Geschenke
Geschenke
"Weißt du eigentlich, was diese Figuren wert sind?"
Ellen Jones hob eine der Porzellanpuppen vom Boden auf und betrachtete sich verbittert das eingeschlagene Gesicht und den fehlenden Arm. Dann wandte sie sich wieder an Dave und der traurige Ausdruck in ihren Augen wich grenzenloser Wut und einem Ausdruck, den Dave bisher bei seiner Mutter noch nie gesehen hatte...und der ihm Angst machte.
"Ich sammele diese Figuren seit ich ein Kind bin, Dave. Verstehst du? Seit über 30 Jahren."
Sie hob die Überreste der Puppe vor Daves Augen, damit er sie besser sehen konnte, und ließ ihren Arm dann wieder kraftlos sinken.
"Seit meiner Kindheit." murmelte sie zu sich selbst und drehte sich zu dem um, was von ihrer Vergangenheit übrig geblieben war.
Dave sah ihr einige Sekunden zu, sah den Schmerz in ihren Augen und erste Tränen, die sich der Willenskraft seiner Mutter widersetzten und die Wangen hinabliefen. Er fand, daß seine Mutter noch nie so verletzt und hilflos ausgesehen hatte. In diesen Augenblicken erinnerte sie ihn in keinster Weise an das starke Vorbild, das er sich in den dreizehn Jahren seines jungen Lebens von ihr geschaffen und zu dem er bisher immer aufgeschaut hatte. An diesem Abend, drei Tage vor Weihnachten, war ihre erwachsene Fassade wie alte Farbe von ihr abgeblättert und hinterließ ein kleines, weinendes Mädchen. Ein Mädchen, das fassungslos vor den weißen und bunten Porzellanscherben im Wohnzimmerschrank stand und seinen Tränen freien Lauf ließ.
Dave senkte seinen Blick zu Boden, zum einen, weil er den Anblick seiner Mutter nicht mehr länger ertragen konnte, zum andern, weil sein Dad aus der Küche zurückkam. In einer Hand trug er einen Handbesen und in der anderen das kleine Kehrblech, das seine Mutter im Küchenschrank verwahrte.
Dave bemerkte, daß sein Vater vor ihm stehen blieb, und obwohl er auf seine Füße starrte, spürte er deutlich die brennenden Pfeile von Glen Jones´ Augen, die bis hinab in seine Seele zu stechen schienen.
Er war versucht, irgend etwas zu sagen. Irgendeine Entschuldigung, von denen er an diesem Abend schon so viele gestottert hatte. Doch noch ehe Dave den Mund öffnen konnte, wendete sein Vater sich wortlos von ihm ab, ging ins Wohnzimmer und begann mit dem Handbesen stumm die Überreste der Porzellanpuppen in der Glasvitrine auf einen bunt schillernden Haufen zu kehren.
Dave stand derweil im Flur, seine Finger spielten nervös miteinander und ein dicker, bitterer Kloß stieg langsam, aber stetig in seiner Kehle hoch.
Das helle Klirren des Porzellans schnitt wie ein scharfes Messer durch den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung hindurch. Dave spürte, daß er seine Tränen nicht mehr lange zurückhalten konnte. Und das nicht zum ersten Mal. Aber es wäre das erste Mal, daß er in Gegenwart seiner Eltern weinen würde.
Er versuchte den erstickenden Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken und seine Tränen zumindest so lange zurückzuhalten, bis ihn sein Dad in sein Zimmer geschickt hatte.
Dort konnte er, ohne in seiner Würde verletzt zu werden, auf seinem Bett liegen und den Alptraum dieses Abends auf sich wirken lassen. Alleine, mit seinen Gedanken...und bitteren Tränen, die sich nicht allein auf diesen fürchterlichen Abend beschränken würden.
Diese Tränen und die Angst, die sie unweigerlich mit sich führten, waren in den letzten beiden Jahren zu einem engen Vertrauten für Dave herangereift. Nicht zum ersten Mal wendeten seine Eltern sich gegen ihn, erstachen ihn mit giftigen Blicken und bedachten ihn mit Worten, die Dave früher nie über ihre Lippen hatte kommen hören. Und diese Augenblicke, in denen Dave innerlich in einem Meer aus Tränen ertrank, nahmen mit zunehmender Dauer zu und wurden intensiver.
Und sie hatten begonnen, als Joey geboren wurde.
Dave hob seinen Kopf, sah seinen Vater, der vor dem Wohnzimmerschrank kniete und die Überreste der stattlichen Porzellanpuppensammlung seiner Mutter auf die Schaufel kehrte. Seine Mutter selbst stand immer noch fassungslos neben der Eingangstür und starrte aus feuchten Augen auf die zerbrochene Puppe, die sie Dave vor wenigen Minuten gezeigt hatte. Dave konnte sehen, daß ihr Kinn bebte und ihre Lippen stumme Worte formten.
Er wußte, wie sehr sie ihre Sammlung geliebt hatte und wie stolz sie darauf gewesen war, wenn sie sie Besuchern hatte zeigen können. Immer wieder waren neue, bunte Figuren dazugekommen; die meisten von seinem Dad, aber einige hatte ihr auch Dave geschenkt. Zum Geburtstag oder Weihnachten, oder auch zum Muttertag.
Dieser wunderbare Traum seiner Mutter war an diesem Abend in wenigen Minuten buchstäblich in tausend Scherben zersprungen.
Sein Blick wanderte weiter zu Joey, der auf einem Sessel saß, die Beine angezogen hatte und seinem Vater aus müden, unwissenden Augen zusah. Dabei kaute er auf seinen Fingern herum, was nicht unbedingt zu bedeuten hatte, daß Joey sich seiner Schuld bewußt war.
Joey kaute immer auf seinen Fingern.
Mit einem Schlag war der fast ununterdrückbare Trieb, hemmungslos zu weinen, verschwunden.
Dave sah seinem kleinen Bruder zu, wie er ruhig und scheinbar teilnahmelos im Sessel saß und seine Finger in den Mund gesteckt hatte, als wäre nicht das geringste passiert. Und plötzlich stahl sich ein anderes Gefühl in Dave in den Vordergrund. Die Angst vor der unweigerlichen Bestrafung seiner Eltern wurde zurückgedrängt und wich etwas, das seinen Ursprung tief in Daves Gedanken hatte...und das an diesem Abend nicht zum ersten Mal versuchte, aus seinem Unterbewußtsein an die Oberfläche zu gelangen.
Zu Anfang, kurz nach Joeys Geburt und Daves erster Bestrafung, war dieses Gefühl nur sehr leise gewesen. Nicht mehr als ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend, und Dave hatte es weitgehend ignoriert. Doch dann war Joey größer geworden, und mit ihm war auch unweigerlich dieses Gefühl gewachsen. Als breitete sich ein schwarzer Fleck mitten in Daves Herzen aus. Ein Gefühl, das Dave schon bald regelmäßig gespürte hatte, wenn er wieder einmal hinter seinem Bruder zurückgestellt wurde, und das schon bald sein gesamtes Denken beherrschte.
Das Gefühl von Haß!
Dave hatte es sich bisher nie eingestehen wollen, das dieses Gefühl wirklich zu solchen Ausmaßen in ihm herangereift war. Dafür war er einfach nicht geschaffen. Er war kein schlechter Junge. Auch wenn seine Eltern ihn das in den letzten Jahren immer wieder hatten spüren lassen.
Er hatte diese Gedanken in seinem Kopf jedesmal, wenn sie wie brackiges Wasser aufgetaucht waren, zu unterdrücken versucht. Doch in den letzten Wochen hatten sie sich immer stärker in den Vordergrund gespielt und waren zu solcher Größe herangewachsen, daß Dave einfach nicht mehr drumherum kam, als sich intensiver mit ihnen auseinander zu setzen.
Und an diesem Abend waren sie schließlich explodiert.
Dave spürte zum ersten Mal den Haß auf seinen Bruder wie flüssiges Gift durch seinen Körper schleichen. Seine Empfindungen, seine Gedanken - alles wurde von den schwarzen Klauen dieses Gefühls berührt und verdorben. Seine Hände ballten sich unweigerlich zu Fäusten, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie den kleinen Jungen im Sessel betrachteten.
Und an diesem Abend, an dem Joey seine Grenzen eindeutig überschritten hatte, stiegen zum ersten Mal fremdartige Gedanken in Daves Bewußtsein auf. Gedanken, die neu und bösartig waren, gegen deren Auftauchen er sich allerdings in keinster Weise wehrte...
"Man könnte glauben, du bist noch ein kleines Kind."
Die tiefe Stimme seines Vaters riß ihn aus seinen Gedanken. Daves Augen wanderten ruckartig von Joey zu Glen Jones, und im nächsten Augenblick sah er in Augen die so voller Enttäuschung und Schmerz steckten, daß es Dave mehr weh tat, als seine weinende Mutter zu betrachten.
Dave mochte seinen Vater. Er liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, denn für ihn war Glen immer eine Art `bester Freund´ gewesen. Seinem Vater konnte Dave alles anvertrauen. Selbst Dinge, die ein Sohn seinem Dad normalerweise nicht sagen würde. Und er wußte, daß er mit seinen Anliegen jedesmal auf offene Ohren und Verständnis stieß. Die anschließenden Gespräche mit Glen - richtige `Vater-Sohn-Gespräche´ - genoß Dave jedesmal in vollen Zügen, und im Laufe der Jahre hatte er sich fest vorgenommen irgendwann einmal genauso zu werden wie sein Vater.
Allerdings waren diese Gespräche zwischen ihnen in letzter Zeit auch immer seltener geworden. Anfangs hatte Dave dieses plötzliche Desinteresse seines Vaters seinem zunehmendem Alter zugeschrieben, denn immerhin war Dave vor drei Monaten bereits dreizehn geworden. Anscheinend fand sein Dad, daß es an der Zeit war Dave nach und nach sein eigenes Leben leben zu lassen und sich nicht mehr um jedes kleine Problem seines Sohnes zu kümmern.
Doch jetzt, da Dave in diese traurigen, fast wütenden Augen blickte, Augen, die jede Freundschaft und Vertrautheit missen ließen, kam er plötzlich zu der schmerzhaften Erkenntnis, daß das Ausbleiben seiner geliebten `Vater-Sohn-Gespräche´ keineswegs auf Daves beginnende Pubertät zurückzuführen war.
In diesen wenigen Sekunden, in denen Dave in zwei völlig fremde Augen blickte, kam er immer mehr zu der Überzeugung, daß sein Vater ihn, ebenso wie seine Mutter, immer mehr hinter Joey anstellte.
Vielleicht nicht so deutlich und lautstark, wie seine Mutter, aber dennoch effektiv und demütigend.
Als Daves Blick auf den schillernden Scherbenhaufen auf dem Kehrblech in der Hand seines Vaters fiel, stieg etwas Bitteres in seiner Kehle auf, und Dave hatte für Sekunden das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Als er seinem Dad wieder in die erzürnten Augen sah, zerbrach seine Selbstbeherrschung wie ein dünner Ast, und Dave ließ seinen Tränen freien Lauf.
Nicht genug, daß er in den Augen seiner Eltern nichts weitere mehr war als das fünfte Rad am Wagen; jetzt demütigte er sich auch noch selbst vor seinem `besten Freund´.
Er stand vor seinem Vater, der ihn immer noch mit einer Mischung aus Wut und Trauer betrachtete, und seine Tränen rannen ihm salzig und kühl die Wangen hinab. Unwillkürlich wich Dave einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stand. Dort hob er seine Arme, wischte sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen und ließ seinen Blick zwischen seinem Vater und seiner Mutter hin- und herwandern.
"Ich...ich wollte das nicht." begann er zu stottern und fuhr sich mit der Hand über seine laufende Nase.
"Ich war nur kurz auf der Toilette."
Dave spürte, wie jede Selbstachtung wie Schnee in der Sonne dahinschmolz und einer derartigen Scham Platz machte, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt hatte.
"Wer soll dir das glauben? Meinst du, Joey hat das in diesen wenigen Minuten geschafft?"
Sein Vater hob das Kehrblech an und ließ die Bruchstücke des Porzellans kurz darauf tanzen. Dave schloß seine Augen, als er das helle Klirren hörte, und wäre am liebsten im Boden versunken. Als er seine Augen wieder öffnete, rannen ihm erneute Tränen über das Gesicht. Er spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen und leckte ihn kurzerhand mit der Zunge ab.
"Bist du nicht in der Lage auch nur einmal auf deinen Bruder aufzupassen?"
Sein Vater wendete sich ab und deutete auf Joey, der der Unterhaltung mit Interesse beiwohnte.
"Ich dachte, du wärst auf dem besten Weg ein Mann zu werden. Und wir haben dir vertraut."
Glens Blick fiel auf das Kehrblech, und er schüttelte leicht den Kopf. Als er sich dann wieder Dave widmete, spürte dieser die Blicke seines Vaters wie brennende Dolche in seinem Magen.
"Aber anscheinend haben wir uns geirrt, Mr. Jones."
Damit wendete sich sein Vater ab, und Dave sah ihm kopfschüttelnd und mit tränenverschleierten Augen nach. Er wartete, bis sein Dad in der Küche verschwunden war und er das helle Scheppern hören konnte, als das Porzellan in den Abfalleimer geschüttet wurde. Dann stieß er sich von der Wand ab, blieb mitten im Flur stehen, und noch ehe er überhaupt die Chance dazu bekam über seine Worte nachzudenken, öffnete Dave seinen Mund und brüllte in Richtung Küche.
"Was kann ich denn dafür, wenn ihr ein Monster großzieht?"
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Dave, wie seine Mutter zusammenfuhr und sich zu ihm umdrehte. Doch jetzt war der Anfang gemacht, und an diesem Abend war Daves junges Leben ohnehin zerbrochen worden, wie die Porzellanfiguren im Wohnzimmerschrank.
"Joey ist ein Monster. Ein Ungeheuer. Er macht solche Sachen doch andauernd. Und er macht sie extra. Nur damit ihr mich nicht mehr lieb habt."
Sein Blick fiel kurz zu seinem Bruder und dann wieder zur Küche, von wo er eilige Schritte hören konnte. Aber selbst das herannahende Unheil in Gestalt seines Vaters konnte ihm plötzlich keine Angst mehr einjagen. Dave starrte auf das helle Rechteck der Küchentür, hörte die mächtigen Schritte seines Vaters wie Hammerschläge in seinem Gehirn - und doch fühlte er sich plötzlich seltsam leicht und befreit. Selbst der Tränenfluß versiegte. Dave wischte sich mit den Handrücken über die Augen, zog seine Nase hoch und ließ seinen Blick zwischen seiner Mutter und Joey hin- und herwandern. Im nächsten Augenblick kam sein Vater aus der Küche, blieb unter dem Türrahmen stehen, und seine Augen sprühten vor Wut.
Dave sah ihn an und wich wieder zur Wand zurück. Trotz allem spürte er plötzlich keine Angst mehr.
"Nicht Joey ist das Ungeheuer."
Die Stimme seines Vaters überschlug sich und glich der keifenden Stimme einer alten Frau.
"Du bist das Monster. Du versuchst deinem Bruder alles in die Schuhe zu schieben, und du bist unfähig auf einen dreijährigen Jungen aufzupassen."
Sein Vater deutete mit ausgestrecktem Arm auf Dave, als stünde er unter Anklage.
Dann machte er eine kurze Pause, in der er über irgend etwas nachzudenken schien. Dann verengte er seine Augen zu schmalen, angewiderten Schlitzen, und als er Dave den Todesstoß verpaßte, war seine Stimme nichts weitere mehr als ein leises Zischen.
"Ich glaube, Joey hat jetzt schon mehr Verstand, als du jemals in deinem Leben besitzen wirst."
Im nächsten Augenblick stieß sich Dave von der Wand ab, lief an seinem Vater vorbei und die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo die beiden Kinderzimmer lagen. Er knallte die Tür so fest zu, wie er konnte, warf sich auf sein Bett und begann erneut hemmungslos zu weinen.
An diesem Abend war weit mehr zerbrochen, als nur die Porzellanfiguren seiner Mutter im Schrank.
Zwei Wochen später, dem Tag vor Weihnachten, hatte Dave das Haus für sich allein.
Seine Eltern waren in die Stadt gefahren um letzte Besorgungen anzustellen, und trotz des Vorfalls mit den Porzellanfiguren seiner Mutter hatte man Dave erneut vertraut und ihm die Aufsicht über Joey anvertraut. Dave vermutete, daß dies lediglich geschehen war, da seine Mutter keine andere Möglichkeit gesehen hatte, um am Abend in Ruhe in die Stadt fahren zu können.
Die Wut und - teilweise sogar der Haß - auf Dave waren immer noch nicht verflogen. Im Gegenteil. Seit dem Ereignis vor zwei Wochen herrschte im Hause Jones eine kalte, vernichtende Atmosphäre, die Dave von Minute zu Minute tiefere Wunden in die Seele riß.
Aber an diesem Abend hatten sie Joey noch einmal in Daves Obhut gegeben, und Dave war seinen Eltern für diese Entscheidung von Herzen dankbar.
Er stand in der Küche vor dem großen, runden Tisch, an dem sie sonst immer zusammen saßen und sich beim Essen über die Ereignisse des vergangenen Tages unterhielten, und packte seine Geschenke für Weihnachten ein.
In den letzten beiden Tagen hatten sie hier natürlich nicht zusammen gesessen. Oder zumindest hatte Dave an dem allabendlichen Ritual nicht teilgenommen. Seine Eltern und Joey hatten sehr wohl hier gesessen; sie hatten gegessen und sich unterhalten, und Dave hatte sie des öfteren von seinem Zimmer aus lachen hören.
Und mit jedem fröhlichen Wort, das Dave an die Unbeschwertheit seiner Vergangenheit erinnert hatte, war dieses Gefühl, das er an dem Abend vor zwei Wochen zum ersten Mal gespürt hatte, stärker geworden und hatte sich zunehmend in den Vordergrund gespielt. Solange, bis es schließlich Daves gedemütigte und verletzte Gedanken vollständig unter Kontrolle hatte.
Dave lächelte leicht, legte das bunte Geschenkpapier an den Enden übereinander und befestigte es sorgfältig mit Klebstreifen.
Aber dieses Gefühl und die Gedanken, die wie Sumpf in Daves Gehirn gestiegen waren, hatten ihm deutlich gemacht, daß er es unmöglich zulassen konnte, daß diese schmerzhaften Wunden in seiner Seele noch tiefer gerissen wurden. Und das war es, was seine Eltern beabsichtigten.
Seit Joey die Porzellanfiguren seiner Mutter im Schrank zerstörungswütig und vorsetzlich gegeneinander geschlagen hatte, hatten sie Dave nicht mehr beachtet. Nicht genug damit, daß sie kein Wort mehr mit ihm sprachen und er seither Ausgangssperre hatte - sie riefen ihn noch nicht einmal zu den Mahlzeiten oder wünschten ihm eine `Gute Nacht´. Als würde Dave gar nicht mehr in diesem Haus wohnen. Geradeso, als existiere er überhaupt nicht mehr.
Er fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen, als er sorgsam damit begann sein Geschenk mit bunter Nylonschnur zu umwickeln.
Nicht einmal sein Dad, von dem er am ehesten erwartet hatte, daß er nachgab und seine Wut auf Dave verrauchen ließ, würdigte seinen Sohn auch nur eines Blickes.
Seit über zwei Tagen war Dave vollkommen isoliert. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer und kam lediglich herunter um sich etwas zum Essen zu machen, oder wenn er zur Toilette mußte.
Danach ging er sofort wieder die Treppe hinauf in sein Zimmer.
Und das alles nur wegen Joey.
Er blickte zu ihm hinüber, und sofort stieg wieder dieses dunkle Gefühl in ihm auf.
Joey. Der liebe, kleine Joey. Den alle so lieb hatten, und der alle mit seinem kindlichen, hellen Lachen anstecken konnte.
Dave schüttelte sich und spürte im nächsten Augenblick eine dicke Gänsehaut auf seinem Rücken.
Sein lieber, kleiner Bruder Joey, ohne den er nie in einer solchen Klemme stecken würde.
Was besaß dieses kleine Monster, das Dave nicht besaß? Oder nicht mehr?
Früher war er der süße Junge gewesen, der mit Geschenken und Küssen überhäuft wurde und der der Liebling von allen Verwandten gewesen war, die seine Eltern besucht hatten.
Was war mit diesem Jungen geschehen? Er war älter geworden. Und größer. Sonst nichts.
Warum also behandelte man ihn jetzt plötzlich so, als hätte er irgendeine ansteckende, peinliche Krankheit?
Aber von Weihnachten an würde sich alles ändern.
Dave betrachtete sich das Geschenk, das er für seinen Onkel gemacht hatte und legte es zu den anderen drei. Dann nahm er das nächste, das er noch auf dem Boden liegen hatte, und breitete es auf einem neuen Bogen Geschenkpapier aus. Das sollte für seine Tante sein.
Oh ja. Dave würde nur noch diesen einen Tag abwarten müssen, und alles würde wieder wie früher sein.
Seine Vater würde wieder sein bester Freund sein, so, wie er es immer gewesen war, bevor Joey geboren wurde, und man würde ihm endlich wieder die Zuneigung zollen, die er verdiente.
Daves Hände zitterten vor Aufregung, als er das Geschenk für seine Tante einwickelte.
Sein Blick fiel zu Joey, und er zwinkerte ihm zu.
Wieso war er eigentlich nicht gleich auf diese Idee gekommen? Dann hätte er sich eine Menge Ärger und Schmerzen in den letzten Jahren gespart.
Wieder lächelte er, und diesmal war sein Lächeln dunkel.
Er nahm die Rolle mit der Geschenkschnur, schnitt ein langes Stück ab und begann das Geschenk damit zu umwickeln.
Dabei verschwand sein Lächeln nicht.
Die Lösung war so einfach.
Man brauchte an Weihnachten bloß die richtigen Geschenke zu verteilen, und im Handumdrehen hatte man die Welt wieder in Ordnung gebracht.
Dave hielt das Geschenk für seine Tante vor seine Augen und verzog angewidert das Gesicht, als seine Finger etwas Feuchtes ertasteten. Dann legte er es zu den übrigen Geschenken unter den Tisch, wischte sich seine Hände an einem Handtuch ab und ging zur Spüle hinüber.
Joey war ihr Liebling. Daran gab es keinen Zweifel, und daran konnte er auch nichts ändern.
Er legte seine Hände auf den blonden Lockenkopf seines Bruders und drehte in so, daß er ihm in die Augen sehen konnte. Er lächelte ihn an, so, wie er es früher immer getan hatte, als Joey noch ein Baby gewesen war und er sich noch nicht in ein Monster verwandelt hatte.
Man brauchte bloß die richtigen Geschenke zu machen...
Dave hob die blutige Axt und hieb seinem Bruder den linken Arm ab...
Das war das Geschenk für seine Mutter.
Sie alle sollten etwas von dem lieben, kleinen Joey haben...