Geschichte
Lena geht allein durch die Dunkelheit. Der Regen rinnt ihr Gesicht herunter und tropft auf ihren Pullover. Ihre Schritte hallen von den Häusern wieder, ihr Atem verwandelt sich zu weißen Wolken. Im Licht der Straßenlaterne sehen die Regentropfen aus wie kleine Silberpfeile.
Sie vergräbt ihre roten, steifen Hände in den Taschen des Pullovers, zieht sich geräuschvoll die Nase hoch und versucht, nicht zu weinen. Es nützt nichts. Obwohl niemand ihre Gesichtzüge erkennen kann, weil sie im Schatten der Kapuze liegen, wischt sie sich energisch die Tränen weg und beschleunigt ihre Schritte. Jetzt ist Lenas Blick nicht mehr auf den Asphalt, sondern auf eines der Häuser vor ihr gerichtet. Es ist schwarz angestrichen und passt überhaupt nicht in das biedere Wohngebiet. Sie starrt auf ein erleuchtetes Fenster und bleibt einen Moment zögernd stehen, bevor sie sich umsieht und dann vorsichtig näher kommt. Lena späht nach innen und für eine halbe Sekunde scheint es, als würde ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Sie klopft leise gegen die Scheibe und winkt kurz darauf. Das Fenster wird leise geöffnet.
„Ach du scheiße“, sagt Marcel und streckt ihr seine Hand entgegen, um ihr herein zu helfen. Sie stellt ihren Fuß auf das Fensterbrett und zieht sich an ihm hoch, aber sie rutscht ab und schlägt sich das Knie auf. Sie verkneift sich einen Schmerzenslaut und nimmt einen zweiten Anlauf. Jetzt klappt es. Sie zieht sich ins Zimmer, bleibt noch einen Moment zwischen draußen und drinnen sitzen und springt dann in die stickige Wärme.
Marcel macht hinter ihr das Fenster zu und schließt die Tür ab, damit nicht einer der anderen WGler herein platzt. Um ihre Füße herum hat sich eine kleine Pfütze auf dem Fußboden gebildet. Sie starrt auf ihre Schuhe.
„Du musst das endlich mal regeln, Lena“, sagt Marcel, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und küsst sie. Sie schaut ihm nur widerwillig in seine blauen Augen.
„Regeln? Wie denn, bitte?“
Er seufzt, geht zu seinem Schrank und fördert aus dem Chaos ein Sweatshirt und ein Handtuch hervor. Sie fragt sich, warum er ein Handtuch in seinem Schrank hat. Es scheint so, als habe er sich auf so eine Situation vorbereitet. Vielleicht hat er schon lange gewusst, dass sie sich einmal wegen ihm einen endgültigen Streit mit ihren Eltern liefern würde und dass sie dann bei ihm auftauchen würde.
Er ist inzwischen bei ihr angelangt, zieht ihr den Pullover über den Kopf und stülpt ihr das Sweatshirt über. Dann hält er ihr das Handtuch hin. Sie nimmt es und beginnt, sich die Haare trocken zu rubbeln. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass er die Heizung aufdreht, damit sie keine Erkältung bekommt.
Als sie einigermaßen trocken ist, nimmt er sie in den Arm und sie kuschelt sich an ihn. Seine Finger gleiten unter ihr Sweatshirt und streicheln sie zärtlich. Sie könnte ihn jetzt fragen, ob sie bei ihm wohnen kann. Ob sie sofort abhauen- und sich irgendwo eine Wohnung suchen können. Vielleicht reicht es auch, wenn sie ihn fragt, ob er gerne immer mit ihr zusammen sein würde. Dann würde sie in langsam darauf vorbereiten und in dieser Zeit bei einer Freundin pennen. Aber wahrscheinlich würden bald ihr Eltern vor seiner Tür stehen und dann müsste sie nach Hause zurück.
„Lena“, sagt er leise, „Du könntest ja zum Jugendamt gehen und fragen, ob du in einem Heim wohnen kannst.“
Sie stößt ihn erschrocken von sich und starrt ihn an. Ihr ist es auf einmal flau im Magen. Sie versucht sich einzureden, er habe nur einen Scherz gemacht, aber sein Blick ist vollkommen ernst.
„Du bist ja schon 15, es wären nur noch zwei oder drei Jahre. DU musst wissen, ob es besser ist, mit anderen Jugendlichen oder mit deinen Eltern zusammen zu leben. Du könntest denen vom Jugendamt erzählen, dein Vater würde dich vergewaltigen. Dann siehst du deine Alten eine ganze Weile nicht mehr, auch wenn man später merkt, dass du gelogen hast. Du kannst behaupten, es wäre eine Notlüge gewesen. Oder du könntest sagen...“
Sie fühlt sich leer und ist so erstarrt, dass sie kein Wort über die Lippen kriegt. Es scheint ihr auf einmal so sinnlos! Hat sie wirklich geglaubt, ihm würde etwas an ihr liegen? Ihm ist es doch egal, ob sie zusammen bleiben oder nicht.
Er versucht, sie zu umarmen, aber sie weicht schnell einen Schritt zu rück und starrt ihn an. Sie spürt, dass er erst jetzt unsicher wird. Es interessiert ihn nicht einmal, was sie fühlt und wie es ihr geht! Er wird sie vergessen, sobald sie weg ist, vielleicht wird er sie auch vergessen, solange sie noch da ist. Er wird sein Studium beenden und dann Arzt werden, irgendwo anders, und wenn ihn jemand nach Lena fragt, wird er sagen, er habe nie eine Lena gekannt.
Jetzt starrt er sie genau so an wie sie ihn und sie hört seine unausgesprochene Frage: „Was willst du eigentlich von mir?“
„Du verdammtes Arschloch!“, brüllt sie. Es tut gut. Es ist, als würde sie endlich wieder Luft bekommen. „Ich hasse dich! Du verdammter Egoist!“ Und noch einmal: „Ich hasse dich!“
Sie kann seinen verständnislosen Blick nicht mehr ertragen und überlegt einen Moment, ob sie aus dem Fenster springen soll. Aber dann stampft sie zur Tür, schließt auf, poltert durch den Flur. Herbert steht splitternackt in der Küche und sagt spöttisch: „Oh, là, là! Da ist aber jemand sauer!“
Sie ignoriert ihn, reißt die Tür auf und schlägt sie wenig später so laut hinter sich zu, dass das altersschwache Haus nach allen Regeln der Physik in sich zusammen brechen müsste. Aber den Gefallen tut es ihr nicht.
Es regnet jetzt noch mehr als vorhin. Sie rennt los, irgendwohin. In ihrem Kopf sind so viele Gedanken und Fragen, dass sie nicht eine einzige verarbeiten kann, und so rennt sie einfach nur. Bald ist sie außer Atem und lässt sich einfach fallen. Sie dreht sich auf den Rücken, starrt in den Himmel und bekommt einen Regentropfen ins Auge. Am liebsten wäre es ihr, wenn ein Auto kommen und sie überfahren würde. Aber um diese Uhrzeit ist leider keiner mehr unterwegs.
Lena rappelt sich auf. Sie ist schon wieder durchnässt und der Boden ist eiskalt. Sie braucht eine Weile, um in der Dunkelheit zu erkennen, wo sie sich befindet. Dann geht sie langsam den Weg zurück. Sie schaut das schwarze Haus nicht mal an, als sie daran vorbei geht. Sie denkt sich, dass Marcel es nicht wert ist. Wie konnte sie auf ihn herein fallen?
Eine höhnische Stimme in ihrem Kopf sagt: „Siehst du, Lena, deine Mutter hatte also Recht! Du hättest von Anfang an auf sie hören sollen!“
Ja, ihre Eltern hatten immer recht. Und sie tat nie etwas Richtiges. Sie steht vor ihrem Haus und zögert. Noch kann sie weg gehen, es ist noch nicht zu spät. Sie war es, die ihrer Mutter Unrecht getan hat, nicht umgekehrt. SIE ist schuld an dem Streit und muss sich zumindest entschuldigen. Lena drückt kurz entschlossen auf die Klingel und lauscht dem vertrauten Ton. Lieber hätte sie klammheimlich aufgeschlossen und wäre am nächsten Morgen unschuldig am Frühstückstisch gesessen, aber sie hat keinen Schlüssel mitgenommen, weil sie ja sowieso nie mehr zurück kehren wollte.