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Geschöpf der Nacht
Draußen vor dem Fenster hatte sich die Landschaft in den letzten Tagen in ein stilles Reich aus Schnee und Eis verwandelt, obwohl es erst Ende September war – und es hörte nicht auf zu schneien. Selbst jetzt rieselten dicke, weiße Flocken lautlos gen Boden und begruben Häuser, Bäume und Straßen unter sich.
„Das ist nicht normal… dieser Schnee“, murmelte Marek, auf dem Bett kniend, während er aus dem Fenster sah, wobei sich sein Gesicht so nahe am Glas befand, das sein Atem auf der kalten Scheibe kondensierte.
„Das liegt wohl an der globalen Erwärmung“, sagte seine Schwester ironisch, teilnahmslos die Schultern zuckend. Sie kniete neben ihm auf dem Bett und schaute genau wie er nach draußen. „Ist es das, was du mir hast zeigen wollen? Ich sag’s dir… holst du mich noch einmal nachts aus dem Bett, damit ich mir den blöden Schnee draußen angucke, dann…“
Marek schaute sie missbilligend an.
„Ich meinte nicht den Schnee“, erwiderte er. „Warte nur einen Augenblick, ich glaube sie hat sich heute ein bisschen verspätet…“
Mareks Schwester seufzte, und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass sie die Augen verdrehte. Sie verharrten noch fünf Minuten so auf dem Bett, während sie wortlos nach draußen starrten, bis Marek plötzlich auf etwas deutete, das sich einen Weg durch die Verwehungen suchte.
„Da!“, sagte er aufgeregt.
Seine Schwester schaute in die Richtung, in die er zeigte, zögerte, und sagte schließlich: „Das ist nicht dein Ernst.“
„Was meinst du?“
„Dafür hast du mich geweckt? Dafür? Damit ich meine Stiefmutter sehe. Du hast vielleicht Nerven. Die sehe ich doch jeden Tag.“
Marek seufzte. „Findest du es denn nicht eigenartig, dass sie nachts um zwei Uhr durch die Straßen zieht, vollkommen alleine?“
„Nicht unbedingt. Außerdem weißt du doch von ihrer Canastarunde. Ich bitte dich, Marek, aber was erzähle ich dir eigentlich? Du suchst ja andauernd irgendwelche Eigenarten bei der armen Frau. Kein gutes Haar lässt du an ihr. Um ehrlich zu sein, find’ ich das ganz schön gemein. Du könntest mindestens so tun, als würdest du sie mögen – für Papa.“
„Fiona, bitte! Du scheinst den Ernst der Lage nicht zu begreifen.“
Marek sah seine Schwester eindringlich an. Sie war ein sehr hübsches Mädchen von 14 Jahren mit langem schwarzen Haar und einer sehr weißen Haut. Ihre Augen waren von so einem hellen Eisblau, dass sie manchmal auf unheimliche Art und Weise durchsichtig wirkten. Ihr Gesicht mit dem feinen, spitz zulaufenden Kinn erinnerte ihn immer ein wenig an einen Fuchs. Sie war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und aus diesem Grunde wohl, liebte Marek die Anwesenheit seiner Schwester. Sie gab ihm das Gefühl, alles wäre beim Alten, alles wäre noch gut…
Fiona seufzte. „Ich muss zugeben, ich begreife den Ernst der Lage wohl nicht, aber bitte Marek, es ist spät, und außerdem habe ich morgen früh einen Termin bei Dr. Bruckstett, und…“
„Bitte“, hauchte Marek in die Stille seines Zimmers. „Hör mir zu – für ein paar Minuten nur, dann lasse ich dich in Ruhe.“
Sie nickte. Marek warf noch einmal einen Blick auf die Gestalt, die, gehüllt in einen dunklen Zobelmantel, inzwischen durch ihren Vorgarten schritt, wobei jeder ihrer Tritte ein lautes Knirschen erzeugte. Marek überkam ein Schauer des Entsetzens, und er wandte seine Augen von dieser Frau ab, deren Anblick ihn so nervös machte.
„Erstens“, begann Marek, wobei er seine Schwester tief in die Augen blickte und den Zeigefinger der rechten Hand hob. „Wer ist sie und woher kommt sie? Natürlich… ihr Name ist Philine Moser und sie kommt aus irgend so einem Dorf kurz vor der Grenze zur Schweiz – angeblich. Aber weißt du was? Ich glaube ihr nicht. Sie kommt hierher mit dem Zug – von einem auf den anderen Tag. Niemand kennt sie, niemand hat sie je zuvor hier gesehen. Sie hat nichts bei sich, außer diesem… diesem… Koffer, der so seltsam nach Lavendel riecht. Sie zieht in ein Hotel, Papa sieht sie und verliebt sich Hals über Kopf in sie, und das Beste: Er bietet ihr nach drei Treffen an, dass sie bei uns wohnen dürfe. Das ist doch wirklich mehr als seltsam…“
Fiona seufzte. „Gut. Das hört sich alles ein bisschen eigenartig an, aber Marek, solche Leute gibt es nun einmal eben. Leute, die auf Gut Glück irgendwohin ziehen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Du weißt ja nicht, was mit ihr passiert ist, dort, wo sie vorher gewohnt hat. Vielleicht ist sie schrecklich gescheitert und brauchte einfach einen Neuanfang, weit weg.“
„Und sie hat keinen Kontakt zu irgendwem aus ihrer Heimat, zur Familie, zu alten Freunden?“, fragte Marek scharf. „Das weißt du nicht, und…“, setzte Fiona an, doch Marek unterbrach sie: „Fiona. Sie spricht nie über ihre Vergangenheit, und sie telefoniert auch nie mit irgendwelchen Leuten, die nicht aus der Region unserer Dorfes kommen.“
„Gut, ok, Marek. Ich verstehe, was du meinst. Und weiter?“
„Zweitens“, fuhr Marek fort. „Papa ist total verändert, seitdem sie hier ist. Er ist nicht mehr er selber. Er läuft durchs Haus, als wäre er unter Drogen, liest dieser Alten jeden Wunsch von den Lippen und pumpt haufenweise Geld in diese Schachtel.“
Fiona lachte. „Das nennt man Liebe“, sagte sie altklug.
„Ja, ja, ich kenne Papa, wenn er verliebt ist, aber dieses Mal ist es anders, Fiona. Es ist einfach anders. Es ist fast so, als würde sie ihn manipulieren, ja fast so, als hätte er keinen eigenen Willen mehr.“
„Du spinnst.“
„Nein, glaub mir. Na ja, ich habe ja noch mehr, was es zu sagen gibt. Hast du denn nicht gemerkt, dass die Sonne nicht mehr scheint, seitdem sie hier ist? Ich weiß, das hört sich total bescheuert an, aber ich habe darauf geachtet, und es ist ehrlich so. Seitdem Philine hier in unserem Dorf wohnt, gab es keinen Sonnentag mehr. Erst hat es geregnet und jetzt… jetzt schneit es unablässig. Fiona, sieh mal nach draußen. Hast du da das Bild von einer romantischen Winterlandschaft im Kopf? Nein, natürlich nicht. Man fühlt sich eingeschlossen, so ist es nämlich! Man hat das Gefühl, man würde langsam, aber sicher in ein weißes Gefängnis gesperrt. Der Schneepflug kommt nicht hinterher, die Straßen sind immerzu gefroren und mit Schnee bedeckt, sodass man das Dorf kaum verlassen kann. Wir sind bald schon isoliert, Fiona, abgeschnitten vom Rest der Welt.“
Marek ergriff die weißen Schultern seiner Schwester, die durch das blassrosa Nachthemd schimmerten und schüttelte sie kurz. Er konnte in ihren wässrigen Augen lesen, dass sie ihn für verrückt erklärte.
„Marek, wirklich. Du leidest unter Verfolgungswahn. Gut, du kannst sie nicht leiden, das ist eine Sache, aber sie gleich für das Wetter verantwortlich zu machen. Das ist doch ein bisschen weit hergeholt, was?“
„Nein, das ist es eben nicht! Und ich gehe noch einen Schritt weiter… Vor kurzem, du erinnerst dich, Herr Pollmann…“
„Der verschwunden ist?“
„Richtig. Ich glaube, sie war es. Ich glaube Philine hat ihn auf dem Gewissen.“
„Oh Gott, Marek, du spinnst wirklich. Herr Pollmann und Philine haben sich hervorragend verstanden. Sie war völlig aufgelöst, als seine Frau nach Papas Feier angerufen hat, um zu fragen, ob er bei uns geschlafen habe, da er in der Nacht nicht zurückgekommen sei. Du willst sie wohl kaum eine Mörderin nennen.“
„Ach, das war alles gespielt. Sie ist ein listiges Biest. Sie weiß, wie man die Leute manipuliert, aber nicht mit mir. Ich habe sie durchschaut. Weißt du, ich gehe sogar noch weiter. Sie ist nicht nur eine Mörderin, nein, sie ist auch kein Mensch!“
„Marek…“
„Nein, das ist mein völliger Ernst.“ Marek stand von seinem Bett auf, schaute kurz zur Tür – immer im Hinterkopf, vielleicht von den stechend grünen Augen der neuen Frau seines Vaters beobachtet zu werden – und bückte sich dann. Er griff unter sein Bett und holte ein schweres Buch hervor, zwischen dessen Seiten unzählige Notizzettel hervorlugten. Ein dicker Stapel Blätter befand sich außerdem zwischen den ersten Seiten. Er schaltete die Lampe auf seinem Nachttisch ein und reichte Fiona das Buch, die skeptisch den Einband und den Titel zu mustern begann.
„Was ist das denn für ein Schund?“
„Nein, Fiona. Schlag es auf. An den Stellen, die ich markiert habe.“
Sie gehorchte, und Marek sah die Texte und Radierungen, die ihm inzwischen so bekannt waren. Fiona verzog verächtlich das Gesicht, während sie lustlos in dem Buch blätterte. Einmal wies Marek sie an, einzuhalten. Eine Seite war aufgeschlagen, die die Kohlezeichnung eines entsetzlichen Monsters darstellte, das sich mit weit geöffnetem Schlund über einen kauernden Mann beugte.
„Marek, das ist ein billiges Horrorbuch, mehr nicht. Ich warne dich, wenn du mir weismachen willst, dass Philine so ein… Ding ist, dann verlasse ich dein Zimmer augenblicklich.“
Marek schaute seine Schwester voll Verzweiflung an. „Bitte, Fiona, bitte. Ich weiß, wie verrückt das alles klingen mag, aber ich beschäftigte mich schon seit Wochen damit. Lies es dir mindestens einmal durch.“ Marek wusste nicht, was er in den Augen seiner Schwester sah, als sie ihn matt anlächelte. War es Verachtung? War es Mitleid für ihn, ihren Bruder, der ganze 19 Jahre alt war, mit elf noch immer an den Weihnachtsmann geglaubt hatte, jedem Bericht über Außerirdische kompromisslos hundert Prozent Wahrheit zusprach, und manches Mal noch Angst hatte, in den Keller zu gehen, wenn es einen Stromausfall gegeben hatte, weil er glaubte, jemand oder etwas könnte ihm dort unten auflauern? Er wusste es nicht genau, doch er war unendlich dankbar, als sie ihren hübschen Kopf senkte und begann zu lesen.
Er wusste ja selber, wie irrsinnig das alles klang! Ja, er hatte lange mit sich selbst gekämpft, ob er diese augenscheinlichen Phantastereien wirklich glauben konnte. Inzwischen jedoch, kam es ihm alles real vor. Sie war kein Mensch, da war er sich nun sicher, und er glaubte, dass sein Vater, Fiona und er langsam in einen Alptraum verwebt wurden, aus dem es kein Entrinnen mehr geben würde, wenn nicht bald schon gehandelt werden würde. Vielleicht betraf es ja auch das gesamte Dorf, das langsam zwischen weißen, kalten Mauern versank? Marek schaute wieder aus dem Fenster zum schwarzen Himmel, der übersäht war mit dunklen Wolken. Ab und an schimmerte der Vollmond zwischen Fetzen des Wolkenmassivs durch und tauchte die Straße und die Häuser vor Mareks Fenster in sein bläuliches astralweiß. Dann wirkte alles ätherisch und durchschimmernd, als wäre es dabei sich aufzulösen, als wäre es schon bald verschwunden. Diese Idee jagte Marek Angst ein, und er rückte ein bisschen näher zu Fiona, die, noch immer lesend, sanft und wissend lächelte.
Sie legte das Buch schließlich auf die Bettdecke, nachdem sie die Seiten gelesen hatte, die Marek ihr aufgegeben hatte. Sie schürzte die Lippen und zog die rechte Augenbraue hoch.
„Also, du willst mir sagen, dass Philine eine Art Geist ist?“
„Eher ein Dämon“, korrigierte Marek, der merkte, wie eigenartig sich das anhörte.
„So, so ein Dämon also.“
„Ja, ein Wesen, das davon lebt, Unglück über andere hereinzubringen. Eine Kreatur, die das Fleisch der Menschen frisst, ihr Blut trinkt, und sich an ihrem Unglück ergötzt. Sieh doch…“ Marek deutete auf eine Passage im Buch, „… es gibt sie in fast jeder Religion. Bei den Christen heißen sie Lilith. Man nennt sie auch Sukkubus, und sie suchen sich Männer, die ihrer scheinbaren Schönheit unwiderruflich verfallen, um sich mit ihnen zu paaren und neue von diesen Wesen zu zeugen.“
Marek, inzwischen in Rage geredet, deutete nun fiebrig auf eine andere eingefärbte Radierung, die eine grauenerregende Kreatur darstellte, deren gesamter, nackter Körper mit ledriger, bräunlicher Haut überzogen war. Das Gesicht war zerfurcht, und zwei große, irislose Augen funkelten aus schwarzen Höhlen. Der Kopf hatte etwas wolfsähnliches, die Ohren waren spitz zulaufend und die Nase war ähnlich der eines Ebers. Schwarzes, zotteliges Haar spross aus dem Kopf und verteilte sich bis über die breiten Schultern. Vier schlaffe Brüste wuchsen tumorartig aus dem Oberkörper dieser bizarren Kreatur. Marek erschauerte erneut. Es gab noch andere Darstellungen dieser Monstren, alle unterschiedlich, und doch glaubte Marek, all diese Bilder würden genau zu Philine passen.
Fiona sah ihn ein wenig irritiert an und seufzte. Marek schaute beschämt zu Boden, doch Fiona fasst sein Kinn und zog seinen Kopf wieder hoch. Sie hatte nie erwachsener gewirkt als in diesem Moment.
„Du bist noch immer der gleiche kleine, fantasievolle Junge wie früher. Ich mag diese Seite an dir. Sie gibt dir etwas Liebenswertes, aber jetzt übertreibst du.“ Sie machte eine Pause, lächelte ihn an, wobei sie noch graziler aussah, als sonst. „Erzähl es niemandem mehr, ok? Man wird dich nur auslachen. Es ist gut, dass du dich an mich gewandt hast. Ich werde jetzt weiter schlafen. Morgen wird ein langer Tag werden.“
Mit diesen Worten erhob sich Fiona, wobei sie beinahe lautlos auftrat. Sie schritt zur Tür, drehte sich noch einmal um, lächelte, und verschwand dann. Marek schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und schaute dann aus dem Fenster. Wieder hatte er das Gefühl, ein unsichtbarer Tod würde durch die Gassen und Straßen dieser kleinen Gemeinde wabbern, die, schutzlos ausgeliefert, am Rande ihres eigenen Untergangs stand.
Für Marek wurde es von Tag zu Tag unerträglicher, sich in einem Haus mit dieser Frau zu befinden. Die Zeit bis zu den Herbstferien ertrug er nur schwer, da er immerzu in latenter Angst lebte, die schlimmer wurde, wenn diese Frau sich ihm näherte. Er wich Philine aus, wo es nur ging, doch manchmal war er alleine im Haus mit ihr. Dann schloss er sich ein und verfolgte jeden Laut, der aus dem Erdgeschoss oder aus Nebenzimmern kam. Am schlimmsten war es jedoch, wenn es an solchen Tagen komplett still war, denn dann glaubte er nämlich – nein, wusste er –, dass sie vor seinem Zimmer lauerte, darauf wartend, ihn zu reißen.
Sein Vater wurde von Tag zu Tag merkwürdiger, sodass Marek es bald nicht mehr aushielt, sich komplett in sein Zimmer zurückzog und nur herauskam, um etwas aus dem Kühlschrank zu holen.
Er vertiefte sich wieder in sein Studium mythischer Schauerkreaturen. Bald schon erweiterte er seine Lektüre, sodass er, neben den, vermeintlich fundiert wissenschaftlich geschriebenen Werken, auch phantastische Bücher hinzuzog – nur für alle Fälle. Auch das Internet durchkämmte er stundenlang akribisch nach Hinweisen. Stundenlang vertiefte sich Marek in Lovecraft, Campbell und sogar Barker, immerzu hoffend, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wie er mit dieser rätselhaften Frau, diesem wunderschönen, tückischen Wesen, fertig werden könnte. Wenn er mal alleine war im Haus, stand er mitunter stundenlang vor der Kopie des Gemäldes von Füssli, das Philine mitgebracht hatte, und eine Frau darstellte, auf deren Brust ein Dämon hockte. Auch hier hoffte Marek etwaige Informationen über sie zu finden, doch nichts brachte ihm Ergebnisse.
Im November hatte es noch immer nicht aufgehört zu schneien – zumindest nicht bei ihnen, nicht in dem kleinen Dorf, in dem Marek lebte. In der Nachbarschaft war das Dach eines Hauses unter den Lasten des Schnees zusammengebrochen, wobei mehrere Menschen gestorben waren. Ein kleiner Junge war außerdem vor einer Woche spurlos verschwunden.
Marek, der auf seinem Bett saß und wie in jener Nacht am Ende des Septembers, aus dem Fenster schaute, hatte das Gefühl, Zeuge dabei sein zu müssen, wie ihre kleine Gemeinde unterging, begraben unter einem weißen, eisigen Leichentuch. Sein Zimmer war unordentlich, voll mit Büchern aus der Bibliothek und Blättern, die er hastig aus dem Internet ausgedruckt hatte. Zwischenzeitlich gab es Momente, in denen er sich fragte, ob er langsam neurotisch wurde, doch wenn er Philine sah – egal von weitem oder von nahem –, wusste er, dass er es nicht war, dass etwas mit dieser Frau nicht in Ordnung war.
Seinen Vater interessierte das, was er tat oder dachte, recht herzlich wenig. Er fragte nicht einmal nach den Massen an sonderbaren Büchern, die Marek sich bestellt hatte. Als er an jenem Tage im November klopfte und seinen Kopf durch die Tür steckte, hatten seine Augen wieder diesen liebestrunkenen, ekelerregenden Ausdruck an sich. Seine Wangen glühten förmlich und sein Lächeln wirkte, obwohl es so breit war, vollkommen leer
Sein Vater, Robert, war zu ihm gekommen, um ihm zu berichten, dass er eine kleine Cocktailparty am folgenden Wochenende veranstalten wolle, und er bat Marek, sich für diesen Tag nichts vorzunehmen. Das war es auch schon. Nach diesen kurzen Worten verschwand sein Vater wieder und ließ ihn alleine.
Der Tag der Feier kam. Marek hatte seine Schwester zu sich geholt, die ein schickes, schwarzes Kleid trug. Sie stand vor seinem Spiegel und frisierte sich die Haare. Nachdem ihr Bruder seinen Monolog beendet hatte, seufzte sie, drehte sich um.
„Tu das nicht, Marek, bitte!“
Marek sah sie traurig und ein wenig enttäuscht an. So viel Zeit hatte er dafür aufgebracht, einen Weg zu finden, um Philine zu entlarven, und nun hatte er endlich eine vermeintliche Lösung… und seine Schwester wollte nichts davon wissen?
„Ich weiß, dass du mir nicht glaubst“, sagte Marek niedergeschlagen.
„Es ist – zu verrückt.“
„Aber…“
„Tu mir den Gefallen“, unterbrach ihn seine Schwester sanft, „und vergiss diesen Mist einfach, ja? Wirklich, Marek, man wird dich auslachen!“
Marek erwiderte nichts. „Bitte“, fügte seine Schwester hinzu. Widerwillig nickte er. Fiona schenkte ihm dafür ein warmes Lächeln, beendete die Arbeit an ihrem Haar und verschwand aus dem Zimmer.
Marek stellte sich nun selbst vor den Spiegel, stopfte sich sein weißes Hemd in die Hose, richtete seine Anzugweste und die Krawatte, seufzte und sagte dann zu sich: Ok, vielleicht ist es wirklich nur ein Hirngespinst. Und obwohl er absolut keine Lust dazu hatte, sich auf irgendeine Feier zu begeben, setzte er, seinem Vater zu Liebe, ein falsches Lächeln auf und ging ins Erdgeschoss, wo die Party bereits im vollen Gange war.
Es war eine Feier der Eitelkeit. Sein Vater, der seit Philine ein schrecklich verschwenderischer Mann war, hatte keinerlei Mühen und Kosten gescheut, um ein opulentes Fest zu veranstalten, das wohl zu Ehren seiner neuen Frau stattfand. Das war nun seit dem Juni die dritte Feier, und diese übertraf die vorherigen bei weitem. Sektkorken knallten quasi im Minutentakt, schaumiger Perrier Jouet wurde in Kristallflöten gegossen, Männer schwenkten ihre Whiskeytumbler, wobei das Eis im Glas klirrte. Frauen tranken aromatische Cocktails aus kunstvollen Schalen. Es gab auch ein Buffet, das in der Küche aufgebaut worden war, und von zwei Köchen zubereitet worden war, die Mareks Vater eigens für diesen Tag bestellt hatte. Es gab Kaviar, Beef Wallington, Krabbenfleisch, eine Unzahl an Nachspeisen und Pudding.
Für Marek war das alles viel zu viel. Ihn beunruhigte dieser aufgesetzte Karneval. Er setzte sich sofort auf einen Hocker in einer Ecke des Raumes und beobachtete die Leute, die sich gut gelaunt unterhielten, oder zur Musik wippten, die leise im Hintergrund gespielt wurde. Bald schon fielen ihm zwei Dinge auf. Zunächst, dass Philine nicht da war. Das sah er nicht nur, das spürte er, denn sie hatte so eine Präsenz, so eine (wie er empfand: ) düstere Ausstrahlung, dass man nicht in der Lage gewesen wäre, sie nicht wahrzunehmen, obwohl das Erdgeschoss überfüllt war mit lauten, ausgelassenen Menschen. Das zweite, was ihn beinahe noch mehr verwunderte, war, dass seine Mutter hier war! Sie stand ganz in seiner Nähe, die blassblauen Augen durch den Raum wandernd, neben einer Kommode, und sie trank einen Martini, in dem eine glänzende Perlzwiebel schwamm. Sie redete gerade mit Fiona und wirkte sehr unglücklich, ja sogar besorgt.
Als Marek auf sie zuging, stellte sie ihr Glas ab und nahm ihn in die Arme, wobei sie seinen Kopf streichelte. Er fühlte sich für einen Moment wieder, als wäre er ein kleines Kind, das den Schutz in der Geborgenheit des mütterlichen Schoßes sucht. Er war froh, dass sie hier war.
„Mein Junge“, hauchte seine Mutter. Sie sah ihn an und Marek sah in den Augen, der sonst so reservierten Frau, Tränen schimmern. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Fiona sich entfernt hatte, und er begann eine kurze, abgehakte Unterhaltung mit seiner Mutter zu führen. Sie sah nicht nur besorgt aus, sie war es ganz offensichtlich auch. Das merkte er nun. Das beunruhigte ihn, und Marek fragte sich, was wohl in ihr vorgehen mochte.
Die Konversation jedoch, wurde je unterbrachen, nämlich als Philine den Raum betrat. Sie liebte dramatische Auftritte, das hatte Marek schon festgestellt, doch dieser übertraf alle vorherigen. Sie sah umwerfend aus. Sie trug ein rotes, langes Kleid, das im Brustbereich mit einem blassrosa Blumenmuster verziert war. Ihr kastanienbraunes, schulterlanges Haar war kunstvoll drapiert, und ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde. Ihre Wangen glühten rötlich – wohl vor Erregung? Sie sah aus wie die personifizierte Sünde, als sie in die Mitte des Wohnzimmers schritt, wo sie die Hand von Mareks Vater nahm und ihn sinnlich küsste. Was für ein Theater! Was für ein Schauspiel, dachte Marek erschrocken. Und jeder fällt darauf rein… Sofort begann Philine aufgeregt alle zu grüßen, lachte, verteilte Wangenküsse, trank topasfarbenen Wein. Sie wirkte so ausgelassen, so lebensfroh. Die Art, wie sie sich bewegte, wie herzlich sie augenscheinlich mit allen sprach. Sie war, in dem Moment als sie den Raum betreten hatte, zum Zentrum dieser kleinen Feier geworden. Jeder schaute sie an – alle Männer mit verträumten Augen, aus denen so eine tiefe Sehnsucht sprach, und die Frauen musterten sie, wie es schien, mit Faszination und Neid. Alle hatte Philine verzaubert. Marek erschienen die Gesichter all dieser Menschen jetzt wie Masken, wie Larven, die Philine ihnen aufgesetzt hatte. Durch die Menge sah sie ihn plötzlich mit ihren funkelnden Augen an, lächelte lasziv.
„Du musst mich entschuldigen, Schatz“, sagte Mareks Mutter plötzlich. Er schaute zu ihr und sah, dass auch sie ihren Blick auf Philine fixiert hatte. In ihren Augen las er jedoch etwas anderes, als in denen der übrigen Besucher, und zwar Panik. Das war unverkennbar Panik, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. Marek war aufgrund dieser Tatsache so verwirrt, dass er kaum etwas erwidern konnte. Er stammelte nur: „Mama…“
„Es tut mir Leid, ich fühle mich nicht gut, ich bin gleich wieder da“, sagte sie leise. Ohne den Blick von Philine abzuwenden, stellte sie ihr Glas ab und ging mit schnellen Schritten aus dem Raum. Marek hatte kaum Zeit dazu, sich über seine Mutter zu wundern, denn sein Vater kam zu ihm und fragte ihn, dumm grinsend, ob er ein paar Flaschen des Champagners hereinholen könnte, die draußen im Schnee kühl standen. Er nickte, durchquerte den Raum und schnappte dabei auf, dass die Leiche von Herrn Pollmann gefunden worden sei. Marek hatte sich schon gewundert, wieso seine Gattin nicht hier war, doch nun verstand er es. Zwei Frauen redeten angeregt darüber, dass er wohl zwischen Schneewehen gelegen habe, erfroren…
Mareks Herz begann schneller zu schlagen. Er öffnete die Tür zur Terrasse und schritt nach draußen in die kalte Novembernacht. Es stürmte. Der Wind peitschte gegen das Haus. Über die Hecke ihres Gartens hinweg, sah Marek die Dächer der anderen Häuser in der Straße, die durch den Schneesturm wirkten, als wären sie Schemen. Ja, das Dorf verwandelte sich langsam in eine Geisterstadt…
Marek nahm drei Flaschen des Perrier Jouet und ging zurück ins Haus. Er war so in Gedanken, dass er es gar nicht wahrnahm, dass ihm jemand die Flaschen aus der Hand nahm, als er eintrat. Erschrocken schaute er empor und blickte in das feine Gesicht Philines, dessen Züge wirkten wie die einer Raubkatze. Ihre blau umschatteten Augen blitzten ihn an.
„Hast du Spaß?“, fragte sie.
Marek fühlte sich plötzlich, als laste ein wahnsinniges Gewicht auf ihm. Er konnte nicht einmal mehr atmen, geschweige denn antworten.
„Es… ja… auf jeden Fall“, brachte er dann doch hervor. Sie beugte sich über ihn, der Duft ihres Parfüms stieg Marek in die Nase, und er fühlte sich kurzzeitig wie narkotisiert.
Plötzlich ergriff eine Hand die seinige und zog ihn weg. Sofort verschwand dieses Gefühl der Bedrohung. Es war seine Schwester, Fiona, die ihn wortlos mit in eine Ecke des Raumes zerrte. Marek war ihr nie dankbarer gewesen.
„Danke, Fiona“, hauchte er, als sie ihn schließlich losließ.
„Wo ist Mama?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht. Sie sagte eben, es gehe ihr nicht gut, und danach ist sie verschwunden.“ Er überlegte kurz, ihr seine Eindrücke zu schildern – über seine Mutter und das, was er in ihren Augen glaubte, gesehen zu haben, doch er tat es nicht.
„Was macht sie überhaupt hier?“, fragte Marek dann.
„Papa hat sie eingeladen. Sie haben sich in Freundschaft getrennt. Ich finde es gut, dass sie gekommen ist.“
Marek nickte, wobei er noch immer beobachtete, wie Philine durch den Raum tänzelte, und dabei alle Blicke auf sich zog. Sie war wie ein schwarzer Malstrom, und die Gäste waren wie ahnungslose, dumme Fische, die sie in ihren Abgrund sog.
„Ich werde Mama suchen“, sagte Fiona dann und ließ ihn wieder alleine. Marek verblieb an seiner Stelle. Seine Mutter erschien einige Minuten später wieder im Raum. Sie sah sehr mitgenommen aus, und sie schien geweint zu haben, denn ihr Mascara und ihr Lidschatten waren verschmiert.
Aus dem Augenwinkel sah Marek, dass Philine sich graziös vom Sofa erhob, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie berührte das mit Rosenornamenten im Jugendstil verzierte Polster der Sitzfläche, fuhr mit den krallenartigen, rot lackierten Fingernägeln darüber und – das sah am bizarrsten aus – sie leckte sich über die Lippen.
Als sie aufgestanden war, ging sie mit langsamen Schritten durch den Raum. Das Lächeln verschwand nicht von ihrem Gesicht, im Gegenteil, es wurde noch breiter. Zunächst erkannte Marek nicht, wen oder was sie ansteuerte. Er glaubte zuerst, er selbst sei das Ziel ihres Weges, denn sie ging in seine Richtung, doch dann musste er feststellen, dass sie auf seine Mutter zusteuerte. Philine fasste sie auf eine unheimlich vertraute Art am Arm, fast so, als würden sie sich schon ewig kennen. Der Blick von Mareks Mutter verfinsterte sich augenblicklich und ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Sie redeten ein paar Minuten, wobei es sich wohl um eine sehr einseitige Konversation handeln musste, denn Marek sah, dass sich zwar Philines Mund unablässig bewegte, seine Mutter ihn jedoch zwischendurch nur sehr kurz öffnete, wohl um etwas zu sagen, oder schlicht nickte. Es lag ein seltsamer Glanz in den Augen Philines. Sie wirkte irgendwie betroffen. Seine Mutter hingegen erschien Marek jetzt noch reservierter als schon zuvor. Es kam ihm vor, als habe er dort die introvertierteste Person vor sich, die es überhaupt auf der Welt gab.
Plötzlich ergriff Philine die Hand seiner Mutter mit unglaublicher Zartheit. Marek spürte einen Stich in der Magengegend, und hätte ihn in diesem Moment jemand bemerkt, mit vor Entsetzen geöffneten Augen und dem Mund verzogen, als wollte ein Schrei entfleuchen, so hätte man sich wohl ernsthafte Sorgen um ihn gemacht. Das verführerische Glühen auf Philines Wangen wirkte in diesem Moment unwirklich, als wäre es aufgemalt, und ihre Augen waren plötzlich Abgründe – schwarz, und ihr Ausdruck nicht mehr zu deuten. Seine Mutter sah jetzt, wo die beiden Frauen nebeneinander standen, noch fragiler aus mit ihrer Haut, weiß wie Porzellan und den wässrigen, blauen Augen.
Philine zog sie mit sich, und sie folgte der neuen Frau ihres früheren Ehemannes. Was ging dort vor sich? Worüber hatten sie eben gesprochen? Und noch wichtiger: Wo wollte Philine mit seiner Mutter hin?
Marek fühlte, dass ihm schwindelig wurde vor Angst. Die Feier erschien ihm jetzt noch unerträglicher mit all den Leuten, die so albern wirkten wie die Insassen eines nächtlichen Zirkus. Er schaute zur Uhr und hatte das Gefühl, dass die Zeit ihm davonlief. Bei jedem Sekundenschlag schien ihn eine Stimme davor zu warnen, noch länger zu warten. Der unbarmherzige Schneesturm rüttelte an den Fenstern. Er erzeugte ein dunkles Pfeifen, wenn er durch Ritzen oder Spalte wehte. Übertönt wurde dieses Geräusch nur vom Lärm der Feier – der Musik, dem leeren Lachen der Menschen und ihren Gesprächen, und dem Geräusch von Flaschen die geöffnet wurden… und während all diese Eindrücke Marek unter sich begruben wie eine Flutwelle, wusste er, dass seine Mutter sterben würde, dass sie in großer Gefahr schwebte. Die Uhr tickte. Das Pfeifen wurde lauter. Alles um Marek herum wurde zu einem bunten, grellen Wirbel aus Farben und Lauten. Er vergaß alles, was er seiner Schwester versprochen hatte, stand mit zittrigen Knien auf und verließ die Feier und all ihre Insassen, die, wie durch einen dunklen Fluch, zu hirnlosen Marionetten geworden waren…
Sie befanden sich in der Küche… Marek ging durch den Hausflur, und als er vor der Tür stand, fasste er sich in die Tasche und fühlte das Papier, das ihm während seiner Recherche vorgekommen war wie eine Goldader des Wissens in einem Berg aus unnützen Informationen. Es verschaffte ihm eine kurze Erleichterung, als er es berührte. Sein Herzschlag beruhigte sich und die lähmende Angst verschwand für einen Moment.
Die Stimme von Philine und seiner Mutter drangen durch die Tür zu ihm. Die Angst kehrte zurück. Er drückte die Klinke und trat ein.
Wie zwei Pole wirkten die beiden Frauen in der weißen Küche. Philine lächelte stumpfsinnig und lehnte gegen den Kühlschrank, während seine Mutter, noch immer finster dreinblickend, sich in eine Ecke des Raumes drückte. Sie saß beinahe auf der Arbeitsfläche, und Marek erkannte, wie sich ihre Brust unter der Bluse hektisch hob und senkte. Zwei Augenpaare, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, fixierten ihn augenblicklich.
„Was macht ihr hier?“, fragte Marek.
Philine lächelte ihn an. „Wir haben etwas zu klären“, sagte sie süßlich. Mareks Mutter nickte gequält.
„Lass sie in Ruhe“, zischte Marek, was offensichtlich Verwirrung bei beiden Frauen auslöste.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, säuselte Philine. Sie legte den Kopf schief.
„Doch, du weißt es“, knurrte Marek. „Aber ich werde dem jetzt ein Ende setzen. Du hast uns lange genug heimgesucht.“
Fast heroisch zog Marek den Zettel aus seiner Tasche. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, und er verengte die Augen zu Schlitzen. Blanke Panik und Abscheu träufelte aus ihnen. Er schaute auf den Zettel und begann nun die Worte vorzutragen, die dort geschrieben standen. Worte, die aus einem Buch stammten, dessen Einband bereits alt und verfallen gewesen war, Worte, die er kaum zu entziffern und zu übersetzen vermocht hatte. Es war eine Formel aus einem uralten Buch, eine Formel, welche die dämonischen Wesen der Nacht entlarven sollte, ihnen die Masken abreißen sollte, damit das sterbliche Auge sie erkennen könne. Es war ein Zufall gewesen, dass Marek über dieses Buch gestolpert war, dieses Buch, das so authentisch wirkte, so voll mit düsteren Geheimnissen um die Schattenseiten der Welt, wie die Menschen sie kennen. Nein, dachte Marek, nachdem er die Worte gelesen hatte, es war kein Zufall, dass ich es gefunden habe… Es war mein Schicksal…
Er schaute empor zu Philine, die ihn nun noch irritierter ansah als zuvor. Sie war noch immer die gleiche Frau. Marek atmete schnell, Schweiß perlte von seiner Stirn. Es geschah… nichts. Wobei das nicht ganz richtig stimmte, denn etwas passierte doch: Der Ausdruck in den Augen Philines veränderte sich urplötzlich. Es war keine Irritation mehr in ihnen zu lesen, sondern Angst.
Und als Marek sich umdrehte, weil er einen schnaufenden, knurrenden Laut gehört hatte, wusste er warum.
Er schaute in ein Gesicht, so grauenerregend, dass es aus einem Alptraum, aus den Eingeweiden der finstersten Fantasie, empor gekrochen sein musste. Die ledrige, braune Haut, die über einen keilförmigen Kopf gespannt war, wies tiefe Furchen auf. Ein schwarzer Schlitz öffnete sich, und darunter verborgen lag eine Reihe schiefer, gelblicher Zähne. Diese Groteske eines Mundes formte ein Lächeln. Marek trat ein paar Schritte zurück, um diesen Fleisch gewordenen Alptraum in seiner Ganzheit erfassen zu können.
Er konnte kaum denken, so überfüllt war sein armer Kopf mit Angst und Verwirrung. Er wollte nicht wahrhaben, was sich da soeben offenbart hatte… Es war grausam ironisch. Sein Gespür war richtig gewesen – zumindest zum Teil. Es gab etwas Dunkles, Grauenvolles in seinem Leben, doch er hatte es in der falschen Person vermutet. Nun stand er dem wahren Dämonen gegenüber.
Das Wesen erhob sich zu voller Größe. Der bärenartige Körper war so massig, dass sich die Kreatur aufgerichtete beinahe die Decke berührte. Das Ding hob eine seiner Pranken, die mit länglichen, schwarzen Krallen bewährt war und schlug damit in Richtung Marek. Diesen, noch viel zu gelähmt vor Schock, um ausweichen zu können, traf der Hieb, sodass er heftig zur Seite gestoßen wurde, gegen einen Schrank prallte und zu Boden sackte. Er stöhnte vor Schmerz und realisierte, aus dem Augenwinkel sehend, dass das Wesen auf ihn zugetrottet kam, dass seine Schulter und sein Arm bluteten. Es floss in Rinnsälen aus seinen Wunden und nässte seinen Ärmel.
Er wollte aufstehen, doch bevor er es schaffte, sich aufzurichten, hatte diese Kreatur, die nur aus den Gedärmen der Unterwelt kommen konnte, sein Hemd gepackt und ihn gegen den Schrank gepresst. Das hässliche Gesicht näherte sich dem seinigen. Die eberartige Nase vibrierte scheinbar vor Genuss und ein Grinsen erschien auf dem grotesken Antlitz. Dann sah Marek die Augen. Es waren die ihm so bekannten hellblauen, auf obskure Weise flüssig wirkenden, Augen. Es stand außer Zweifel. Dieses Ding wollte ihn töten. Es hob die freie Pranke, spreizte die klobigen Finger mit den langen, schwarzen Krallen.
Es kam nicht zum Schlag. Marek hatte es gar nicht gemerkt, doch nachdem das Biest markerschütternd aufgeheult und sich umgedreht hatte, sah er Philine, die, noch immer fassungslos und ungläubig dreinschauend, ein Messer in der Hand hielt, dessen Klinge mit schwarzem, sirupartigen Blut beschmiert war. Sie hatte es angegriffen!
Marek, von dessen rechter Schulter ein pochender Schmerz ausging, rappelte sich hoch und sah, wie sich das riesige Geschöpf mit trampelnden Schritten auf Philine zu bewegte. Dabei kicherte es. Ein Geräusch, so düster und unmenschlich, dass Marek es niemals wieder vergessen sollte. Es war das Schlimmste, was er bisher gehört hatte und bis zu seinem Lebensende hören sollte.
Nun galt es, schnell zu handeln. Er war, trotz seiner naiven, infantilen Denkweise, die ihm selber bewusst war, kein dummer Junge. Er war nicht etwa so einfältig gewesen, nur mit etwas gewappnet, um einen solchen Sukkubus zu enttarnen, in den „Kampf“ zu ziehen. In diesem Buch, das den seltsamen Titel Kitab Al’Azif gehabt hatte, hatte es nicht nur eine uralte Formel, gegeben, mit der man den finsteren Kreaturen der Nacht die Maske entreißen konnten, sondern auch eine Formel, mit der man sie stoppen konnte, die Chimären und Dämonen.
Marek suchte den Boden fiebrig nach dem Zettel ab, der ihm bei dem Schlag des Sukkubus aus der Hand gefallen war. Die Kreatur stand nun direkt vor Philine. Sie richtete sich auf, grinste und hob beide Klauen bedrohlich in die Höhe. Die Frau, in der Marek zuvor so viel Schrecken und Unheil gesehen hatte, wirkte nun verletzlich. Sie war wie eine schillernde Libelle, die im Netz einer gierigen Spinne gefangen war.
Endlich fand Marek den Zettel, stürzte sich auf ihn und richtete sich dann auf. Philine hielt das Messer vor ihren Körper. Marek sah, dass sie zitterte. Ihr gesamter Körper bebte. Die Kreatur holte, leise lachend, zum Schlag aus.
Wie eine Flut strömten die absonderlich klingenden Worte aus Mareks Mund. Er nahm selbst gar nicht wahr, was er dort von sich gab. Die Küche verschwamm vor seinen Augen zu einem grellen Wirbel aus Eindrücken. Er hörte das erleichterte Aufatmen von Philine, das begleitet wurde vom dumpfen, sonoren Röcheln der dämonischen Kreatur, die sich die Pranken auf die zitternden, spitzen Ohren drückte. Sie riss den Schlund auf, ein schwarzer, bodenloser Abgrund. Ihre spitzen Zähne schimmerten im matten, orangefarbenen Schimmer der Deckenleuchte.
Ein Gestank erfüllte plötzlich den Raum, der sich in ein Kabinett des Schreckens verwandelt hatte. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Marek richtete seine Augen auf die Kreatur, deren Haut Blasen schlug. Die Worte… diese scheinbar sinnlosen Worte, die er dort in einem hektischen Takt vor sich hin plapperte, schienen diesen Sukkubus weitaus mehr zu verletzen, als das Messer. Das Wesen stöhnte, schnappte nach Atem, knurrte vor Zorn und Schmerz… Geifer lief über die wulstige Unterlippe. Das Wesen heulte laut auf vor Qual, und Marek überlegte, ob nun wohl die feierfreudigen Leute aus dem Wohnzimmer in die Küche kommen würden…
Der Dämon sank auf die Knie, während seine Haut, die mehr und mehr Blasen schlug, sich dunkel verfärbte. Der Gestank wurde schlimmer, das Wesen brach vollständig zusammen und lag als zuckende, dunkelbraune Masse auf dem Boden. Langsam schälten sich Haut und Fleisch dampfend und zischend von den Knochen ab. Die Brocken und Fetzen, die auf dem Boden landeten, begannen zu schrumpfen und lösten sich schließlich langsam aber sich zu schwarzem, dichten Qualm auf, der fürchterlich in der Nase brannte.
Dieser Vorgang dauerte einige Zeit, bis schließlich, in einer finsteren Wolke aus schwarzem Verwesungsdunst, ein Frauenkörper auf dem Boden sichtbar wurde. Es war der Körper seiner Mutter. Marek kannte diesen Körper, der jetzt wieder, befreit von dem dämonischen Fleisch, zerbrechlich wirkte, so weiß und zart wie er dort lag. Sie hatte schreckliche Pein erleiden müssen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und ihre hellblaue, beinahe durchsichtige Iris sah nun noch weißer aus. Mareks gequälter Geist, überwältigt von all dem, was er eben hatte mit ansehen müssen, verstand, wieso seine Mutter so aussah. Es war die perfekte Maske, dieses schöne, weiße Gesicht, die reinen, fast weißen Augen, die so friedlich und barmherzig wirkten. Die helle Haut, der grazile Körper… all das war ein großes Kostüm, hinter dem sie sich versteckt gehalten hatte.
Was für ein Alptraum. Marek hörte ein Klacken, und er sah, dass Philine, die das Messer gerade in den Mülleimer geschmissen hatte, ein Fenster öffnete, durch den sich der schwarze Rauch zwängte, als wäre er lebendig, als wollte er flüchten von diesem Ort.
Mutter war tot. Philine schaute ihn mit tapferer, aufgelöster Mine an. „Was werden wir sagen? Sie lebt nicht mehr“, flüsterte sie. Aus dem Wohnzimmer drangen noch immer die Stimmen der Partygäste und die Geräusche der Musik.
„Niemand wird uns glauben, wenn wir die Wahrheit erzählen.“
„Nein“, gab Marek zu.
„Also? Was schlägst du vor?“ Er zuckte mit den Achseln.
„Lass uns einen Arzt rufen… Du hast Recht. Niemand, dem wir das hier erzählen, wird das glauben. Niemand…“
Was für ein Alptraum!
Über ein Monat zog ins Land, und noch immer lag eine stille Decke der Trauer über dem Haus, in dem Marek lebte. Philine und er hatten Robert bescheid gesagt, man hatte den Notarzt gerufen, der später einen plötzlichen Tod durch nichtkardiale Umstände diagnostizierte. Marek erinnerte sich später an nicht mehr viel aus dieser Zeit, denn es war wohl die wirrste, düsterste Periode seines Lebens, doch wenn er nachts im Bett darüber nachdachte, glaubte er, sich erinnern zu können, dass niemand, der konsultiert worden war, eine exakte Todesursache hatte bestimmen können…
Kein Wunder, dachte er, kein Arzt der Welt kann Tod durch einen Gegenfluch diagnostizieren. Die Beziehung zwischen Marek und Philine war über Nacht zu einer enorm intimen geworden – im platonischen Sinne. Sie verband nun ein Geheimnis, so düster und bizarr, dass es einen einfach zusammenschweißen musste. Er selbst war nach dem Tod seiner Mutter in einer Art Wachkoma, wie er es selber beschrieb. Er nahm nicht mehr wirklich Teil am Leben, aß kaum etwas, sprach mit fast niemandem mehr, und bald schon schickte ihn sein Vater zum Psychiater.
Heute war seine fünfte Sitzung gewesen – erfolg- und sinnlos, wie er fand. Er lag im Bett, aus dem Fenster sehend. Am Himmel schob sich der helle Mond zwischen zwei Wolken… Er schloss die Augen.
Er wäre beinahe eingeschlafen, war schon in Morpheus Armen, bis ihm etwas mit plötzlicher Heftigkeit bewusst wurde. Sein Herz blieb für einen Augenblick stehen. Er riss die Augen auf, verfluchte sich selber und sprang dann aus dem Bett. Wie konnte er nur so blauäugig gewesen sein? Wie konnte er das nur vergessen? Wie…
Er schrie auf, als er bemerkte, dass jemand in seinem Zimmer stand. Er sah die schemenhaften Umrisse einer Person. Wie konnte ich das nur vergessen? Wie? Durch die kompromisslose Finsternis seines Zimmers schauten ihn zwei helle, beinahe weißblaue Augen an, die auf unheimliche Weise wirkten wie zwei Scheinwerfer. Nein, dachte er bitter, daran habe ich nicht gedacht…
Scharf wie ein Messer schnitt die sonst so sanfte Stimme seiner Schwester durch sein Zimmer: „Eine schöne Nacht, Bruder, findest du nicht auch?“ Ein Lächeln erschien unterhalb der hellen Augen. Der Rest des Körpers lag noch immer im Dunkeln.
„Fiona, was machst du hier?“, fragte Marek.
„Ich wollte dich besuchen. Es wird Zeit.“ Sie trat aus dem Dunkeln in das kleine Quadrat aus Licht, das durch das Fenster hineinfiel. Ihre Haut war so weiß, so durchsichtig…
„Marek, ich werde dir ein Geheimnis erzählen. Etwas, was unser Papa dir nie gesagt hat. Wusstest du, dass wir nur Halbgeschwister sind?“ Sie lächelte. „Wir haben denselben Vater, nicht aber dieselbe Mutter… Wer deine Mutter ist, weiß ich nicht, aber meine hast du umgebracht.“ Das Lächeln wurde breiter, wirkte nun unecht. Es zog sich beinahe von einem Ohr zum anderen.
In der Stille seines Zimmers begann sich seine Schwester zu verwandeln. Das letzte, was Marek spürte, waren ihre schiefen, spitzen Zähne, die sich in seine Brust bohrten und die schwarzen Krallen, die ihm das Fleisch von den Wangen rissen.