt’s was Gutes.“
„Hallo, Hassan, alles klar?“ sage ich. „Danke, aber wir haben gerade erst gefrühstückt. Wir wollten dich fragen…“
„Ihr braucht was Gutes zu rauchen, korrekt? Da hab ich was für euch… kommt mit.“ Er führt uns zu einem großen grüngestreiften Zelt, vor dem ein paar kleine Kinder spielen, und verschwindet darin. Fröhlich pfeift er vor sich hin. Hassan ist immer gut drauf. Er arbeitet im Autohaus Brinkmann, verkauft BMWs und gebrauchte Nobelkarossen.
„Hier“, sagt er, als er wieder rauskommt, „das ist was ganz besonders Gutes – nicht dieses holländische Zeug. Mehr habe ich leider nicht, dafür schenk ich’s euch. Ist so gut wie Schwarzer, seeeehr ergiebig.“
„Hassan“, sagt Manni übertrieben feierlich und greift nach dem kleinen Brocken, den dieser ihm hinhält, „du bist der Beste. Möge Allah dir…“
„Hör bloß auf mit dem Scheiß“, unterbricht ihn Hassan mit gespielter Empörung und zieht seine Hand blitzschnell zurück. „Du weißt genau, daß ich damit nichts am Hut habe. Schon klar, du machst nur Spaß. Aber trotzdem… damit macht man keine Scherze, Mann.“ In diesen Dingen ist mit ihm nicht zu spaßen.
Wir unterhalten uns noch eine Weile, dann verabschieden wir uns. Ich denke daran, wie wir Hassan bei einem Open Air Konzert im Müngersdorfer Stadion kennengelernt haben. Er hatte mich einfach angesprochen und gefragt, ob ich “was zu rauchen“ dabei hätte. Ich trug damals die Haare bis zum Arsch, hatte zwei Tage nicht geschlafen, rannte mit halb geschlossenen Lidern auf der Suche nach Dope durch die Gegend und erweckte anscheinend den Eindruck eines total zugekifften Drogisten. Ich versicherte ihm, ich sei selber auf der Suche, es täte mir wirklich leid. Eine Viertelstunde später traf ich ihn wieder. Er habe Glück gehabt, sagte er, und etwas aufgetrieben. Er lud mich zu einem Pfeifchen ein, ich solle ihm einfach folgen. Und so fand mich der staunende Manni wenig später: in der Nähe der Bühne im Gras sitzend, inmitten von Hassans großer Familie. Die Frauen verteilten mitgebrachte Leckereien, und die Männer, allesamt Anzugträger, kifften und unterhielten sich. Hassans jüngster Bruder, ein dicker Knabe in weißem Sonntagshemd und schwarzer Hose mit Bügelfalten, baute routiniert ein Pfeifchen nach dem anderen. Manni wurde ebenso wie ich willkommen geheißen. Er nahm hocherfreut die Pfeife in Empfang, die der Junge ihm reichte. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, daß Hassan und wir nur wenige Kilometer auseinanderwohnten. Wir mußten versprechen, ihn zu besuchen, was wir seitdem regelmäßig taten.

„Hassan ist in Ordnung“, sagt Manni und dreht die Musik leiser. „Auch wenn er’n bißchen empfindlich ist mit Religion und so. Mit Ironie darfst du ihm nicht kommen. Ironie ist bei den Jungs gefährlich. Kommt selten an. Gibt immer Mißverständnisse.“
„Wo fahren wir eigentlich hin?“ will ich wissen.
„Keine Ahnung – schlag was vor.“
Während ich überlege, ziehen die großen Rapsfelder an uns vorbei wie Theaterkulissen. Das metallische Gelb leuchtet in der Sonne, wirkt irgendwie unecht. Ich stehe mehr auf Löwenzahn.
„ Blankensee vielleicht? Wir könnten zur Ruine wandern…“
„Von mir aus. Wenn’s da nicht zu voll ist…“
„In Brackhausen ist Schützenfest. Ich glaub nicht, das da heute viel los ist…“
„Stimmt, genau… großes Massensaufen.“ Manni wiehert. „Wird Zeit, daß die Bierpreise steigen. Stell dir das mal vor: Schützenfest ganz ohne Alk. Überhaupt, die ganzen Suffköppe kriegen ihren Stoff überall, in jedem Scheißladen, jederzeit. Unsereins bekommt den Lappen abgenommen, wenn die Bullen ein paar Krümel Gras auf der Fußmatte entdecken. Die Alkis dürfen sich zehn Kästen Bier ins Auto laden und damit durch die Gegend rauschen.“
Wir biegen in den Blankenweg ein, der einige Kilometer parallel zum Ufer des Sees verläuft. Durch die Lücken zwischen den Bäumen sieht man weiße Segel und bunte Sonnenschirme, unter denen Angler dösen.
„Das ist doch nix anderes als ‘ne riesige Drogenversuchsanordnung, so’n Schützenfest, oder? Alkohol ist doch eine Droge, oder? Ach Scheiße, was solls…“
Bevor Manni sich in Rage reden kann, sind wir auch schon da. Auf dem Parkplatz stehen ein paar Motorräder und nur wenige Autos. Ich erkenne den schwarzen Mercedes unseres Bürgermeisters. Er selbst sitzt mit seiner Familie an einem der Holztische vor dem Kiosk. Seine Frau, frisch gestrichen und extrem Höhensonnengebeizt, trägt ein leuchtendes, geblümtes Kleid, das so gar nicht zu ihrem dunklen, ausgemergelten Gesicht und der riesigen Sonnenbrille passen will. Sie geht, so hört man, zwei oder dreimal pro Woche in die Muckibude, ist Vorsitzende der Nichtraucherinitiative, des katholischen Hausfrauenbundes und singt im Kirchenchor.
Ihr Mann ist, was das Äußere betrifft, das genaue Gegenteil, ein großer feister Teigbatzen, dem man seine Vorliebe für Essen und Trinken ansieht. Sein richtiges Kinn liegt wie ein dicker Pickel auf der wulstigen Wamme, die aus seinem Hemdkragen quillt. Er redet meist mit dröhnender, selbstbewußter Stimme, es ist ihm egal, wenn alle mitkriegen, was er zu sagen hat. Er hat was Verschlagenes, Selbstgefälliges an sich, das auch auf den Wahlplakaten, die seit ein paar Tagen überall in der Stadt hängen, rüberkommt. Im Moment schweigt er und macht einen leicht genervten Eindruck. Vermutlich stört ihn das laute Geschrei seiner Kinder, die sich gegenseitig mit Speiseeis beschmieren.
Ich habe plötzlich Lust, mir das eine Weile anzusehen und schlage Manni vor, uns hier erst mal eine Cola zu genehmigen. Wir setzen uns an den Nachbartisch und verfolgen das Familientheater. Irgendwann wird dem Bürgermeister das Gekreisch seiner Brut lästig und er ermahnt die Kinder leiser zu sein. Als das nichts fruchtet, beugt er sich vor und verpaßt seinem fettleibigen Ältesten, der wie eine Miniaturausgabe seines Vaters aussieht, eine Ohrfeige. Auf der Stelle kehrt Ruhe ein. Das Gesicht des Knaben nimmt die Farbe einer reifen Erdbeere an, seine Unterlippe schiebt sich beleidigt nach oben. Er wirft seine Eistüte in hohem Bogen von sich, was ihm eine weitere Ohrfeige einbringt.
„Jetzt ist aber gut“, sagt Mama und legt ihrem Mann beschwichtigend die Hand auf den Arm. Dabei sieht sie sich um. Niemand hat ein Handy oder einen Photoapparat in der Hand. Sie wirkt erleichtert. Für ihren Sohn hat sie keinen Blick übrig.
Manni stößt mich mit dem Ellenbogen an und verdreht seine Augen nach unten. Seine linke Hand umklammert eine Digitalcamera. Er kann kaum an sich halten.
„Laß uns mal schnell zum Wagen gehen“, flüstert er. Sein Mund zuckt. Ich kann es kaum glauben. Hat er tatsächlich im richtigen Moment auf den Auslöser gedrückt? Der Bürgermeister wäre erledigt, Geschichte! Das Wort Erpressung erscheint plötzlich auf der schwarzen Leinwand meines Kopfkinos, ich kann nichts dagegen tun. Der Filmvorführer macht, was er will. Blödsinn, sagt MkM, was hast du eigentlich gegen den Mann? Hat dir doch nichts getan. Seine Visage gefällt dir nicht – na und? Gut, er hat seinen Bengel geschlagen. Aber mal ehrlich – das fandest du doch gut, hab ich recht? Sind dir doch auch auf die Nerven gegangen, die kleinen Schreihälse, stimmt’s? Andererseits… nein, nein, nein, das ist zu gewagt…oder? Neinneinneinnein…nein…nein…nein?
Der kleine Souffleur einfach ist nicht zu stoppen. Das ist noch keinem gelungen, außer vielleicht einem dieser Zen Mönche, die ihr ganzes Leben damit zubringen, einen Fleck an einer Höhlenwand anzustarren.
Man erfährt immer wieder mal etwas Neues über sich selbst. Aber daß meine kriminelle Energie sich als erstes zu Wort meldet, noch bevor wir wissen, ob die Aufnahmen was geworden sind, überrascht mich nicht wirklich. Ich glaube Manni denkt das Gleiche wie ich.
Das Undenkbare.
Heller Wahnsinn.

Aber machbar.

„Photos? Viel besser – was hältst du von 40 Sekunden Film?“
„Respekt…“
Auf dem Parkplatz ist es hell, auf dem kleinen Display ist nicht viel zu erkennen. Wir müssen in den Schatten fahren. Das Bild ist zwar etwas körnig, aber der Film ist sehr, sehr aussagekräftig. Ich zoome auf die Stirn des Bürgermeisters. Die Zornesfalten über seiner Nasenwurzel sind deutlich zu sehen, als er zuschlägt. Manni ist begeistert.
„Ich würde sagen, ab nach Hause, kopieren und auf großem Bildschirm genießen, oder?“


Mannis Wohnung besteht aus einem einzigen großen Raum und verströmt den Charme einer sauber aufgeräumten Garage. Er hat sämtliche Wände bis zur Decke mit weißen Lochplatten verkleidet, an denen, nach Größe geordnet, Töpfe und Pfannen, Zangen und Schraubenzieher hängen, Bücher- und CD Regale, Bilder und Krimskrams, von dem er sich nicht trennen kann. Zwischen den beiden Fenstern ragen in Kopfhöhe Metallstangen in den Raum, an denen leere Kleiderbügel aus Plastik baumeln, nach Farben geordnet. An der Wand gegenüber stehen ein alter Küppersbusch-Elektroherd und eine Nußbaumkommode aus den 50er Jahren, beide in hervorragendem Zustand. In einer Nische hinter einem Vorhang befinden sich seine sanitäre Großanlage, ein Kühlschrank und eine Waschmaschine. Sein Bett besteht lediglich aus zwei Paletten und einer Matratze. Der Röhren-Fernseher in der Ecke ist zwar uralt, funktioniert aber tadellos. Das Beste an der Wohnung, sagt Manni, sei die Fußbodenheizung. „Wenn die Waschmaschine durch ist, fege ich und leg die Klamotten einfach zum Trocknen auf den Boden. Geht ruck zuck, dauert keine halbe Stunde. Ist auch gut fürs Wohnklima.“
Er zieht die Klapprollos herunter, lädt den Film auf seinen Rechner und kopiert ihn auf eine Disc. Dann sehen wir ihn uns hundertmal an. Incredible good movie, wie der Dichter sagt.
„Weißt du was? Wir müssen den wählen“, sage ich.
„Was müssen wir?“ Manni sieht mich ungläubig an.
„Bald sind doch Kommunalwahlen. Der ist doch einer der Kandidaten für den Posten des Landrats, soviel ich weiß.“
„Und?“
„Als Bürgermeister hat er doch eigentlich nicht so viel zu verlieren, vielleicht ist es ihm scheißegal, ob solche Photos von ihm in der Zeitung sind. Ist er eben kein Bürgermeister mehr. Aber wenn der erst mal Landrat ist, und später vielleicht Abgeordneter… wer weiß, wovon der Typ träumt – Geld hat er doch genug, dem geht’s um Ruhm und Ehre. Der möchte, daß die Leute ihm zujubeln und klatschen, wenn er hier in die Schützenhallen einmarschiert. Da wäre dann ein Foto in der Zeitung sehr, sehr schlecht und erst der komplette Film auf YouTube… Also – wenn man ihm mit sowas drohen würde - “
Manni ist begeistert.
„Genau, vollkommen richtig... Ich werd verrückt – ich gehe wählen! Ich mache sogar Reklame für den!“

Die Tage bis zur Kommunalwahl scheinen 48 Stunden und mehr zu haben. Die Campingabteilung des Kaufhauses, in dem ich arbeite, bietet nicht viel Abwechslung. Zwischen Zelten und Hollywoodschaukeln, Gartengrills und Plastikmöbeln vergeht die Zeit nur schleppend. In den Frühstückspausen informiere ich mich im Stadtanzeiger über den Stand der Dinge. Welche Chancen werden Beckmann eingeräumt, was tut die Opposition, was sagen die Bürger? Die Kolleginnen machen Witze über mein plötzlich erwachtes politisches Bewußtsein.
Fast jeden Abend treffe ich mich mit Manni. Wir verhöhnen lachend die Wahlversprechen der Opposition, und lassen kein gutes Haar an den Ideen ihres Kandidaten, eines völlig integeren, sympathischen und vielversprechenden Mann. Das nächste Mal, sind wir uns einig, werden wir ihn wählen. Doch diesmal geht’s leider nicht. Seine Chancen sind ohnehin schlecht.
Wir müssen an alles mögliche denken, glauben aber, genug Krimis gesehn zu haben um zu wissen, was alles schief gehen kann. Beckmann wird sich die Situation ins Gedächtnis rufen, in welcher der Film entstanden ist. Vielleicht haben er oder seine Frau ein gutes, vielleicht sogar fotografisches Gedächtnis und können sich daran erinnern, wer da am Nebentisch gesessen hat?
„Wir könnten uns Bärte wachsen lassen“, schlägt Manni vor.
„Oder eine Glatze schneiden…,“ ergänze ich, „noch mehr Spitzenideen?“
Man sollte kein Dope rauchen, wenn man solche Dinge bespricht. Es könnte sein, das man dann die eine oder andere Kleinigkeit übersieht.

Das Warten ist vorbei. Wir sitzen vor der Glotze und verfolgen im Regionalfernsehen die Bekanntgabe der Ergebnisse. Beckmann gehört eindeutig zu den Gewinnern des Tages. In Zukunft kann er sich über ein Einkommen oberhalb der 7000 € Grenze freuen und seiner Frau eine eigene Sonnenbank plus Fitneß-Station und Lauftrainer kaufen. Er wird endlich den Respekt genießen dürfen, der ihm seiner Meinung nach zukommt. Schon morgen, spätestens aber übermorgen, wird er sich jedoch fürchterlich ärgern, wenn er seine Post öffnet und zwischen all den Glückwünschen unseren in sehr höflichem Ton gehaltenen Brief zusammen mit der Kopie eines preiswürdigen Kurzfilms findet. Die Hochstimmung, in der er sich gerade noch befindet, wird schlagartig nachlassen.
Ich schalte den Fernseher aus. Manni trägt Gummihandschuhe, er schiebt die DVD in einen gefütterten Umschlag, fügt unser Begleitschreiben hinzu, befeuchtet die Gummierung mit einem kleinen Schwamm und klebt ihn zu. Den Umschlag hat er vor ein paar Tagen in Köln besorgt, das Schreiben am PC ausgedruckt.
„Und wenn der Kerl sich doch an uns erinnert?“ frage ich.
„Und wenn Vitamin C doch krank macht?“ erwidert Manni. „War doch völlig in Gedanken, der Typ.“
„Aber seine Frau… Die hat sich vielleicht unsere Gesichter gemerkt.“
„Jetzt mach mich nicht verrückt, Alter. Das geht alles klar – ich sags dir.“
Das den beiden vielleicht Mannis R4 aufgefallen sein könnte, behalte ich lieber für mich. Außerdem besitzen wir eine zweite Disc, die wir in einem Schließfach am Bahnhof deponiert haben. Eigentlich kann also nichts passieren, wir sind auf der sicheren Seite. Eigentlich…
Wir verlassen die Wohnung, steigen in den Golf und fahren nach Köln, wo wir den Umschlag in den erstbesten Briefkasten werfen wollen. Es herrscht wenig Verkehr, die Fahrt dauert nicht mal eine Stunde. Als wir dann vor dem Gelben Kasten stehen und Manni den Brief in den Schlitz gesteckt hat, zieht er sich die Gummihandschuhe aus und sagt fröhlich: „Herzlichen Glückwunsch, jetzt sind wir kriminell!“ Er greift in die Tasche und zieht einen zerknitterten Joint heraus. „Scheiße, den haben wir uns verdient, jetzt mach nicht so’n Gesicht – steck ihn einfach an.“

Unsere Forderung beläuft sich auf 50.000 €, was genau betrachtet weder unverschämt, noch unrealistisch ist, denke ich während der Rückfahrt. Eigentlich sogar viel zu wenig, flüstert MkM, um gleich darauf hinzuzufügen, die Höchststrafe bei Erpressung beträgt 5 Jahre. Wohlgemerkt, die Höchststrafe – wenn Millionen im Spiel sind und so, und keiner zu Schaden kommt. Scheiße, dagegen sind wir kleine Fische… nicht vorbestraft: ist immer gut. Außerdem haben wir an alles gedacht, Punkt.
Ich liege die ganze Nacht wach. Erst im Morgengrauen gelingt es mir, für eine halbe Stunde zu schlafen – bis der Wecker klingelt. Mein erster Gedanke gilt der deutschen Post. Ist vielleicht schon ein Briefträger mit unserer Botschaft unterwegs? Wohl kaum, sage ich mir, es ist halb sieben, zu früh. Eindeutig zu früh. Wie gerne würde ich Beckmanns Gesicht sehen, nachdem er die DVD in seinen Player geschoben hat.
Eine Dreiviertelstunde später lasse ich die Haustür hinter mir zufallen. Ich will zu meinem Wagen gehen, als ich hinter mir eine Stimme höre.
„Herr Harryhausen? Herr Harald Harryhausen?“ Es ist eine harte, amtliche Männerstimme. Ich drehe mich um.
„Ja, was ist denn?“ sage ich und weiß im gleichen Moment, daß dies kein schöner Tag werden wird, im Gegenteil. Unser Bürgermeister, eingerahmt von zwei Polizisten, sieht mich finster an. Mir wird kalt, meine Knie fangen an zu zittern. Einer der beiden Bullen dreht seinen Kopf und sieht Beckmann an.
„Ist er das?“
„Kein Zweifel – das ist einer der beiden.“
„Sind sie sich wirklich sicher?“
Beckmann grinst diabolisch.
„Los, tun sie ihre Pflicht. Nehmen sie das Arschloch fest.“
Der andere Bulle greift an seinen Gürtel und zieht die Handschellen raus, zögert aber dann.
„Im Grunde“, sagt er leise, „können wir uns das doch wirklich sparen. Das Beste ist, wir machen kurzen Prozess.“
Ungläubig sehe ich zu, wie er nach seiner Pistole greift, den Schlitten nach hinten zieht und auf mich anlegt. Bevor ich reagieren kann, drückt er ab. Die Wucht des Einschlags wirft mich nach hinten, die Kugel trifft mich wie ein Hammer. Bevor ich auf dem Boden aufpralle, schießt er noch ein weiteres mal. Beckmann lacht.
Schreiend wache ich auf. Mein Herz schlägt wild, Schweiß rinnt mir übers Gesicht. Ich verfluche unseren idiotischen Plan. Ich verfluche Manni, ich verfluche den fetten Bürgermaster und ich verfluche mich selbst. Dann quäle ich mich aus den naßgeschwitzten Laken und schwanke, wüste Verwünschungen ausstoßend, ins Bad.
Drei Tassen Kaffee und eine Zigarette später schlägt mein Herz wieder normal. So ist das also, denke ich. Das kann heiter werden.
Ich sehe auf die Straße runter. Kein Briefträger. Keine verdächtigen Gestalten. Im Treppenhaus begegne ich Frau Groß. Sie hat sich feingemacht für ihre morgendliche Visite im Supermarkt. Wir begrüßen uns und wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag.
Draußen wartet niemand auf mich. Ich atme tief durch, setze mich in den Golf und fahre los. Als ich am Rathaus vorbeikomme, sehe ich das gelbe Rad des Briefträgers an der efeubewachsenen Treppe stehen.

Wir haben eine große Ladung Gartenmöbel reinbekommen. Das Zusammenschrauben der Gartenschaukeln und Sitzgarnituren läßt den Tag schnell vergehen. Ich bin dankbar für die viele Arbeit, die mir keine Zeit läßt für lästige Spekulationen und Zweifel. Abends erwartet mich Manni am Personalausgang. Er ist zu Fuß gekommen, sein Wagen ist in der Werkstatt.
„Scheiße, ich glaub, ich laß den umspritzen. Ist sicherer, wer weiß…“ Natürlich fahren wir sofort zu der Straße, in der das Haus unseres zukünftigen Landrats steht. Wir halten in einiger Entfernung und beobachten sein Domizil, lauern auf Kleinigkeiten, die uns vielleicht verraten, ob unser Brief schon angekommen ist.
„Da tut sich nix“, sagt Manni. „Ob da überhaupt einer zu Hause ist? Laß uns solange zur Mampfe fahrn. Ich hab einen Scheißhunger. Danach kommen wir wieder her, dann sehen wir schon…“
Die Mampfe ist eine der besten Imbißbuden weit und breit. Conny, die Frau hinter der Theke, legt immer einen großen Löffel süße Gurkenscheiben neben die Fritten. Ihre Currymischung ist legendär. Während wir essen, erzähle ich Manni von meinem Albtraum. Er kann sich gar nicht einkriegen, will mir gerade klarmachen daß alles gut werden wird, als der Sohn des Bürgermeisters auftaucht und sich in die Schlange der Hungrigen einreiht. Der kleine Moppel bestellt sich eine gigantische Portion Fritten mit extra viel Mayonnaise, die er in Rekordzeit verschlingt und mit einer Cola runterspült. Als Nachspeise gönnt er sich noch einen Becher Eis. Wir versuchen, an seinem Gesicht abzulesen, ob es bei ihm zu Hause vielleicht Ärger gegeben hat. Aber der kleine Schlinger konzentriert sich nur aufs Essen. Dann ist er fertig und macht sich wieder auf den Heimweg.

Es ist dunkel geworden. In Beckmanns Haus brennt Licht, er hat Besuch bekommen. Wir sehen ihn gutgelaunt vor einer großen Bücherwand stehen. Zwei bebrillte Anzugträger, die mit dem Rücken zum Fenster stehen, heben ihre Gläser und prosten ihm zu. In einem der beiden erkenne ich meinen Nachbarn, den Rasenmähermann. Beckmann lacht und leert sein Glas in einem Zug.
„Scheiß Post“, flucht Manni, „lahmarschiger Verein! Aaaahh, da kommt Madame.“
Die zukünftige Frau Landrat schwebt ins Wohnzimmer. Der rosa Designerfummel, den sie trägt, betont ihre tiefe Bräune. Als sie den Mund öffnet, ist es, als hätte jemand ein zusätzliches Licht angeknipst.
Wieviel Zähne hat man eigentlich, frage ich mich. 32? Sie scheint ein paar mehr zu haben… Sind natürlich falsch, sagt MkM, genau wie ihre Haare, ihre Wimpern, die Fingernägel und vermutlich auch ihre Möpse und dies unnatürliche Lachen. Die ganze Frau ist ne Fälschung, von oben bis unten. Bald wird sie anfangen, sich bunte Schals über die Schulter zu hängen.
Als die beiden Anzüge sich wenig später verabschieden, werden wir Zeugen eines erstaunlichen Phänomens. Selbst auf diese Entfernung können wir sehen, wie im Hause Beckmann die Masken fallen. Aus der glücklich lächelnden Hausdame wird innerhalb von Sekunden eine grimmig dreinblickende Furie, die ihrem Mann mit vorgerecktem Kinn wütende Worte an den Kopf wirft, begleitet von Gesten, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Beckmann steht reglos da, hört sich ohne Gegenwehr an, was sie zu sagen hat, und sieht sie nur an. Dann, ohne Vorwarnung, verpaßt er seinem geschminkten Hausdrachen eine Ohrfeige. Sie zögert keine Sekunde und schlägt zurück. Dann läßt sie die Jalousien herunter.
„Das mit der Post nehm ich zurück“, sagt Manni und lehnt sich zurück, „ich denke mal, wenn wir übermorgen den Kurier aufschlagen, gibt’s Grüße von Dornröschen.“
Für den Fall, das Beckmann auf unsere Forderung eingeht, soll er am Mittwoch eine Anzeige im lokalen Käseblatt mit dem Wortlaut Dornröschchen grüßt Schneewittchen schalten und sich am gleichen Abend nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Geld zum Kiosk am See begeben, wo dann das Tauschgeschäft über die Bühne gehen soll. Keine linken Touren. Wir werden ihm die zweite Disc aushändigen, viel Glück für seine zukünftige Karriere wünschen und das wars dann.
Wenn alles gut läuft.

Mittwoch, 13 Uhr.
Der Zeitungsbote, ein junger Typ mit extrem tief hängenden Baggy-Jeans, zieht seinen Karren mit der linken Hand hinter sich her. Mit der Rechten hält er sich ein Handy ans Ohr. Ich habe mir für heute frei genommen und sehe ihm dabei zu, wie er die zusammengerollten Zeitungen in der Nachbarschaft verteilt. MkM versucht mich zu beruhigen.
Jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Bleib in der Wohnung, bis er in die nächste Straße einbiegt. Dann zählst du bis hundert – und erst dann gehst du runter, nicht vorher.
Im Treppenhaus ist es still. Das Licht, das durch die Glasbausteine fällt, kommt mir irgendwie anders vor als sonst. Meine Schritte hallen durch das Treppenhaus. Ich umfasse das abgenutzte rote Treppengeländer und rechne damit, daß sich im nächsten Moment alle Wohnungstüren öffnen und ein Schwarm Bullen über mich herfällt. Sonst noch was?
In Kempers Wohnung läuft das Radio. Ich hole tief Luft, stoße die Haustür auf, ziehe die Zeitung aus meinem Briefkasten und widerstehe der Versuchung, gleich hier den Anzeigenteil zu durchsuchen. Unauffällig mustere ich die Umgebung. Jetzt mach dir nicht ins Hemd. Geh einfach wieder hoch, steck dir eine an, mach Kaffee und dann siehst du in aller Ruhe nach. Alles läuft nach Plan.
„Herr Harryhausen?“
Der Schreck fährt mir durch alle Glieder, aber es ist nur Frau Groß, die mich bittet, ihr dabei zu helfen, einen alten Sessel an die Straße zu stellen.
„Morgen ist doch Sperrmüll“, sagt sie, eine Mischung aus Asbach Uralt und Kölnisch Wasser verströmend, „wenn sie bitte so freundlich wären, Herr Harryhausen? Ich kann ihn nicht mehr sehen.“ Der Sessel scheint gut in Schuß zu sein und nach einer kurzen Untersuchung entschließe ich mich, ihn selbst zu nehmen. Wir tragen das sperrige, aber erstaunlich leichte Teil die Stufen hoch bis zu meiner Tür. Ich bedanke mich bei ihr und sie sich bei mir. Sie betont noch einmal, daß ihr Arm wieder wie neu sei, und scheint einem kleinen Plausch nicht abgeneigt zu sein. Leider muß ich die gute Seele wieder enttäuschen und fasele was von gerade Wasser aufgesetzt, Nudelsoße und so weiter.
Den Sessel lasse ich fürs erste im Flur stehen. Ich lege die Zeitung auf den Tisch und schlage den Anzeigenteil auf.
Tatsächlich: das große, dicke Dornröschchen hat geantwortet.

Unwirklich ist nicht der treffende Ausdruck für das Bild, das Manni und ich im Spiegel abgeben. Die Captain-Kirk-Masken hat Manni gestern in Köln besorgt, genauso wie die billigen dunkelgrauen Arbeitsanzüge. Wir sehen aus wie die Michael Myers Twins. Ziemlich furchteinflößend, wie ich finde.
„Fehlen nur noch zwei große Küchenmesser, Alter“, schwärmt Manni, der guter Dinge ist und nicht von Zweifeln geplagt wird wie ich. „Scheiße, dem geht der Arsch auf Grundeis, wenn wir vor ihm stehen, was meinst du?“
Mannis Wagen ist jetzt dunkelrot, aber wir nehmen trotzdem den Golf. Wir fahren frühzeitig los, denn wir wollen auf jeden Fall vor dem Bürgermeister dort sein. Drei Kilometer vor dem Parkplatz am See stellen wir den Wagen ab und nehmen einen schmalen Wanderweg, der uns direkt hinter den Kiosk führt. Als die Dämmerung hereinbricht, stülpen wir uns die Masken über und setzen uns, von Gebüsch verborgen, so hin, daß wir den Parkplatz und die Straße übersehen können. Wir müssen nicht lange warten. Die Scheinwerfer von Beckmanns Mercedes blinken durch die Bäume und tauchen den Platz in grelles Licht, bevor sie verlöschen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, aber als wir aufstehen und uns vorsichtig auf den Wagen zu bewegen, werde ich auf einmal ganz ruhig und entspannt. Ich höre Mannis Atem unter der Maske.
„Er sitzt noch drin“, flüstert er. Im gleichen Moment hören wir, wie die Autotür zugeschlagen wird. Beckmanns Umrisse sind jetzt undeutlich zu erkennen. Als wir aus dem Wald treten und nur noch wenige Meter von ihm entfernt sind, öffnet sich plötzlich hinter uns die Tür des Kiosks und jemand stürmt auf uns zu. Als ich herumfahre und den Baseballschläger wahrnehme, den der unbekannte Angreifer schwingt, weiche ich zur Seite aus und hebe den Arm, um meinen Kopf zu schützen. Der Hieb trifft nur meinen rechten Unterarm, ich gehe trotzdem zu Boden, schlage mit dem Kopf auf etwas Hartem auf und verliere für Sekunden das Bewußtsein. Manni hat weniger Glück. Er wird von dem knurrenden, wild um sich schlagenden Mann so hart getroffen, daß er wie ein Sack umfällt und sich nicht mehr rührt. Der Kerl kümmert sich nicht weiter um mich, kniet sich hin und tastet Manni ab. In dessen linker Brusttasche findet er die Plastikhülle mit der Disc und hält sie hoch.
„Ich hab sie“, ruft er triumphierend. Irgendwie kommt mir die Stimme bekannt vor.
„Bring sie mir“, ruft Beckmann, der sich nicht von der Stelle gerührt hat. Ich greife mir den Schläger, den der Kerl neben Mannis leblosem Körper liegengelassen hat, und richte mich auf. Die Wut über die Erkenntnis, hereingelegt worden zu sein, verleiht mir ungeahnte Kräfte. Ich renne hinter dem Kerl her und verpasse ihm genau in dem Moment, als er Beckmann die Disc in die Hand drückt, mit aller Kraft ein Ding auf den Hinterkopf. Ein dumpfes Klong ist zu hören und er geht in die Knie. Beckmann reagiert blitzschnell, reißt die Fahrertür auf und startet den Wagen. Das Getriebe stöhnt, Steine spritzen durch die Gegend, als die Reifen einen Moment durchdrehen. Ich schleudere den Baseballschläger hinter ihm her, aber es ist zu spät. Ich kann nur noch fassungslos den kleiner werdenden Rücklichtern hinterher sehen. Dann fällt mir Manni wieder ein. Als ich die Finger an seinen Hals lege, um seinen Puls zu fühlen, wacht er auf. Ich helfe ihm hoch, und beobachte dabei den Körper des zweiten Typen. Der rührt sich nicht und für einen Augenblick fürchte ich, daß ich eine Kleinigkeit zu fest auf ihn eingedroschen habe.
„Sauber“, krächzt Manni, „hat ja super geklappt, Kacke verdammte.“
„Komm schon, Alter“, flüstere ich, obwohl niemand mehr da ist, der uns hören könnte. „Wir müssen hier weg, hilft ja nix!“ Ich ziehe ihm die Maske vom Kopf, damit er besser atmen kann, und stopfe sie in meine Hosentasche, dann lege ich mir seinen rechten Arm über die Schulter und wir machen uns aus dem Staub. Über uns funkeln die Sterne am schwarzen Himmel.

Das Ei auf Mannis Stirn hat Güteklasse A. Die Schwellung unterhalb meines rechten Ellbogens schmerzt und pocht, aber der Knochen ist heil geblieben. Was wirklich weh tut, ist die Erkenntnis, daß wir Beckmann so naiv auf den Leim gegangen sind. Das er oder sein Schläger uns unmöglich erkannt haben können, ist ein schwacher Trost.
Manni hegt Mordgedanken. Es dauert eine Woche, bis er sich einigermaßen beruhigt hat. Seinem Chef, der ihn sofort zum Arzt geschickt hat, nachdem er die große farbige Beule gesehen hat, hat er erzählt, er sei im Suff das Treppenhaus runter gerauscht. Der Doc stellte eine mittelschwere Gehirnerschütterung fest und schrieb Manni für 14 Tage krank.
Die Stimme des Schlägers geht mir nicht aus dem Kopf. Ich zermartere mein Hirn, aber da es nur 3 Worte waren, die er von sich gegeben hatte, ist es schwer, sie einem Gesicht zuzuordnen. Doch schon zwei Tage später fällt mein Blick zufällig auf Nachbars Garten. Da es unwahrscheinlich ist, das der Herr des Hauses plötzlich zum Hinduismus konvertiert ist, muß der kleine Turban, den er auf dem Kopf trägt, eine andere Ursache haben.
Zum Beispiel eine Kopfverletzung.
Sein Gesicht hat einen finsteren, verbissenen Ausdruck. Immer wieder streicht er sich mit der Hand über den Hinterkopf und preßt die Lippen zusammen. Ist der Kerl nicht in der gleichen Partei wie Beckmann? raunt mir MkM zu. Er hat ihm doch zugeprostet an dem Abend, als du mit Manni das Haus beobachtet hast…Schwer vorzustellen allerdings, daß er sich zu so was hergibt. Vielleicht schuldet er unserem sauberen Bürgermeister noch einen Gefallen, wer weiß?
Ich versuche mich daran zu erinnern, wo ich ihn erwischt habe. Seitlich? Nein, auf den Hinterkopf, ganz sicher, auf jeden Fall… Hättest du dem garnicht zugetraut, so wie er sich aufgeführt hat. Ist wie ein Berserker auf euch los, der Herr Vermögensberater. Vielleicht hat er auch nur Angst gehabt und ist vor lauter Adrenalin durchgedreht.
Ich fasse mir an den Arm. Die Schwellung ist fast weg, aber mein Zorn nicht. Eine ganze Stunde sehe ich ihm zu, er benutzt fast sein gesamtes Arsenal. Elektrische Heckenschere, Kantenschneider mit Benzinmotor, Laubsauger, obwohl kaum Laub herumliegt, und zum guten Schluß zerschneidet er einige Gehwegplatten und ordnet sie neu. Diesmal geht mir der Krach nicht auf die Nerven. Diesmal sehe und höre ich gern zu.

Ich muß Manni nicht sagen, daß es keinen Sinn hat, jetzt die Treppe runterzurennen und Körner, so heißt der Nachbar, auf der Stelle zusammenzuschlagen. Das weiß er selbst. Aber es juckt ihm gewaltig in den Fingern. Er wird zum Poeten und erfindet völlig neue Schimpfworte, die in der Bemerkung gipfeln, daß Vermögensberater sowieso die Hämorrhoiden am Arsch der Gesellschaft seien. Ich gebe ihm recht, weise aber darauf hin, daß wir jetzt einen vernünftigen Plan brauchen.
„Ich scheiß auf die Knete“, stößt er hervor, „ich will, daß der Typ leidet, und zwar richtig. Wenn ich dran denke, das wir so bescheuert blauäugig waren… die einzige Kopie, die wir hatten wegzugeben… völlig idiotisch! Aber der Typ“, er deutet aus dem Fenster, „der kriegt sein Fett, so wahr ich hier stehe!“
Es ist Samstagmittag. Durch das offene Fenster dringt das auf und abschwellende Singen von Körners Kreissäge. Sein weißer Turban schimmert in der Sonne. Die Terassentür öffnet sich, seine Frau bringt ihm ein Glas Orangensaft. Er zieht seine Handschuhe aus, gibt ihr einen Kuß auf die Wange und leert es in einem Zug. Sie streicht ihm zärtlich über den Hinterkopf und macht ein mitleidiges Gesicht.
„Sieh an, sieh an! Wer kommt denn da?“ sagt Manni und macht mich auf den Mercedes aufmerksam, der die Straße heraufgefahren kommt und vor dem Nachbarhaus hält. Beckmann knallt die Wagentür zu und winkt fröhlich. Die beiden setzen sich an einen Holztisch hinter der Hecke, die diesen Teil des Gartens vom Nachbargrundstück trennt. Wir sehen nur noch ihre Füße und Körners Verband, der durch die Zweige leuchtet.
„Scheiße! Ein Richtmikrophon – das wär’s jetzt!“ Mannis Augen leuchten.
Wir wagen nicht, uns aus dem Fenster zu lehnen. Die Unterhaltung dauert nicht lange, dann stehen die zwei auf und gehen ins Haus. Jetzt haben wir keine Zweifel mehr.

Die besten Ideen hat man oft im Traum. Blöde nur, daß man sich am nächsten Morgen für gewöhnlich nicht mehr daran erinnern kann. An diesem Sonntagmorgen jedoch ist es anders. Diese Idee ist nicht nur gut, sondern spitzenmäßig, wie ich finde.
Ich setze mich nach dem Frühstück in meinen Wagen, fahre zu Mannis Wohnung und erzähle ihm von meinem Traum.
„Die Nase schwarz tätowieren? Was hast du denn geraucht? Scheiße, Alter, das ist so was von brillant! Hervorragende Idee, verdammt!“ Er ist sofort Feuer und Flamme. Zugegeben, es mag ein bißchen kindisch klingen, aber der Gedanke, Körner mit einer pechschwarzen Nase auf seinem Rasenmäher oder hinter seinem Schreibtisch bei einer Kundenberatung sitzen zu sehen, ist äußerst verlockend. Beckmann würde so etwas auch gut zu Gesicht stehen, aber erstmal richten wir unsere Rachephantasien auf meinen Nachbarn. Schließlich war er es, der uns mit dem Baseballschläger niedergeschlagen hat.
Ein kleines Problem gibt es allerdings: wir besitzen weder ein Tätowiergerät, noch können wir damit umgehen.
„Das kann ja wohl nicht so schwer sein“, behauptet Manni, „wir wollen ja kein Kunstwerk stechen, Alter. Nur die Nase schwarz machen – wie kompliziert kann das schon sein? Ich besorg uns beim Metzger ein Stück Speckschwarte, dann haben wir was zum Üben.“ Im Internet erkundigen wir uns, was eine Tätowiermaschine kostet. Die Dinger sind billiger, als ich erwartet habe. Ein Set mit Farben und Ersatznadeln kostet weniger als 100€. Natürlich kommt eine Bestellung bei Amazon nicht in Frage, wir müssen uns in Köln umsehen oder besser noch in einer Stadt, die weiter weg ist, irgendwo im Ruhrpott oder so. Jetzt, wo wir einen Plan haben, steigt unsere Stimmung. Kindisch? Von mir aus.

„Sieht doch schon ganz gut aus, oder?“ Stolz betrachtet Manni sein Werk. In sauberen Druckbuchstaben steht Körner die Sau auf der bräunlichen Speckschwarte, die vor uns auf dem Tisch liegt. Wir müssen laut lachen.
„Laß mich auch mal“, sage ich, und nehme die summende Maschine in die Hand. Es gelingt mir, ein schönes schwarzes Quadrat in die Schwarte zu stechen. Gestern haben wir in Dortmund eine Shopping Tour gemacht und sind auf Anhieb fündig geworden. Die Adressen der einschlägigen Geschäfte haben wir im Netz gefunden.
„Jetzt müssen wir nur noch den Kerl dazu bringen, still zu halten“, meint Manni. „Fesseln, den Kopf in einen großen Schraubstock geklemmt – und ab geht’s.“
„Erst mal müssen wir ihn doch haben. Das dürfte nicht ganz einfach sein…“ gebe ich zu bedenken, „und überhaupt – Schraubstock?“
„Wir können ihm auch was auf seine Birne geben, Scheiße… irgendwie muß das gehen.“ Aber so sehr wir uns auch den Kopf zerbrechen, wir wissen nicht, wie wir an Körner herankommen können. Ich frage mich, ob er joggt oder vielleicht mit Nordic-Walking Stöckchen am frühen Morgen durch den Wald marschiert wie einer dieser fröhlichen Roboter, die immer öfter zu sehen sind. Wir müssen ihn also eine Weile beobachten, seinen Tagesablauf und seine Freizeitgewohnheiten studieren. Manni will das übernehmen, er ist noch für 14 Tage krankgeschrieben und hat Zeit genug, den Detektiv zu spielen…


Das wars. Das Ding mit der Nase können wir erstmal vergessen. Körner liegt im Krankenhaus.
Am Montagmorgen gegen elf, ich bin gerade dabei, einen Gartengrill zusammenzuschrauben, trifft mich fast der Schlag, als er in Begleitung seiner Gattin plötzlich vor mir steht. Sein Anblick bringt mich für Sekunden aus der Fassung. Ich ringe mir ein freundliches Lächeln ab.
„Kann ich ihnen helfen?“
Körners Augen wandern unruhig hin und her. Er macht einen gehetzten Eindruck. Der Verband auf seinem Kopf ist kleiner geworden. Seine Stimme klingt verschwommen.
„Wir suchen eine schöne Gartenschaukel.“ Aha.
Ich zeige den beiden, was wir haben, aber Körner scheint nicht ganz bei der Sache zu sein. Teilnahmslos läßt er sich von seiner Frau zum Probesitzen einladen. Die beiden schaukeln eine Weile, da erhebt er sich plötzlich und steht schwankend und mit bleichem Gesicht da.
„Was ist mit dir, Gregor?“ erkundigt sich seine Frau mit besorgtem Gesicht. Sie steht auf und legt die Hand auf seine Stirn. „Tut dir der Kopf wieder weh?“
„Jaaah…guuut, die neeehm wir…“, erwidert er und versucht zu lächeln. Dann kippt er zur Seite und reißt eine Reihe Klapphocker um. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und rufe den Notdienst an. Meine Finger zittern, ich habe ein schlechtes Gewissen, denn für mich besteht kein Zweifel: die Ursache für Körners Zustand ist der Schlag, den ich ihm verpaßt habe. Mein Zorn auf ihn ist mit einem Schlag verflogen. Seine Frau, bittet mich ein Glas Wasser zu holen.
„Er ist die Kellertreppe runtergefallen“, klärt sie mich auf, „und hat sich den Hinterkopf aufgeschlagen. Seitdem ist ihm schwindlig. Ich hab ihm gesagt: du mußt zum Arzt, aber er wollte nicht. Er ist immer so stur.“
Nachdem die Rettungssanitäter, die nach 5 Minuten zur Stelle sind, ihn untersucht und abtransportiert haben, klingelt mein Handy.
„Ich steh vor eurem Laden. Was war da los, Alter? Ich denk‘ ich seh nicht richtig – gerade haben sie Körner rausgetragen. Was ist passiert?“
Ich erzähle Manni, was vorgefallen ist.
„Oh, Scheiße…verdammt – und was jetzt?“
„Keine Ahnung, die Sache mit der Nase können wir erstmal vergessen, glaub ich. Man kann nur hoffen, daß der keinen Dauerschaden davonträgt. Das wär das Letzte, Mann. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Geh schon mal rüber zu Mario, ich hab gleich Mittagspause, ich komme dann.“

In Marios Imbißkneipe ist es kühl. Manni sitzt vor einem halbleer gegessenen Teller Spaghetti Bolognese und macht ein ernstes Gesicht, als ich auf seinen Tisch zu gehe.
„Hier“, sagt er und zeigt auf seinen Teller, „kannst du haben, ich hab keinen Hunger mehr.“
Ich sehe mich um.
„Mario nicht da?“
„In der Küche verschwunden, glaub ich.“
Die Glocke an der Tür bimmelt, als ein paar Schüler reinkommen und sich im vorderen Teil der Kneipe breitmachen. Ich erkenne Beckmanns Sohn. Er hat, wie die anderen, Stöpsel im Ohr und beginnt sofort, nachdem er sich gesetzt hat, damit, auf seinem I Phone herumzudrücken. Mario kommt aus seiner Küche. Ich bestelle eine Cola und mache mich über die Spaghetti her.
„Weißt du was?“ sagt Manni.
„Nee, was denn?“
„Ich glaub, das war sowieso ‘ne Schnapsidee.“
„Was?“
„Die Nasensache.“
„Ich glaub’s auch.“
Manni wirkt erleichtert. Er habe sich in der letzten Nacht mächtig viele Gedanken gemacht, und das es schließlich Kidnapping sei, was wir vorgehabt hätten.
„Kidnapping – weißt du was das heißt? Scheiße, für Entführung gibt’s ein paar Jahre, da kannst du einen drauf lassen. Kein Kavaliersdelikt…Nee, also wirklich. Und außerdem ist der Typ genug gestraft, so wie’s aussieht. Du mußt dem ja ordentlich was auf die Rübe gegeben haben.“
„Genau auf den Punkt.“
„Stimmt.“
Mario kommt mit meiner Cola. Heute scheint er sich mit seiner Frisur besonders viel Mühe gegeben zu haben. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben sind, hat er sich im Ernst Huberty-Stil quer über den kahlen Schädel gelegt. Es muß interessant aussehen, wenn er morgens aufwacht.
„ Hallo, Harald… wie geht? Alles gut? Was is los, Manni? Ist die Pasta nich gut? Hat dir nich geschmeckt?“
„Nee, alles bestens. Hab nur einfach keinen Hunger mehr.“
„Du muß besser esse, Manni, ich sag dir. So, jetz musse ich ersma zu de Kids. Fange jetz an, Krach zu mache. Imma dieselbe Scheiß.“ Er geht nach vorn und der Lärm, den unsere Zukunft macht, ebbt ab. Ich nehme mein Glas in die Hand und schließe beim trinken für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder aufmache, sehe ich Mercedes, Marios 19jährige Tochter und sein ganzer Stolz, in der Tür zur Küche stehen. Sie hat ein bißchen zugelegt, scheint mir, seit ich das letzte Mal hier war. Ich stoße Manni unter dem Tisch mit dem Fuß an und mache ihm mit den Augen ein Zeichen.
„Papa! Si ti aspettiamo!“ ruft sie mit ihrer entzückenden Kleinmädchenstimme. Als Mario nicht reagiert, setzt sie ihren prallen Körper in Bewegung und eilt an unserem Tisch vorbei zu ihrem Vater.
„Ipoudenti vecchio…“ murmelt sie und kräuselt ihr Näschen .
Unter dem weißen, hautengen T-Shirt zeichnen sich spektakuläre Speckrollen und Brüste ab, die im Zusammenspiel mit ihrem Madonnengesicht und dem hüftlangen schwarzen Haar der Grund dafür sind, das Mario wie ein Zerberus über sie wacht. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde es wagen, mit ihr zu flirten, denn nicht nur Mario, sondern auch ihre Brüder Massimo und Carlo sind, was Mercedes betrifft, in ständigem Alarmmodus unterwegs, das ist allgemein bekannt. Sie ist sich ihrer Wirkung auf die Männerwelt leider nur zu bewußt, wie mir Mario voller Bedauern einmal anvertraut hat.
„Was soll i mache, mein Freund. Ich lieb sie mehr als alles andre, aba guck ma selber hin – sie isse pure Gift für meine Ruh. Kann ma kaum schlafe, wenn sie is unterwegs… zacke, is passiert, und sie isse schwanger. Gehte heutzutage fix, du weisse ja.“
Die Duftwolke, die Mercedes hinterläßt, als sie mit ihrem Papa im Schlepptau wieder in der Küche verschwindet, ist atemberaubend. Manni verdreht die Augen und schnalzt genießerisch mit der Zunge.
„Mercy, mercy, mercy… Gnaaade! Das – pu – re – Gift... mannmannmannmannmann…“
Ich teile seine Bewunderung durchaus, aber die Sache mit Körner überlagert meine Begeisterung für Mercedes‘ Reize in diesem Moment bei weitem. Niemals hätte ich gedacht, daß mir das Befinden meines verhaßten Nachbarn so wichtig werden könnte. Ich nehme mir vor, nachher im Krankenhaus anzurufen und mich nach seinem Zustand zu erkundigen.

„Wir dürfen am Telefon keine Auskunft über unsere Patienten geben, tut mir leid, Herr, ääh…wie war doch gleich ihr…“
„Schon gut, vielen Dank auch“, sage ich und drücke schnell die rote Taste.
„Jemand, den ich kenne?“ fragt die dralle Rosy aus der Herrenabteilung und knallt ihre Spindtür zu.
„Was?“
„Im Krankenhaus…Hast du nicht eben im Krankenhaus angerufen?“ Feind hört mit, warnt mich MkM. Du mußt besser aufpassen.
„Ach so… ein Onkel von mir, Arbeitsunfall, wollte nur wissen, wie‘s ihm geht.“
„Und?“ Neugierige Kuh.
„Geht ihm schon besser, danke der Nachfrage.“
„Was ist denn heute Morgen bei dir passiert? Ich hab gehört, da hat einer den Hermann gemacht?“
„Ja, da ist einem Kunden schlecht geworden. Ist mir in die Grills gekippt, volles Programm. War aber wohl nicht so schlimm, glaub ich.“
„Aha. Na dann… also bis morgen.“
„Machs gut, Rosy.“
Ich schließe meinen Spind auf und hole meine Jacke raus. Unten, vor dem Personaleingang wartet Manni. Er unterhält sich angeregt mit Rosy, die ihn mit ihren Kulleraugen bereits hypnotisiert und dazu gebracht hat, sie zu einem Bier bei Mario einzuladen.
„Tut mir, ääh, leid, Alter“, grinst er, „eigentlich wollten wir ja…, aber wir können ja morgen…“
„Alles klar, Manni, macht nix. Gegen Rosys Charme“, sage ich und strahle die Gute an, „bin ich machtlos. Also dann bis morgen. Viel Spaß, ihr beiden, und macht keinen Unsinn.“

Zuhause beziehe ich Posten am Fenster und beobachte Körners Haus, in der Hoffnung… tja, in der Hoffnung auf was eigentlich? Lange passiert nichts, dann wird von innen die Haustür geöffnet. Eine alte Dame, vermutlich Körners Mutter, geht langsam mit verschränkten Armen bis zur Gartentür, bleibt eine Weile dort stehen und sieht die Straße hinauf. Dann kehrt sie um und verschwindet wieder im Haus. Der Vorgang wiederholt sich ein paarmal, bis endlich gegen 21 Uhr ein Taxi vorfährt, dem Körners Frau entsteigt. Ich greife mir das Fernglas, das ich bereitgelegt habe und versuche, an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, wie es um meinen Nachbarn steht. Die Haustür geht wieder auf und die alte Dame erscheint. Sie lächelt und schließt ihre Schwiegertochter in die Arme. Beide wirken fröhlich und mir fällt ein Stein vom Herzen. Das sieht gut aus. Schwein gehabt.

„Hassan, sen neredesin! Tembel adam!“ Hassans Mutter hat eine sehr spezielle Stimme, mit der man zur Not Brot schneiden könnte.
„Ben anne gel!“ ruft Hassan zurück. „Meine Mutter will was von mir, Leute. Laßt es euch schmecken, ich bin gleich wieder da.“
Der lange Plastiktisch biegt sich buchstäblich unter den vielen Tellern mit duftendem Hammelfleisch, Fladenbrot, Hirtensalat, Kebap und Reisgerichten. Hassan feiert, er wird 29 Jahre. Der Zufall will es, daß sein Geburtstag auf den heutigen Samstag fällt und so wird auf dem Grillplatz bei schönstem Wetter unter tiefblauem Himmel gefeiert. Noch immer treffen im Minutentakt neue Gäste ein, sogar Hassans Chef, der Besitzer des Autohauses ist mit seiner Familie gekommen. Er hat es sich nicht nehmen lassen, eine kleine Rede zu halten, in der er Hassan über den grünen Klee gelobt und der gesamten Familie Düsenkalkar zu ihrem erfolgreichen Sproß gratuliert hat. Als Geburtstagsgeschenk überreicht er Hassan eine Armbanduhr der Marke Duhastesgeschafft, was den anwesenden geschätzten 500 Mitgliedern des Düsenkalkar-Clans ein kollektives Beifallgebrumm entlockt.
Manni, der in Begleitung Rosys, seiner neuen Flamme, gekommen ist, hat nur Augen für sie. Er gibt sich mächtig Mühe mit ihr, flucht nur noch selten und gibt, seit sie zusammen sind, den Kavalier alter Schule. Oder was er dafür hält.
„Mach doch mal’n Foto, Manni“, schlägt sie vor. „Ist doch so schön gerade. Da hinten, vor dem Porsche, der paßt genau zu meinem neuen Kleid.“
Zuerst macht Manni einige Aufnahme von Rosy, dann gibt er mir die Camera, und ich knipse die beiden, die engumschlungen posieren. Zum Schluß bitten wir einen der Gäste, uns drei zu fotografieren. Als wir uns die Aufnahmen ansehen wollen, hat Manni eine Eingebung. Er verschwindet in einem der großen Zelte.
„Was macht er denn?“ fragt Rosy.
„Keine Ahnung.“ Wenige Sekunden später dringt ein unterdrückter Freudenschrei aus dem Zelt, gefolgt von einem Schwall schwer zu verstehender Worte. Es klingt wie - Beckmann, du Arsch, du wirst berühmt! Ich kann’s kaum glauben, Scheiße! - oder so ähnlich. Als Manni wieder rauskommt, hält er seine Kamera triumphierend hoch wie ein Goldgräber sein erstes Nugget.
„Was ist denn mit dir los?“ fragt Rosy entgeistert.
„Sag ich dir später, jetzt muß ich erstmal mit Harald reden. Komm mit ins Zelt, Alter, ich zeig dir was richtig Schönes, hatte ich total vergessen, ist noch komplett auf der Kamera.“ Dann, im Zelt: „Hast du schon mal was auf YouTube hochgeladen?“ Ich verstehe gar nichts, bis er mir den Monitor hinhält.
„Von wegen letzte Kopie! Warum bin ich da bloß nicht drauf gekommen? Hier ist alles noch drauf!“ jubelt Manni. „Aber diesmal keine Experimente, keine Scheißerpressung und kein Nasenkram oder so – zuerst schicken wir’s der Zeitung und dann kommt YouTube, was meinst du?“
„Genau! Landrat? – Lächerlich! Aber auf keinen Fall ein Wort zu Rosy!“
„Logo.“
Hoffentlich.

 

Hallo harrytherobot,

herzlich willkommen hier!

Ja, bin ich in Humor? fragte ich mich nach den ersten Zeilen und musste direkt oben auf die Rubrik-Info schauen. Sehr lustig geschrieben, aber wo bleiben Mord und Totschlag?

Gut, dass dann bald Manni anrief. „Die Bullen sind bei mir. Ich bin auf’m Scheißhaus …“

Aha, es geht los. Aber 19 Seiten! Ist der wahnsinnig? dachte ich, aber ein Blick auf dein Nick klärte mich auf. Na, klar.
Und die 19 Seiten habe ich mit Spannung und Vergnügen gelesen. Krimis müssen ja nicht staubtrocken sein.

Der Erzähler ist, milde ausgedrückt, sehr mitteilsam. Einige scheinbar lose Fäden fügen sich gegen Ende wieder zusammen, aber nicht alle. Z.B. die Musikanten in der Nachbarwohnung, die blutige Haarlocke von dem „Dashassenudavon“ (oder so ähnlich)und überhaupt, was hat der Verrückte da zu suchen? Auch die wiederholten Begegnungen mit dem Sohn des Stadtrates machen für die Kriminalgeschichte nicht wirklich Sinn.
Okay, das Ganze ergibt eine Art Milieu-Bild. Und wie gesagt, ist der Text vergnüglich zu lesen. Ich bin mit mir uneins, ob da radikal gekürzt werden sollte oder nicht. Vielleicht gibt es ja bald noch andere Meinungen dazu.

Ich träume oft davon, ihn mit Opas alter Schrotflinte von seinem lustigen kleinen Trecker zu blasen.
:rotfl:

Lieben Gruß und frohe Ostertage

Asterix

 

Hallo Asterix!
Vielen Dank für deine Kritik. Ich habe mich auch schon gefragt, ob ich meine
Geschichte in der richtigen Rubrik veröffentlicht habe. Die Sache mit der Nase ist die erste einer Reihe von Kurzgeschichten aus dem Dingeskirchener Kleinstadtuniversum mit den beiden Protagonisten Harry und Manni. Bisher existieren 4 dieser Kurzgeschichten, in denen einige Fäden (der Sohn des Bürgermeisters usw.) wieder weitergesponnen werden. Vermutlich gehören die Stories tatsächlich eher in die Abteilung Humor, oder was meinst du? Ich bin mir da nicht sicher und würde mich über Vorschläge freuen. Schön, das sie dir gefallen hat, und konstruktive Kritik ist mir immer willkommen.

Schöne Grüße
harrytherobot

 

Hallo harrytherobot

Da deine Geschichte bei Asterix auf Anhieb gut angekommen war, weckte es meine Neugierde.
Dass der Krimi auf einer Humorschiene fährt, war ich ja bereits gewarnt und dachte es muss nicht falsch sein. Trotz eher abschreckendem Einstieg wirkte es mir sehr flüssig geschrieben, von dem her fand ich es angenehmen. Doch irgendwann, ungefähr gegen die Hälfte, als ich merkte, dass ich nur noch zwanghaft den Stoff reinzog, warf ich das Handtuch. Es war mir da ein zu viel an Nebensächlichkeiten, die mir in einer Kurzgeschichte eher wie Ballast wirkten. Auch ging mir das „Mein kleiner Mann“ zunehmend auf den Keks, als ob ein Störenfried da dauernd dreinredet. Als Kürzel MkM erschien es mir dann endgültig wie eine Comic-Strip-Figur.

Wahrscheinlich bin ich einfach der falsche Leser für diese Geschichte, die mich an einen Gustl-Bayrhammer-Krimi erinnerte, dessen Folklorestil ich wenig abgewinnen konnte. Soweit ich es gelesen habe, war mir die Ausgestaltung als Krimi noch schwach und eigentliche Spannung trat mir nicht auf, was im fortfolgenden Teil sich vielleicht geändert hätte. Hätte ich mich als Leser unter dem Vorzeichen Humor dem angenähert, wäre es auch nicht mein Ding geworden, da mich solcher eher in seiner feiner Artung anspricht.

Meine Meinung ist eine sehr persönliche Wertung, die nicht dem gängigen Mainstream entsprechen muss, aber ich wollte es dir nicht vorenthalten, warum mein ansonsten zäher Durchhaltewillen dennoch absackte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon!
Tut mir leid, dir deine Zeit gestohlen zu haben, aber vielleicht gefällt dir ja eine der anderen Geschichten aus Dingeskirchen, die demnächst folgen werden.Wenn nicht (womit ich fast rechne), kann man nix machen.Trotzdem Danke für deine Reaktion.

Grüße
Harrytherobot

 

Hallo harrytherobot,
auch ich war neugierig auf "Geschichten aus Dingeskirchen" - mir hats sehr gut gefallen, habe mehr gelacht als mich gegruselt und denke rubrikmäßig gehört die Geschichte warscheinlich am besten in `Sonstiges`.
Freue mich auf mehr aus Dingeskirchen, hoffentlich schon bald
Grüße von rotundschrill

 

Hallo rotundschrill!
Herzlichen Dank für deinen ebenso kurzen wie erfreulichen Kommentar! Es stimmt wohl, anscheinend hab ich mich hier gleich am Anfang verlaufen und die falsche Rubrik angesteuert. Die echten Krimifreunde werde ich vermutlich nicht zufriedenstellen können. Im Grunde sind die Geschichten aus Dingeskirchen Millieudarstellungen, die lediglich mit einer Prise Verbrechen und einer Portion Humor angereichert sind, und hier nur auf wenig Gegenliebe stoßen werden. Ich lese mit Vorliebe Thriller und ähnliches (Mo Hayder, Jack Ketchum usw.), aber ich wollte diese Stories dort ansiedeln, wo ich mich auskenne, in einem Umfeld, das mir vertraut ist. Einiges von dem, was meine 'Helden' erleben, hat sich so oder so ähnlich tatsächlich ereignet. Das die LiebhaberInnen der härteren und reineren Krimikost sich dabei öfter mal langweilen - na ja, eigentlich kann ich's gut verstehen. Umso mehr freue ich mich über deine Aufmunterung. Schön, daß es dir gefallen hat!
Herzliche Grüße
harrytherobot
P.s.
Ich fänd's gut, wenn mir mal jemand sagen könnte, wie ich 'Die Sache mit der Nase' in eine andere (und welche) Rubrik stellen kann. 'Sonstiges' klingt in der Tat nicht schlecht. Also: KANN MIR JEMAND EINEN TIP GEBEN? Danke im Voraus.

 

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