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Geschichten aus dem Himmel: Ying und Yang
„Wollen Sie die Seelen quälen?“, fragte Petrus, der ein kariertes Sakko zur Arbeit trug und nun fragend durch seine Nickelbrille dreinschaute.
„Die Schranken sind gefallen! Einwanderung ist ab sofort erlaubt! Vorbei sind die Zeiten der Selektion! Mein Reich ist gekommen!“ Gott sprach diese Worte mit ausgebreiteten Armen und einem Funkeln in den Augen zum Türsteher an der himmlischen Pforte. Er war auf die Idee gekommen, den Himmel für jeden zu öffnen. Warum sollte er nur gläubigen Christen vorbehalten sein? Protektionismus war aus der Mode gekommen und in Zeiten, da ein harter Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt der Seelen tobte, musste man umdenken.
Sowieso hatte Gott in junger Vergangenheit immer wieder Klagen der Menschen belauscht, die Christen seien in ihrer Denkweise dogmatisiert. Das war keine gute Werbung für seinen Himmel, der ja quasi das Urlaubsdomizil nach einem arbeitsreichen Leben für die Seelen sein sollte.
„Wir können es uns nicht leisten, eine geschlossene Gesellschaft zu sein, Petrus. Man munkelt bereits, dass wir etwas zu verbergen hätten. Oder dass wir Lobbyisten wären, die einzig die Interessen der über zwei Milliarden Christen vertreten. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt für einen Gott, doch ein großer für die Menschheit, wenn endlich Grenzen fallen und das Gefühl der Freiheit die Menschheit eint!“
„Ich verstehe Sie ja durchaus, mein Herr. Ein wunderbarer Gedanke, den Sie aussprechen. Erinnert mich an ein Gespräch, dass ich letztens erst mit John Lennon auf Wolke 327…“
„Der gute John!“, rief Gott. „Eine reine Seele, wohl wahr. ‚Imagine all the people…’ So stelle ich mir das vor! Was meinst du, Petrus?“
Petrus rückte sein Sakko zurecht und strich sich durchs Haar. Er räusperte sich und sagte dann, seine Worte abwägend: „Was wäre die Welt ohne Ideale? Ein trauriger Ort der Hoffnungslosigkeit. Eine schwarzer Platz, dem das Licht der Sehnsucht fehlen würde. Golden hingegen wäre das Zeitalter, in dem eine mächtige Person edel und weise zu herrschen versteht, mit kluger Hand die Spreu vom Weizen trennt und somit sichert, dass weder handgreifliche Personen noch solche mit dunklem Herzen die Harmonie der Gemeinschaft überschatten.“
Gott hielt eine vorbeischwebende Schleierwolke an und setzte sich auf sie. Petrus Worte klangen überlegt, wohl gewählt, doch hatten sie einen Beigeschmack, der seiner Philosophie von einer geeinten Menschheit im himmlischen Reich widerstrebte.
„Wir können doch nicht willkürlich diese von jenen unterscheiden und so Menschen erster und zweiter Klasse schaffen, Petrus! Was wäre ich für ein Gott, der so dächte? Ein strafender und antiquierter. Nein, jeder soll die Pforte nun durchschreiten dürfen, gleich welchen Glauben er hat. Der Glaube ist es doch, der uns eint! Und auch jene, die verneinen, die Atheisten, sie glauben doch ebenfalls, auch wenn es nichts ist! Stell dir das vor Petrus: Siehst du nicht schon die Menschen gleich einem steten Fluss strömen, ein Lächeln auf dem Gesicht wie glitzernde Lichter auf einer von der Sonne beschienenen Wasserfläche?“
Petrus hatte eine gute Vorstellungsgabe. Er sah sich schon dasitzen an der Pforte, vierundzwanzig Stunden bei Gluthitze und frostiger Kälte arbeiten. Keine besonders schöne Vorstellung, wie er fand. „Sie haben also vor“, begann er erneut, „die Religionen dieser Welt im himmlischen Reich zu vereinen, keinen Unterschied mehr zu machen zwischen den Menschen, seien sie noch so gut oder noch so schlecht?“
„Genau so ist es!“, strahlte Gott.
Petrus hatte da so seine Zweifel. Die anderen Götter würden entweder erzürnt sein über diese Art unlauteren Wettbewerbes oder vor Freude jauchzen, endlich von den Pflichten des Gottseins erlöst zu sein. Manch einen sah er schon beim Golfspielen auf den Elysischen Gefilden. Derlei Argumente aber würden seinen Herrn nicht abhalten, den Plan in die Tat umzusetzen. Also musste er es andersherum versuchen, ihn von dieser Idee abzubringen: „Schauen Sie, ein solches Vorhaben ist einmalig. Es gibt keinerlei Vergleichswerte oder Präzedenzfälle. Ein Mammutprojekt wäre es in jeglicher Hinsicht. Wir müssten eine neue Bürokratie erfinden, um nicht die Übersicht zu verlieren. Unsere Logistik müsste generalüberholt werden, um den Andrang Herr zu werden. Dafür ist unsere Infrastruktur momentan nicht ausgelegt, geschweige denn unsere Versorgungsmöglichkeiten. Wo sollen all die Menschen essen, wo wohnen, wo schlafen? Denken Sie nur an die unterschiedlichen Mentalitäten. Welcher Islamist wollte schon neben einem Kreationisten leben? Latentes Gewaltpotential könnte sich schlagartig entfalten. Für Großveranstaltungen dieser Art ist der Himmel einfach nicht ausgelegt. Unsere Kapazität von zwei Milliarden Seelen würde gesprengt. Überlegen Sie es sich noch einmal, mein Herr.“
Petrus glaubte, faktische Argumente geliefert zu haben, die selbstverständlich überzeugen. Nicht umsonst hatte er während seiner Jüngerzeit neben Religion auch Jura und Wirtschaftslehre studiert.
Gott aber winkte ab. „Du bist mein bester Mann! Es sollte kein Problem darstellen. Schließlich hast du deinen Urlaub für dieses Millennium bereits verbraucht und so viel Zeit übrig.“
Petrus erinnerte sich. Er war unerlaubterweise auf ein ‚No Angels’-Konzert gegangen und wurde erwischt. Doch das war jetzt nebensächlich. Vielmehr musste er einen Weg finden, all die zukünftige Arbeit und Bürokratie – wie er sagte – zu verteufeln.
„Was ist aber mit jenen, die im himmlischen Reich Scheiße… ich meine: wackelige Idealgebäude bauen? Was, wenn jemand auffällig wird, eine Wolke beschädigt oder einen Stern vom Himmel klaut? Oder die Gebote nicht ehren will? Dann muss uns doch die Option bleiben, ihn wieder aus dem himmlischen Reich zu verbannen, meinen Sie nicht?“
„In dieser Frage gehen unsere Meinungen wohl auseinander, Petrus. Jeder hat eine zweite Chance verdient.“
„Aber aus Erfahrung wissen wir doch, dass sich ein solcher Verstoß auch bei der zweiten Chance wiederholen kann. Wir müssen das hart regeln. Solche Personen müssen abgeschoben werden!“
Zwar bedeutete das wieder viel Papierkram, wusste Petrus. Aber immer noch weniger als immer wieder wegen irgendwelcher Delikte Berichte schreiben zu müssen.
Gott dachte nach. Sicherlich war Petrus anderer Meinung. Wie auch sollte er verstehen, dass im Grunde alle Menschen gleich sind. Solch eine tiefe Einsicht war einzig und allein denen vorbehalten, die über die vielen Fehler und Differenzen hinweg das große Ganze sahen. Er könnte jetzt einfach Gott sein und seine unfehlbare Entscheidung treffen, aber das widerstrebte seiner Idee. Er wollte kein Diktator sein, sondern gerecht und demokratisch. Also entschloss sich Gott zu einer weisen Entscheidung. „Sollen die Menschen selbst entscheiden, was sie wollen. Wir werden ihnen das himmlische Reich anbieten und die Möglichkeit geben, hier zu leben.“
Petrus nahm seine Nickelbrille ab und lächelte. „Eine weitsichtige Entscheidung, mein Herr…“
Jesus und Maria saßen in der Küche zusammen und redeten.
„Was willst du nur aus deinem Leben machen, Jesus?“, fragte sie besorgt. „Du hattest lange Zeit, darüber nachzudenken. Nun aber will ich eine Entscheidung hören.“
Jesus verschränkte die Arme vor dem Bauch. Immer wieder dieselbe Frage. Warum sollte er eine solch wichtige Entscheidung übereilt treffen? Gut, er hatte tatsächlich mehrere Monate Zeit gehabt. Aber wie sollte man innerhalb weniger Monate entscheiden, was man viele Jahre seines Lebens machen wolle? „Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich mich in einer Findungsphase befinde!“, schob Jesus eine Erklärung vor, von der er hoffte, seine Mutter würde sie akzeptieren.
„Junge, du befindest dich seit Monaten auf einem Selbstfindungstrip. Hier mal ne Reise nach Woodstock, da mal einen Joint für zwischendurch…“ Sie kratze sich an der Stirn. „So ziemlich jeder hatte solche Phasen in seinem Leben. Es ist nicht verwerflich, gerade in unserer heutigen Zeit nicht mehr. Und auch vor hunderten von Jahren haben Menschen die gleichen Dinge gemacht wie du. Nur immerzu kann es nicht so weitergehen, verstehst du? Entscheide dich bitte…“ Maria sah die lässige Haltung ihres Sohnes und das müde Lächeln. „Jetzt und sofort!“
Jesus Augen waren gerötet. „Hat das nicht bis Morgen Zeit?“
„Nein, hat es nicht!“
„Was gibt’s eigentlich zu essen?“
„Du kannst dir in Zukunft Erbsensuppe bei den freiwilligen Helfern holen, Sohnemann!“
Auf einmal durchfuhr es Jesus wie ein Blitz. Das war doch die Idee! Lange Zeit hatte er gegrübelt, wie er Nützliches mit Hilfreichem verbinden könne. Dass gerade seine Mutter ihn auf diesen Einfall gebracht hatte, war schon komisch, aber auch passend. Während sie nämlich das Nützliche brachte, hatte er sich hilfreich betätigt, der fünfblättrigen Pflanze einen Existenzsinn zu geben. Die Verschmelzung von beidem war einfach genial!
„Ich weiß jetzt, was ich mache!“, meinte Jesus. „Ich werde Zivi!“
„Gibt es hier was umsonst?“, fragte Herkules, der seinen Freund Jesus besuchen wollte, einen bärtigen Mann mit Turban.
„Allah ich suche!“, meinte dieser.
„Da bist du aber irgendwo falsch abgebogen.“, sagte Herkules. „Hier findest du höchstens ‚Alla-Heiligen’!“
„Allah heilig, jaja!“
Herkules schmunzelte. „Ey, kennst du den? Treffen sich zwei Gläubige. Sagt der eine: ‚Mein Gott ist so groß, er steht mit einem Bein im Atlantischen und mit dem anderen im Pazifischen Ozean und hält in seinen Händen zwei Planeten!’ Sagt der andere: ‚Das sind keine Planeten: Das sind die Eier meines Gottes!’ War der nicht gut?“
Der Mann im Turban lachte mit Herkules: „Ja, gut - gut, gut!“
„Deine Mutter ist so riesig, die hat letztens erst die Miss-Universum-Wahl gewonnen…“, sagte Herkules mit freundlichem Gesicht.
„Ja, ja – gut, gut!“
„Also, mach es gut, mein Freund. Und grüß deine Mutter von mir!“ Herkules verabschiedete sich.
„Wenigstens habe ich nicht einen Stier zum Vater!“, sagte der Mann auf Hebräisch, ebenfalls lächelnd. Er amüsierte sich immer sehr, wenn die jungen Leute glaubten, sie seien so klug und überlegen.
Herkules indes dachte nach. Es machte ihn stutzig, dass hier solch ein Andrang herrschte. Selbst bei seinem letzten Besuch auf dem Kiez hatte er nicht eine solche Vielzahl verschiedener Menschen erlebt. Er sah kahlköpfige in orangefarbenen Mönchskutten und solche mit Tierhäuten und Federschmuck im Haar. Sie bildeten eine lange Schlange, welche direkt auf die am Horizont stehende Himmelspforte zuzuführen schien.
Er machte sich auf den Weg und hörte die Menschen in allen nur erdenklichen Sprachen und Dialekten reden.
Dort angekommen, drängelte er sich in die Reihe ein. Ein Engländer nickte Herkules freundlich zu. „Du bist echt gut. Machst das bestimmt schon lange. Meinen Respekt, du hast Talent. Bitte, bitte, hier: ich mache dir Platz. Solchen Menschen muss man die Ehre erweisen.“
Herkules wusste nicht, was der Engländer meinte. „Wie bitte?“, fragte er.
„Fantastisch. Mit welcher Lockerheit und Eleganz sie drängeln. Dies ist eine Schlange. Aber tun sie sich keinen Zwang an, stellen sie sich nur an den Anfang. Wie gesagt, sie haben Talent!“
Herkules wurde es zu bunt. „Hey Petrus!“, rief er. „Dieser Engländer macht Stress.“
Petrus kam an. „Wer? Was hat er gemacht?“
Herkules überlegte kurz. Dann sagte er: „Er hat gedrängelt!“
„Das ist nicht wahr! Ich bin Engländer. Engländer drängeln nicht!“
Petrus war genervt. „Okay, du stellst dich wieder hinten an!“, sagte er zu ihm.
„Aber das ist nicht gerecht. Ich warte schon so lange! Ich habe mich schon so auf das versprochene Freibier hier gefreut.“
„Dann wird es dich sicher noch mehr freuen, wenn du noch ne Zeit drauf wartest.“, meinte Petrus. „Vorfreude ist doch die schönste Freude! Außerdem ist das Bier immer noch gut gekühlt und mit frischem Schaum gekrönt. Das ist doch eh nichts für euch Engländer…“
Und so musste er sich wieder hinten anstellen.
Herkules indes ging zu Jesus Zimmer. Er trat ein, doch es war leer. Er machte sich auf die Suche und fand ihn schließlich auf den Wolkenfeldern.
„Hey Jesus, was machst du denn hier?“, fragte er.
„Siehst du doch!“, maulte Jesus und schlug seinen Hirtenstock auf. „Die Schäfchenwolken hüten!“
„Hast du schlechtes Kraut geraucht? Seit wann machst du denn so was?“
„Seit ich meiner Mutter erzählt habe, ich wolle Zivi werden.“
„Ich verstehe nicht…“
„Sie nervte wieder tierisch: ‚Was willst du werden?’ Die typische Leier. Ich so: ‚Zivi!’ Und dann meinte sie: ‚Okay, dann kannst du ja gleich mal einen Dienst leisten!’ Und jetzt sitze ich hier seit drei Vollmonden und langweile mich zu Tode.“
Herkules schüttelte den Kopf. „Mensch, das nenne ich mal Folter. Wir müssen unbedingt was unternehmen, sonst penn ich hier noch ein. Lass uns ins Kino gehen!“, schlug er vor.
„Und in welchen Film?“
„Wie wäre es mit ‚Die Passion Christi’? Trifft die Situation hier recht gut, findest du nicht?“, grinste Herkules schadenfroh.
„Dann doch lieber ‚Troja’! Schauen wir zu, wie sich die Griechen die Köpfe einschlagen. Dann muss ich es nicht mit einem tun, der gerade ziemlich nervt!“
„Lassen wir das mit dem Kino. Schließlich leben wir hier im alten Europa und brauchen keine stumpfe Bilderwelt aus Übersee, oder?“
„Hast Recht! Aber was sollen wir dann tun?“
„Ich habe eine Idee! Du bist ja quasi zur Arbeit verdammt worden, nicht?“
„Das ist richtig. Danke, dass du mich immer wieder erinnerst.“
„Pass auf: Was haben wir Morgen für einen Tag?“
„Den gleichen Tag wie letztes Jahr um diese Zeit…“
„Ernsthaft jetzt!“
„Den 1. Mai.“
„Genau! Und was sagt uns das?“
„Das wüsste ich auch gerne.“
„Hey, das ist doch der Tag der Arbeit… und es steigt ne Megaparty in Berlin!“
Jesus Gesicht hellte auf. „Du bist ein Genie! Also: Worauf warten wir noch…“
Die beiden machten sich vom Acker und kamen per Teleportsystem in der Spreestadt an. Viele Menschen zogen durch die Straßen. Die Freunde waren inmitten einer Demonstration geraten.
Herkules fragte einen der Jugendlichen mit hochgestellten Haaren: „Was geht denn hier ab?“
„Kommst du von einem anderen Planeten?“, fragte der Punk zurück. „Hier ist heute die Hölle los. Die Grenzen zu Polen und Tschechien fallen um Mitternacht. Europa wird größer! Das gilt es zu feiern!“
„Aber warum sehen viele hier so wütend aus, wenn es was zu feiern gibt?“
„Das ist jedes Jahr dieselbe Scheiße! Die Skins machen Randale! Und dieses Jahr ist es schlimmer denn je! Da müssen wir was gegen unternehmen! Menschen aller Völker, vereinigt euch!“
„Aha…“, sagte Herkules.
„Hey, du siehst so aus, also wolltest du bestimmt nen Zug von meiner Zigarette…“ Der Punk reichte Herkules die Tüte.
„Danke, aber mein Freund hier sicherlich.“ Er deutete auf Jesus.
„Wie heißt du denn, Alter?“, fragte der Punk.
„Jesus… und selbst?“
„Mein Gott, dir fehlen echt nur noch die Sandalen.“ Er reichte ihm den Joint.
Jesus verstand die Anspielung zwar, aber das war auch egal. „Ich musste die ganze Zeit Schäfchenwolken hüten, du verstehst…“, sagte er ironisch. Die Glut glühte hell auf in der blauen Berliner Stunde. „Gutes Zeug“, meinte Jesus.
„Klar, ist ja auch aus Holland. Kennst du Coffeeschops da oben in deinem Himmelsreich?“
„Vom Hörensagen…“, schmunzelte Jesus, in dem die Bilder der Erinnerung aufstiegen.
„Ja Mann, Berlin ist schon ein krasses Pflaster. Am Puls der Zeit. Mittendrin statt nur dabei, verstehste?“
Plötzlich wurde es laut, und Sekunden später schwappte eine Welle aus rennenden Punks die Straße entlang. „Die Skins sind da!“, rief der Punk. „Jetzt heißt es: Die oder wir! Kommt mit, das wird ein Höllenspaß!“
Herkules und Jesus schauten sich an. Das wollten sie sich nicht entgehen lassen.
Als sie an einem Platz ankamen, sahen sie das Spektakel: In der Mitte stand ein brennendes Auto, über das aus beiden Seiten Steine und Flaschen geflogen kamen. Wilde Schreie ließen die Luft erzittern.
„Das geht ja hier ab wie in Thessalien!“, meinte Herkules.
„Die sollten alle mal mehr Dope rauchen!“, sagte Jesus. „Das beruhigt die Nerven.“
„Oder die haben zuviel geraucht und jetzt alle ne Massenpsychose!“
„Kann man zuviel Dope rauchen?“
„Nicht nur Mann…“, meinte Herkules, als er eine aufgebracht schreiende Frau mit einer Steinschleuder in der Hand sah. „Mensch Mädel, wollen wir es nicht mal auf die südländisch-griechische Art versuchen?“
Sie drehte sich schlagartig um. „Redest du mit mir?“
„Kann sein…“
„Rede nicht, sondern handle! Worte sind nur Schall und Rauch, Steine machen Schall und Rauch!“
„Bist du grad in so einer bestimmten Monatsphase?“, meinte Herkules und erntete böse Blicke.
„Willst du mich anmachen?“, schrie sie harsch.
„Ruhig Blut“, grinste der Grieche. „Wenn du verstehst, was ich meine…Dann hätte sich meine Frage nämlich erledigt.“
„Fragen stellen nur Schwachköpfe. Schau dich doch mal um. Hier wissen alle, wofür sie stehen und wofür sie kämpfen! Keiner stellt mehr Fragen, wo die Antwort doch im Kampf liegt. Wir folgen unserer Überzeugung! Gemeinsam sind wir stark! Zusammen verkörpern wir die Idee von einer Welt ohne Parolen und Bomberjacken! Die Chance liegt in unserer Kraft! Mit geballter Faust gegen alle, die uns mit Springerstiefeln treten! Sie haben kein Recht in dieser Welt! Sie müssen geschlagen werden! Vernichtend geschlagen werden!“
Herkules hörte die Worte mit schwerem Herzen. Aus ihnen loderte heißer Hass, blinde Wut und verzehrende Gewalt. So hatte er sich die Party in Berlin nicht vorgestellt.
Er redete mit Jesus, und sie beschlossen, auf die andere Seite des Schlachtfeldes zu gehen, um zu sehen, was sich dort abspielte.
Hier sahen sie viele mit Tüchern maskierte Jugendliche, die Runenfahnen schwenkten und mit erhobener Hand sich gegenseitig anheizten, noch schwerere Steine zu schmeißen. Sie sahen Flaschen, an denen Köpfen Stofffetzen brannten.
Auch hier sprachen sie mit einigen Leuten. Sie hörten im Grunde immer wieder die gleichen Phrasen, die gleichen Sprüche wie auf der anderen Seite. Ein wahrer Teufelskreis aus Missverständnis, fehlgeleiteter Ideologie und bisweilen geschundenen Seelen.
Sie entschlossen, aus Berlin zu verschwinden. Die Stadt war in diesen Tagen schlimmer als die Hölle.
Als sie wieder im Himmel ankamen, war die lange Schlange vor der Himmelspforte verschwunden. Die beiden schauten sich fragend an und gingen dann zu Petrus. „Wo sind denn alle hin?“ Jesus war verdutzt.
„Es ist gekommen, wie ich es befürchtet hatte. Es gab Streit zwischen den Seelen, wer nun wo im Himmel wohnen dürfe. Manche Menschen werden sich nie ändern…“, meinte Petrus traurig. Zwar hatte er nun, was er anfangs wollte, aber dass dies mit eben jener Erkenntnis einhergehen musste, war schon deprimierend.
„Das Leben besteht nicht immer nur aus Spaß.“, sagte Jesus, in Gedanken immer noch auf der Erde. „Auch solche Erfahrungen machen wir.“
„Wohl wahr“, sagte auch Herkules. „Ich mag es zwar nicht, wenn es traurig endet, aber wir können es uns nicht immer aussuchen.“
„Auf Regen wird Sonne folgen, ihr beiden.“, sagte Petrus. „Das nächste Mal wird alles anders…“
Gott saß in seinem Arbeitszimmer, das im Halbdunkel lag. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Die Menschen waren immer noch zu menschlich, um seinen Traum mit ihm zu teilen...