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Gesänge aus der Tiefe

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17.02.2003
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Gesänge aus der Tiefe

Es war Ende Dezember, eine Woche vor dem orthodoxen Weihnachtsfest, und der sibirische Buran wehte aus Nordost über die grauen Kohlenstädte des ukrainischen Donezreviers. Der von Rost und von Eis überzogene Förderturm der Grube "Kadijewka" ragte wie das Skelett eines erfrorenen Zyklopen in den kalten, kristallklaren Himmel. Über dem Werkstor waren immer noch die blassen Buchstaben "Felix Dserschinskij" zu entziffern, denn so hatte das Bergwerk zu Sowjetzeiten geheißen, benannt nach dem verwunschenen Gründer des KGB. Und so wurde die Zeche auch im Volksmund noch genannt, obwohl sie seit ein paar Jahren offiziell den Namen der Stadt - Kadijewka - trug. Auch die Bergleute riefen die Grube, die ihre Gesundheit zusehends zerstörte, liebevoll nach diesem alten Namen. Tief im Inneren, in den dunklen Schächten hatte sich ja auch nichts verändert, nichts verbessert.
Und so hatten die krachenden, sträflich verwahrlosten Aufzüge bis vor kurzem Tag für Tag hunderte Bergarbeiter in die Tiefe geschaufelt. Die Häufchen Kohle, die im Gegenzug oben anlangten, die die fahlen Arbeiter mit primitiven Werkzeugen und rinnendem Schweiß aus den Flößen herausschlugen, waren lächerlich klein.
Bis Ende November war noch alles gutgegangen. Nach dem Unglück hatte sich jedoch eine gespenstische Stille über die Anlage gesenkt. Bei einem zum Gelände gehörenden Speichersee war einfach der Boden durchgebrochen und das Wasser hatte das Bergwerk regelrecht ersäuft. Niemand wußte, welche Schicksale sich tausend Meter unter der ukrainischen Steppe abgespielt haben mochten, doch es war gewiß, daß die Bergleute entweder ertrunken oder aus Luftmangel erstickt waren oder vom Schlamm zerquetscht. Manche könnten auch noch einige Zeit durchgehalten haben, erst dann waren sie verhungert oder am Verfaulen ihrer Beine in dem Brackwasser allmählich gestorben.
Daß dieses tödliche Grubenunglück nicht das erste im Donezbecken war, vermochte den Hinterbliebenen keinen Trost zu spenden, ebensowenig wie der seltsame Zufall, daß sich ganz ähnliche Unglücke kurze Zeit später in verschiedenen, teilweise weitaus moderneren Bergwerken auf der ganzen Welt zugetragen hatten. In West-Virgina etwa hatten sich die Stützen eines Zugangsstollens als zu schwach erwiesen und alles war eingestürzt, im deutschen Ruhrgebiet hatte eine Schlagwetterexplosion ein komplettes Bergwerk unter sich begraben, im chilenischen Lebu hatte ein starkes Erdbeben eine Zeche zerrissen. Selbst aus dem kommunistischen Nordkorea war ein schweres Unglück gemeldet worden, freilich ohne genauere Informationen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, den Menschen in Kadijewka von Anfang an die Wahrheit zu sagen. Es hatte von Anfang an keine realistische Chance gegeben, die Kumpels zu retten. Doch die Behörden als auch die Oligarchen, die die Inhaber der Grube waren, hatten sich auf einen Schlingerkurs von Panik, Vertuschung, Verharmlosung und möglicherweise auch ehrlichen Mitleids verirrt. Verlogene Informationen ließen manchen Hinterbliebenen falsche Hoffnungen schöpfen, und alsbald traten diese Getäuschten sogar selbst an die Öffentlichkeit mit ihren verzweifelten Appellen, die Menschen dort unten nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Das Unglück wurde zu einem Politikum und zum Synonym für die Krisenhaftigkeit des ganzen Landes. Irgendwann meldete sich sogar der Präsident zu Wort, stellte für die Zukunft schärfere Vorschriften in Aussicht und versprach vollmundig, nach den Verschütteten so lange suchen zu lassen, bis über ihr Schicksal Klarheit herrschte. Dabei hatte es sich zunächst nur um leere Worthülsen gehandelt, da der Präsident wußte, daß dem Land sowohl die finanziellen als auch die technischen Mittel zu einer solchen Bergung fehlen würden.
Es war mutigen Frauen wie Irina Kovalenkowa zu verdanken, daß diesen hohlen Phrasen auch gewisse Taten folgten. Frau Kovalenkowa, deren Sohn in der Grube steckte, organisierte die Angehörigen der verunglückten Bergleute und appellierte mit dem Mut der Verzweiflung an die Verantwortlichen, in ihren Anstrengungen bei der Suche nicht nachzulassen. Sie verfaßte mit ihrer Gruppe Petitionen, Bittbriefe, die sie an Zeitungen wie Behörden im ganzen Land verschickte, sie organisierte Radiointerviews und ihre Mitstreiter hielten Mahnwachen vor den Werkstoren ab. Ihre flehenden Aufrufe wurden nach einiger Zeit sogar im Ausland wahrgenommen, und besonders aus der Bundesrepublik kamen Spenden und technische Unterstützung für die Ukraine. Das gemeinsame Schicksal ihrer Bergarbeiter rückte die Völker zusammen. Nun wurden endlich an vielen Stellen des ganzen Stadtgebiets - denn soweit erstreckte sich im Untergrund das labyrinthartige Stollensystem - mit dreiwöchiger Verspätung Sondierungsbohrungen vorangetrieben. Diese Bohrlöcher hatten nur jeweils einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern, sie wären jedoch breit genug gewesen, mit den Verschütteten Kontakt aufzunehmen und ihnen Lebensmittel und Medikamente zukommen zu lassen.
Irina war keineswegs eine geborene Aktivistin, sie hatte sich Zeit ihres Lebens aus politischen Dingen ganz herausgehalten. Doch aus Sorge um ihren einzigen Sohn Jirik entwickelte sie den Mut einer Löwin. Irina war für ihr Alter im Grunde eine recht hübsche Frau, mit intelligenten Augen, obwohl ihr Gesicht durch ein hartes Leben und manche Hungerwinter deutlich gezeichnet war. In ihr blasses Antlitz versuchte sie mit dick aufgetragenem Lippenstift und mit blauen Liedschatten stets ein wenig Farbe zu bringen. So war ihr Gesicht ein Sinnbild ihres Daseins: Entbehrungsreich, oft freudlos, aber doch auch mit einigen Tupfern des Glücks. Sie hatte immer hart arbeiten müssen, war nie aus dem erbärmlichen Kadijewka richtig fortgekommen, doch wenn sie sich etwa an ihr Glück mit Ilja erinnerte, ihrem Mann, an einige gemeinsame Aufenthalte in einem betriebseigenen Ferienheim am Strande der Krim und an ihren guten Sohn Jirik, auf den sie stolz war, immer dann erschien ihr das Leben doch ein bißchen lebenswert. Die nötige Kraft hatte Irina stets aus ihrem tiefen Glauben geschöpft. Sie war sicher, daß ihr Gott in schweren Zeiten schon oft beigestanden hatte. Irinas Mann war vor einigen Jahren an einer Staublunge verstorben, denn auch er hatte unten im "Dserschinskij" gearbeitet, und nun kämpfte sie fanatisch für das Leben ihres Sohnes Jirik. Man hätte ihr besser gleich die Wahrheit sagen sollen.
Immer wieder hatte sie früher auf Jirik eingeredet, er solle sich doch eine andere Arbeit suchen, doch er hatte immer bloß geantwortet, es gäbe nichts anderes, und er hatte wahrscheinlich recht. Am Feierabend spielte er allerdings Gitarre und manchmal erlaubte er sich zu träumen, und dann hatte er die stille Hoffnung, eines Tages ein ukrainischer Schlagersänger werden zu können, träumte vom Silberstreif am Horizont, dem verhaßten Schacht entkommen zu können, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und aufzusteigen in die Sphäre der Sterne und Wolkenvögel.
Einige der Bohrlöcher waren nun schon über 2000 Meter in die Erde getrieben und noch immer war man auf nichts gestoßen als auf Wasser und auf Schlamm. Realistische Gutachter hatten schon längst jede Hoffnung aufgegeben, aber auch sie sagten meist aus Feigheit und aus falsch verstandenem Mitleid mit den Angehörigen, daß der Mensch unter günstigsten Umständen einen Monat ohne Nahrungsmittel überleben könnte, daß sich irgendwo Luftblasen gebildet haben könnten und daß zumindest die Gefahr des Verdurstens dort unten ja nicht bestünde. Frau Kovanlenkowa und die anderen Angehörigen klammerten sich an diese abwegigen Spekulationen und bestärkten sich ständig gegenseitig in ihren Hoffnungen.
Mitte Januar, fast neun Wochen nach dem Unglück, beschlossen die Behörden endlich, die Farce zu beenden und eine offizielle Trauerfeier für die Verschütteten im Michailskoe-Kloster auszurichten. Da spaltete sich zum ersten Mal die Gemeinschaft der Angehörigen und ging im Streit auseinander: Die meisten wollten von den Verunglückten endlich in Würde Abschied nehmen können, waren des aussichtslos scheinenden Kampfes müde geworden. Nur Irina und ganz wenige verbliebene Mitstreiter boykottierten die Trauerfeierlichkeiten. Irina saß während der Stunden der Messe einsam in ihrer kleinen Küche und hing ihren verwirrten Gedanken nach.
Es war vormittags. Plötzlich pochte es an der Tür. Irina öffnete, und vor ihrer Wohnung standen drei Herren, die sie als Mitglieder der Betriebsleitung der Zeche wiedererkannte. Sie lächelten zögerlich.
Nach einiger Zeit des Schweigens sagten sie: "Frau Kovalenkowa, wir haben Ihnen vor einiger Zeit eine sehr schlechte Nachricht überbringen müssen. Heute bringen wir Ihnen eine gute: Ihr Sohn lebt!"
Irina war nicht fähig, irgendetwas zu entgegnen, da fuhren die Herren fort:
"Frau Kovalenkowa, wir sind vor zwei Stunden auf einen Stollen gestoßen, der nicht überflutet war. In ihn hat sich ein Großteil der Verschütteten flüchten können. Ihr Sohn ist auch darunter. Wir werden noch lange brauchen, um sie zu befreien, aber wir können mit den Verschütteten Kontakt aufnehmen und sie mit allem Lebensnotwendigen versorgen."
Irina faltete die Hände.
"Wir haben sogar schon mit ihnen gesprochen. Wollen auch Sie, ich meine - wollen auch Sie mit Ihrem Sohn sprechen?"
Die Mutter war ganz verstockt, die Herren warten geduldig auf eine Antwort, bis sie endlich ein mühsames "ja... ja..." formte.
"Dann begleiten sie uns bitte, wir fahren sofort zur Grube."
Auf der Fahrt erklärten die Herren Irina, daß der Kontakt zwischen der oberirdischen Welt und dem Schacht momentan nur über einen extrem, fast unwirklich dünnen Spalt erfolge, der in der Relation schmäler sei als ein Roßhaar, und daß es noch Monate dauern könne, die Verschütteten zu bergen, daß sie sich aber keine Sorgen mehr machen müsse. Irina saß auf der Rückbank des Firmenbusses und betete.
Als sie nach kurzer Fahrt an der Zeche ankamen, bot sich dort ein völlig verändertes Bild. Hunderte Menschen standen jetzt um den Zaun herum, Limousinen und Fernsehübertragungswagen parkten auf dem Gelände.
"Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß das Fernsehen dabei ist. Das ist ein großer Erfolg für das ganze Land. Das Gespräch mit den Verunglückten wird direkt übertragen", sagten die Herren ein wenig entschuldigend.
"Das ist mir egal, wenn ich nur mit Jirik sprechen darf", antwortete Irina.
Im Kontrollraum herrschte dichtes Gedränge. Menschen in schwarzer Kleidung, die unmittelbar aus der Trauermesse herangekarrt worden waren, mischten sich mit Politikern, Journalisten und Mitarbeitern des Bergwerks. Frau Kovalenkowa wurde warmherzig begrüßt. "Nun wollen wir also zum zweiten Mal Kontakt herstellen!" sagte ein Techniker und machte eine Geste, um um Ruhe zu bitten.
Gespannte Stille herrschte urplötzlich im Raum. Dann hörte man ein Rauschen in den Lautsprechern.
"Hallo, hallo, können Sie mich dort unten hören?", fragte der Direktor des Bergwerks, "bitte bestätigen Sie!"
Nach einer kurzen Weile kam eine gespenstische Reaktion: "Ja, wir können sie hören!" war die leise Antwort.
Die Anwesenden starrten gebannt auf die Lautsprecher und legten die Hände um die Ohrmuscheln, um besser verstehen zu können.
"Mit wem spreche ich?"
"Mit Dimitrij Demidkin, dem Vorarbeiter."
"Wie viele Männer sind Sie dort unten?"
"98 sind wir und wir leben."
"Das sind ja fast alle", ging ein Raunen durch die Runde.
"Wie geht es Ihnen?" fragte der Direktor.
"Danke für ihre Nachfrage, aber uns geht es sehr gut."
Die Menschen im Kontrollzentrum blickten sich verwundert an und fingen an zu tuscheln, um sich die undeutlichen Worte gegenseitig zu bestätigen.
"Ich übergebe das Gespräch jetzt an einen Arzt, warten sie einen Augenblick."
Ein Mann in grünem Kittel rückte an das Mikro.
"Ich grüße Sie. Wie steht es im Bergwerk mit dem Sauerstoff?"
"Hallo Doktor. Wir können gut atmen. Aus dem Wasser sprudeln ständig frische Luftblasen von unten herauf; das ist lustig, wir fühlen uns fast wie in einem Aquarium."
"Und zu essen? Hatten sie denn genug Nahrungsmittel?" fragte der Arzt irritiert.
"Am Anfang hatten wir fast nichts und wir dachten, wir müßten verhungern, doch dann kam der Khan und hat uns mit Essen versorgt. Wir leben jetzt wie im Schlaraffenland, wir haben Kisten voller Wodka hier in der Ecke stehen. Nastrowje!"
"Nastrowje!" brüllten unten viele Männerstimmen, als ob sie sich zuprosteten.
Die Menschen oben wechselten ungläubige Blicke.
"Sie sollten sich mit dem Trinken besser zurückhalten", riet der Arzt. "Gibt es bei Ihnen Kranke oder Verletzte?"
"Nein, nicht mehr. Nach dem Unglück waren viele verletzt und schwer verletzt, aber wir sind alle durchgekommen, wir haben die Brüche geschient und sie sind sauber verheilt. Auch der Khan hat seine Hand aufgelegt, und jetzt geht es uns allen gut."
"Sie brauchen keine Medikamente von uns hier oben?", fragte der Arzt.
"Nein, wir benötigen nichts dergleichen von Ihnen."
Der Direktor des Werks übernahm wieder die Gesprächsführung: "Herr Demidkin, ist auch Jirik Kovalenkow unter den Überlebenden?"
"Jawohl, und es geht ihm gut."
"Dann holen Sie ihn bitte einmal ans Mikrofon!"
Der Direktor wendete sich zugleich an Irina und zur Fernsehkamera: "Frau Kovalenkowa, ohne Ihren beispiellosen Einsatz, ohne Ihr nie ermüdendes Engagement und ohne Ihre nicht zu erschütternde Hoffnung hätten wir vielleicht alle den Mut verloren und die Suche aufgegeben. Deshalb haben wir vereinbart, daß Sie, stellvertretend für alle Angehörigen, als erste mit Ihrem Sohn sprechen dürfen. Wollen Sie?"
Tief erschüttert trat die Frau langsam ans Pult. Spontan begannen alle Menschen in dem Raum zu klatschen.
"Jirik...?" stammelte Sie fragend ins Mikrofon.
"Mamuschka! Liebe Mamuschka!" kam es freudig erregt vom anderen Ende der Leitung, aus mehr als tausend Metern Tiefe. "Ich habe mir so Sorgen um dich gemacht, ich weiß doch, wie du dich gegrämt haben mußt", sagte die Stimme.
"Wie ... geht es dir?" fragte Irina zurückhaltend.
"Mir geht es prächtig, Mamuschka. Ich habe mich zum ersten Mal richtig sattessen können. Dein gutes Borschtsch in Ehren, liebes Mütterchen, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie wir hier leben. Wir trinken nur Krimskoje. Es geht uns saugut. All das haben wir vom Khan. Ich habe mir schon viele Lieder ausgedacht, um ihn zu loben. Soll ich dir eines vorsingen? Soll ich euch allen ein Lied singen, dem Khane zu Ehren??"
Ohne die Antwort abzuwarten, begann er zu singen. In jede Wohnstube der Ukraine drang die aus der Tiefe kommende, schmerzhaft schöne Stimme, die wahrlich wie aus einer anderen, wenn auch nicht besseren Welt klang. Irina taumelte zurück.
"Was hat es eigentlich mit dem Gerede von diesem 'Khan' auf sich?" fragte der Direktor schließlich, der wieder an das Mikrophon getreten war.
"Er ist der Herr des Erdzentrums!" erklärte Demidkin, der Vorarbeiter. "Er ist eine Art Nomade, der auf feurigem Roß den Erdmantel durchreitet. Er allein hat uns gerettet. Er taucht aus dem Wasser empor und versorgt uns mit allem, wessen wir bedürfen. Er ist ein guter Vater. Und er erwartet von uns fast keine Gegenleistung."
"Ich singe von ihm", warf Jiric ein, "und das tue ich gern. Ich preise ihn gern. Alle Welt soll den Khan kennen."
Der Direktor schaute auf einmal sehr betroffen und meinte: "Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen. Wir wissen jetzt, wo Sie sind und wir werden Sie, bei Gott, da unten rausholen. Es wird noch etwas dauern, aber Sie haben das Schlimmste überstanden. Machen Sie Sich keine Sorgen. Das ganze Land steht zu Ihnen. Ich darf sogar vom Präsidenten herzliche Grüße an Sie ausrichten."
"Der Khan läßt auch einen Gegengruß an den Präsidenten entrichten", sagte Demidkin. "Wir haben den Khan gefragt, ob wir uns hochbringen lassen dürfen. Er ist einverstanden. Er sagt, wir hätten einen Auftrag zu erfüllen... einen großen Auftrag... Er trennt sich ungern von uns, der gute Vater, doch er hat uns seinen Segen gegeben. Wir werden euch retten."
Hilfesuchend blickte sich der Firmendirektor um, doch selbst der Arzt in dem grünen Kittel zuckte mit den Achseln.
"Ich würde diesen 'Khan' gerne selbst spechen, um ihm zu danken. Wäre das nicht zufällig möglich?" fragte der Direktor und gab sich listig.
"Nein, das geht nicht. Er reitet gerade durch den Erdmantel, um unsere verunglückten Kameraden in Korea zu versorgen. Ihr würdet den Khan auch gar nicht verstehen, er spricht eine andere Sprache. Am Anfang haben wir ihn auch nicht verstanden, aber jetzt verstehen wir ihn vollkommen."
Allmählich entstand immer mehr Unruhe im Kontrollzentrum und der Reporter sprach in die Kamera:
"Meine Damen und Herren, wir brechen hier unsere Direktübertragung ab. Die Verschütteten sind offenbar noch ein wenig verwirrt, was angesichts der Strapazen verständlich ist. Aber ich bin sicher, Sie haben sich genauso wie wir davon überzeugen können, daß es den Verunglückten substantiell gut geht und daß sie alle gerettet werden. Mit dieser frohen Botschaft verabschiede ich mich von Ihnen aus Kadijewka..."
Nach der Liveschaltung liefen die Menschen kreuz und quer in dem engen Kontrollraum durcheinander, fast vergessen blieb Irina schockiert auf ihrem Stuhl sitzen und sagte: "Seine Stimme ... so schön hat er noch nie gesungen ... so schön singt er nicht ... Jirik ist verunglückt ... mein Sohn ist tot ... mein armer Jirik ... oh Gott, er ist - verunglückt..."
"Frau Kovalenkowa", sagte einer der Herren, der sie herbegleitet hatte und nun, als sie zu weinen anfing, endlich auf sie aufmerksam wurde, "das ist heute alles ein bißchen viel für Sie. Wir fahren Sie jetzt nach Hause. Sie ruhen sich aus und morgen früh werden Sie bestimmt ein so glückliches Erwachen haben wie in ihrem ganzen Leben noch nie..."
"Er ist - tot..." stammelte sie weiter vor sich hin, während sie sich willenlos unter den Arm fassen und nach draußen führen ließ.
Die Nachricht von der Entdeckung der Verschütteten ging wie ein Lauffeuer um die Erde. Auch an den anderen Unglücksorten stieg die Hoffnung und wurden die Anstrengungen noch einmal intensiviert. Und auch aus Nordamerika, Deutschland, Chile und Nordkorea wurden bald große Wunder gemeldet! Überall war man bei Sondierungsbohrungen auf viele Überlebende gestoßen. Eigenartig war nur, daß auch diese von einem sonderbaren, unterirdischen Helfer berichteten und sich selbst als "Apostel" bezeichneten. Freilich nannten sie das Phantom in allen Ländern anders: Den amerikanischen Bergleuten habe sich dieser Wohltäter als "Manitou" vorgestellt, die Chilenen sprachen von einem "Urian", die deutschen Bergleute von einem, der sich einfach "Goebbels" nannte. Psychologen versuchten mühselig zu deuten, wie es zu diesen offenbar unabhängig voneinander auftretenden und beinahe identischen Halluzinationen gekommen sein konnte. Viel schneller als solche Theorien kamen dagegen die Retter voran, die die Bergungsschächte immer weiter und immer schneller in die Tiefe bohrten. Mit dem Hervorkommen der Verschütteten war allerorten bald zu rechnen. Auf allen Kontinenten feierten die Menschen vor freudiger Erwartung.
Auch in Kadijewka tanzte die ganze Stadt. Nur Irina ging Tag für Tag in die einsame Klosterkirche und beging ganz im Stillen und nur für sich allein die Trauerfeier. Sie besprach sich oft mit Pater Nikolaij, ihren alten Beichtvater. Allein sie sei Schuld, klagte sie sich an, daß die Suche nicht rechtzeitig eingestellt worden war. Sie habe die Toten nicht ruhen lassen. Doch der Priester offenbarte mit der Zeit immer größere Ungehaltenheit über dieses Gerede, er machte Irina plötzlich Vorwürfe, daß sie die Rettung ihres Sohnes nicht akzeptieren wolle. Sie würde in einem Traum leben, sich in ihrer Trauer verkrallen, an ihrem Unglück und an ihrer Opferrolle Gefallen gefunden haben; dies jedoch sei einer Sünde gleichbedeutend. Jeden Tag könne doch das ganze Land den wundervollen Gesängen ihres Sohnes im Radio lauschen, die aus den Schächten übertragen würden, und alles fiebere seiner Bergung entgegnen, und sie als einzige behaupte, er sei es nicht. "Und außerdem er ist unser junger Nationalheld, vergessen Sie das nicht!" rief der Priester empört.
"Die Menschen müssen sich in ihrer Not an etwas klammern, was immer es auch sei", antwortete sie deprimiert, ließ Pater Nikolaij stehen und schlich sich aus dem Gotteshaus.
Wie betäubt wandelte Irina durch die Straßen. Fast an jeder Straßenecke konnte sie die Leute bewundernd von dem jungen Sänger Kovalenkow aus der Tiefe schwärmen hören, doch das interessierte die traurige Mutter nicht.
Und alles tuschelte von dem geheimnisvollen Khan, den das neue Idol besang. Schon bildeten sich die ersten Glaubenszellen, die den "feurigen Nomaden" als neuen schwarzen Heiland preisten. Doch diese Zukunft sollte Irina erspart bleiben. Eines Nachts, nur ganz wenige Tage vor der in Aussicht gestellten Bergung, stürzte sie sich von einer Eisenbahnbrücke in den kalten Donez.

 

Hi Menedemos!

Da mir grad der Browser beim Posten der Antwort abgeschmiert ist, schreib ich Dir jetzt nur noch eine "Spar"-Kritik. Bin zu frustriert für was Längeres. :dozey:

Also insgesamt finde ich, dass die Geschichte stark ausbaufähig ist. Die erste Hälfte des Textes ist eigentlich nur die Einleitung, das ganze liest sich eher wie eine Reportage und fast schon langatmig. Dann, wenn die Überlebenden gefunden werden, beginnt für mich der Hauptteil. Der hat mir auch ausgezeichnet gefallen, besonders die Gespräche zwischen Kumpels und Dirketor/Arzt haben mich gefesselt. Aber dann folgt der plötzliche Freitod, wirkt auf mich so, als ob Dich entweder die Lust verlassen hat oder Dir die Ideen ausgegangen sind. Finde ich persönlich sehr schade, so würgst Du sie Spannung ab, so bald sie entstanden ist.
Als gesellschaftliche Kritik würde die Geschichte in dieser Form funktionieren, aber als Horrorstory? Da würde ich mir doch noch etwas mehr Grusel und Spannung wünschen, und bietet sich das Innere der Grube nicht förmlich an?

Gefallen hat mir Deine ausführliche Recherche, das findet man hier eher selten. Teilweise kamen mir die spezifischen Begriffe etwas zu dicht gestreut vor, daher wohl auch mein Eindruck von einer Reprtage. Aber im Großen und Ganzen kann man Dich für die investierte Arbeit loben. :)
Dazu habe ich noch zwei Anmerkungen: Der Buran weht mE in Richtung Nordwesten, nicht aus. Und wegen dem Zyklopenskelett; ich hab mir jetzt etliche Bilder von Bohrtürmen angesehen, aber eine Ähnlichkeit konnte ich da nicht feststellen.

Erzählerisch ist die Geschichte meiner Meinung nach auch größtenteils gelungen. Ein paar Sätze sind mir negativ aufgefallen, hab jetzt aber wirklich keine Lust mehr, die alle wieder rauszusuchen.
Unter anderem waren es Sätze, in denen sehr oft "die" oder "das" vorkam. Teilweise waren es welche, die mir etwas holprig formuliert erschienen.
Sollten meine Nachkritiker nicht darauf eingehen, findest Du sie sicher auch von selbst, wenn Du die Geschichte noch einmal aufmerksam laut liest. Falls das nicht klappt, raffe ich mich vielleicht noch einmal auf.

Verwundert hat mich die Benennung der Kreatur. "Khan" ist doch ein Titel, oder? Und dann wurde sie noch nach einem Gott von Ureinwohnern benannt, dann wie ein Kriegsverbrecher, da erkenne ich keinen Zusammenhang. "Urian" kenne ich übrigens nicht.
Und sicher, dass Goebbels in der heutigen Zeit als Prophet taugen würde?
Auf jeden Fall würde mir etwas Einheitliches besser gefallen, so hat man ja keine Möglichkeit sich selbst etwas zusammen zu reimen. Hier fehlt mir einfach eine gewisse Logik.

Also, die Geschichte ist wirklich sehr vielversprechend, ich hab sie gerne gelesen. Nur das Ende hat mich enttäuscht. Vielleicht willst Du Dich da noch mal dransetzen?

 

Eine interessante Geschichte. Auch ich fand die Einleitung sehr schön, die Beschreibung der Protagonistin war dann ein bisschen langweilig, allerdings war dann die Konversation zwischen Arbeiter-Arzt sehr spannend, ich glaube ich bekam sogar Herzklopfen.(;

Aber warum Goebbels? Das verbinde ich mit dem NS-Propagandaminister.
Ich glaube, dass (in Anbetracht der Sagengestalten aus den anderen Unglücks-Gebieten) eher ein Name wie Thor, Odin, Loki oder Siegfied passen würde.

Ansonsten gut gelungen. Weiter so.

Loyd

 

Hallo Menedemos

mir hat die Geschichte gut gefallen, ich mag deine feine Art zu erzählen. Ich finde es auch passend, dass die "Götter" moderne Namen haben - jede Zeit bringt ihre eigenen Gestalten hervor.

Und ich sitz nun da und spekuliere, was während und nach der Bergung passiert. Denn die Bergleute haben ja versprochen, wieder in die Welt zu kommen, und unter den Menschen zu leben. Das dürfte ein ziemliches Durcheinander geben. Und warscheinlich hat die Mutter recht, wenn sie sagt, man solle die Toten ruhen lassen.

Ich freu mich, mehr von dir zu lesen!:)

Liebe Grüsse
Ta Minette

 
Zuletzt bearbeitet:

Also erstmal vielen Dank für eure Mühe und eure positiven Kritiken! An LaChatte natürlich ganz "besondere" Grüße ;)

@ Bibliothekar

Also ich weiß ja nicht, was du unter einer "ausführlichen" Antwort verstehst, die war doch schon ziemlich detailiert... Danke noch mal.
Nun, auf die aufgeworfenen Fragen will ich schon eingehen, teilweise hast du (ihr) mit der Kritik sicher recht, teilweise besteht aber auch wohl einfach der Bedarf einer nachträglichen Erklärung.

Also mit dem Zyklopen muß ich dir wohl recht geben. Ich hätte nicht gedacht, daß da jemand so genau drüber nachdenkt.
Und im ersten Drittel ist die Erzählung vielleicht wirklich etwas spröde und erinnert an eine Reportage. Jetzt bin ich ja ein Kritiker des Zeitgeistes, des Zeitgeistes, der dazu neigt, gleich ungeduldig weiterzuzappen, wenn sich nicht in den ersten Sekunden Spektakuläres ereignet und der keine Chance mehr hat, Reize wahrzunehmen, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren. Aber vielleicht habe ich es mit meinem "per aspera ad astra" ein bißchen übertrieben.

Die Aneinanderreihung Khan - Manitou - Urian - Goebbels ist freilich etwas seltsam, gleichwohl habe ich mir natürlich etwas dabei gedacht. Die Verbindung zwischen ihnen ist rein logisch in der Tat nicht zu erfassen, allenfalls poetisch. Versucht euch einfach ein Wesen vorzustellen, in dem alle vier ineinander verschmelzen ("Urian" ist übrigens der Teufel). Das ist nicht ganz leicht, aber es handelt sich ja hier auch um ein überirdisches, namenloses Böses und nicht um eine Alltagsfigur oder um ein kitschiges B-Movie-Monsterchen.
Die vier Namen sollen bewußt Irritationen auslösen. "Khan" deutet auf einen mongolischen Welteroberer hin. "Manitou" verbindet man eher mit einer geistigen, religiösen Herrschaft. Das könnte darauf hindeuten, daß das Wesen sowohl die weltliche, als auch die geistige Herrschaft über die Erde anzutreten anstrebt, was einem Ende der Zwei-Reiche-Lehre des Augustin gleichkäme. "Manitou" ist im übrigen (seit Karl May) eher positiv besetzt, diese rätselhafte Diskrepanz zu dem Auftreten hier ist durchaus beabsichtigt. Und über "Goebbels" kann man streiten (ich streite auch innerlich noch mit mir). Aber immerhin deutet der Name auf etwas Böses hin, und wenn er jetzt als Heiland verehrt wird, zeigt das zumindest, daß einiges gewaltig aus den Fugen geraten ist. Außerdem können wir dem unterirdischen Dämon nicht vorschreiben, wie es ihm beliebt sich zu benennen. Ich denke, daß ich auch das damit sagen wollte: Daß der Dämon die Autonomie hat, sich beliebige, teilweise absurde Namen zuzulegen und daß er in seiner Machtfülle auf die "Logik" der Menschen weder Rücksicht nehmen muß noch Rücksicht nehmen will!
Wo die "Logik" des Menschen nicht mehr weiterkommt, offenbart sich seine Ohnmacht. Nicht umsonst hat Allah "100 Namen". Den alleinzigen Namen eines Wesens zu kennen, gibt Macht, so singt Rumpelstilzchen im Märchen: "Ach wie gut daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß." Den wirklichen Namen des "Khans" kennen wir nicht, unsere Logik erweist sich als zu schwach und versagt.

Und nun zum Schluß: Sorry, aber mir sind mitnichten die Ideen ausgegangen. Ich finde den Freitod der Protagonistin folgerichtig. Daß mit der Bergung der "Verschütteten" ein apokalyptisches Zeitalter anbrechen wird, habe ich oft genug angedeutet. Daß Irina die Bergung jener Kreatur, die sich als ihr Sohn ausgibt, nicht mehr erleben möchte, ist wohl verständlich.
Wie es ungefähr weitergehen wird, ist durch viele Andeutungen in der Geschichte (ich habe schon fast befürchtet, zu viele) zu konstruieren: Es bilden sich ja schon vor der Bergung Zirkel, die eine Art Satanskult betreiben. Wie wird es erst sein, wenn die, die sich "Apostel" nennen, mit ihrem "Auftrag" in die Welt hinausziehen? Überhaupt ist die Geschichte ja gespickt mit Ausdrücken wie "Vater", "frohe Botschaft", "Heiland" - alles Begriffe, die die christliche Heilsgeschichte pervertieren und in ihr Gegenteil verkehren. Ich will auch nochmal darauf hinweisen, daß die Verschütteten frech sagen: "Wir werden euch retten." Auch hier zeigt sich die Umkehrung der Weltordnung.
Selbst die Worte des Priesters sind pervertiert, der von "Sünde" spricht, wenn er in Wirklichkeit die verweigerte Verehrung des Khans und seiner Apostel meint.
Die Zeit nach der Bergung habe ich somit nur angedeutet, sie explizit auszuführen wäre der Inhalt einer ganz anderen Gattung von Literatur; sie zu schreiben habe ich von Anfang an nicht beabsichtigt.

 

Hi menedemos,

du hast eine gute Art, eine Geschichte zu erzählen. Vor allem deine Dialoge sind spannend und einfühlsam geschrieben.

Für meinen Geschmack hältst du dich allerdings zu lange an der Einleitung auf. Die könnte man bestimmt noch ein bisschen straffen. Ich hatte den Eindruck, als wolltest du alles an Wissen hineinpacken, das du über diese Grube in Erfahrung gebracht hast.

Leider hat der Schluss mich tief enttäuscht. Nachdem Demidkin von einem Auftrag gesprochen hat, den sie zu erfüllen hätten, wüsste ich doch gerne, worin dieser Auftrag besteht. Das könnte dann wirklich gruselig werden. Und den Selbstmord der Mutter verstehe ich überhaupt nicht.

Und zuletzt noch Goebbels. Warum gerade der unter die Götternamen geraten ist, verstehe ich nicht.

Aber die Geschichte hat gutes Potential. Bleib unbedingt dran und arbeite sie um.

LG
merenhathor

 

Hi Menedemos!

Zyklop:
Beim Lesen hab ich immer Bilder vor den Augen, ich stell mir all das, wovon mir erzählt wird, geistig vor. Und an dieser Stelle bin ich dann eben hängengeblieben. Mein erstes Bild hat einen Bruch bekommen, und ich wusste einfach nicht mehr, wie ich mir diesen Bohrturm vorstellen soll.
Ich denke, viele Leute lesen so. Daher ist es wichtig durch und durch stimmige Bilder zu erzeugen.

per aspera ad astra:
Diese Methode ist durchaus gerechtfertigt, ich mag auch längere Hinführungen. Aber Deine Einleitung nimmt wirklich gut die Hälfte des Textes ein, nicht nur ein Drittel. Da ist es natürlich die Frage, inwieweit sich eine so lange Hinführung im Hinblick auf die Gesamtlänge rechtfertigt und ob man seine Leser wirklich so strapazieren sollte.
Und ob man diesen Sinnspruch auf sich selbst anwendet oder anderen zur Voraussetzung macht.

Du setzt auch eine Menge Wissen voraus, z.B. muss man etwas mit dem Begriff "Oligarch" anfangen können. Versteh mich nicht falsch, ich will hier keine "intelligenten" Geschichten verbannen; aber eine kurze Erklärung, was denn Oligarchen sind, wäre sicher nicht falsch. Irgendwas nach dem Motto: "Die Oligarchen, die Mächtigsten der Wirtschaft, ..."

Aber klar, das Ganze ist eine wunderbare Methode, um seine potentiellen Leser erstmal auszusortieren. Wäre ich Polemiker, würde ich sagen: "Alle, die einen IQ unter x, die ein Bildungsniveau unter x haben, klicken bitte weg. Alle anderen sind herzlich eingeladen, weiter zu lesen."

Khan - Manitou - Urian - Goebbels:
Hm, eine nette Kurz-Abhandlung hast Du da geschrieben, wirklich, sehr informativ. :)
Aber meinst Du, dass irgendein Mensch während dem Lesen darauf kommt? In "Philosophisches" liest man ja mehr oder weniger automatisch zwischen den Zeilen, aber in Horror erwartet man doch eher "seichte" Geschichten.

Wenn man es hinbekommt, dass eine Geschichte vordergründig unterhält und auch stimmig ist, aber für Menschen, die mit der Materie vertraut sind oder von sich aus mehr im Text suchen und finden, noch weitaus mehr bietet, ist das wirklich ein Kunststück. Und ich vermute, solche Geschichten möchtest Du auch schreiben, oder?
Du bist mE auf dem besten Weg zu solchen Geschichten.
Aber im Moment überfordert Du den Otto-Normal-Leser noch.

Schluss:
Siehe auch oben.
Natürlich sind die Andeutungen verständlich. Aber meiner Meinung nach spielst Du mit den Erwartungen des Lesers, und erfüllst sie dann nicht.
So entsteht für mich eine Diskrepanz; die Einleitung ist extrem ausführlich, zum Schluss hin verlässt Du Dich darauf, dass der Leser Deine Andeutungen verstanden hat und die Geschichte geistig so beendet, wie Du Dir das gedacht hast. Man kann sich ja noch nicht mal einen eigenen Schluss ausmalen, dafür gehen Deine Hinweise zu stark in eine besondere Richtung.
Gut, natürlich spricht das Menschen mit besonderen Lesevorlieben an. Ich gehöre aber nicht zu dieser Gruppe. Ich will Dir aber nicht meine Meinung aufzwingen, nur einen Denkanstoß anbieten.

Du sprichst von zwei verschiednen Literaturgattungen; könntest Du mir das näher erläutern?


Insgesamt habe ich das Gefühl, dass Du von Deinen Lesern viel erwartest, aber im Gegenzug wenig bietest.
Zum Beispiel in Bezug auf Bildung; Du setzt wahnsinnig viel Wissen voraus, aber erläuterst in den Geschichten selbst noch nicht mal ansatzweise ein paar Punkte näher.
Vielleicht achtest Du ja bei Deinen nächsten Geschichten darauf, dass dieses Verhältnis ausgewogener ist. So wurde uns während der Ausbildung immer eingetrichtert, dass wir so schreiben und sprechen sollen, dass es auch fachfremde Leute verstehen, trotz Fachbegriffe. Und wenn Dir das als zu banal erscheinen sollte; nebenher und unauffällig bestimmte Sachen näher zu erklären, ist auch eine Kunst, die man erst üben muss.
Wenn Du das schaffst, würde es Dich auf Deinem Weg sicher ein Stückchen weiter bringen ;)

 

Hallo,
ich muss sagen, mir hat deine Geschichte recht gut gefallen...und deine Erklärung in einem späteren Beitrag hat noch geholfen, dass alles klarer wird. Ansonsten kann ich mich meinen Vor"rednern" nur anschließen, es wäre ja Schwachsinn, nochmal alles aufzuzählen...
Was ich aber wirklich nicht ganz verstehe, warum diese Geschichte in der Rubrik Horror steht...Sicher, in gewisserweise scheinen das ja lebende Tote zu sein, aber wirklich verbinden tue ich nichts dieser Geschichte mit dem Thema "Horror"...
Grüße,
Heiko

 

Hallo, Menedemos.

Also: Hut ab für Recherche und Stimmung; ich muss schon sagen, extrem atmosphärisch.
Der erste Satz beinhaltet gleich eine erstklassige Beschreibung.
Trotzdem lässt der Schluss mich völlig unbefriedigt zurück: Ich habe viel über das Unglück erfahren, und obwohl es hervorragend formuliert war, hat es Hoffung auf ein anwachsendes Tempo geschürt, dieses Tempo dann auch vorgelegt - und plötzlich ist die Geschichte zuende, verdammt! (ja ja...ich soll nicht fluchen.)
Wenn man von der Regel ausgeht, dass man überflüssiges weglassen soll (da bin ICH bestimmt nicht gut drin!), war es in deiner Geschichte tatsächlich manchmal zuviel des Guten: die Beschreibung Irinas zum Beispiel. Ich hatte ein eigenes Bild von ihr, bis du mir eins gegeben hast.
Mir haben auch die meisten Dialoge nicht gefallen; alle sprechen wie in einem russischen Märchen, und das stört mich etwas.
Trotzdem: sorgfältig konstruierte Geschichte, die mich zum Schluss aber kalt stellt wie eine getürmte Rendezvouspartnerin; erst heiß machen und sich dann verpissen gilt nicht.


Jack

 

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