Gerstmayer
Gerstmayer
Wenn ich morgens aufstehe, ist er schon lange unterwegs.
Er wartet auf mich. Er lauert mir auf.
Hat er mich erst einmal in seinen Händen, legt er die Schlinge um
meinen Hals und zieht erbarmungslos zu: Gerstmayer.
Ich stehe an der Ampel. Vor mir nur einer: Gerstmayer.
Die Ampel wird grün.
Langsam lichtet Gerstmayer den Anker, löst die Handbremse,
fährt an und würgt den Motor ab.
Er startet erneut und wartet. Er wartet bis es wieder Rot wird.
Im letzten Moment gibt er Gas und überquert die Kreuzung.
Mit einem zufriedenen Blick in den Rückspiegel überzeugt er
sich davon, daß es mir nicht mehr gereicht hat.
Auf dem Flughafen. Ferienflieger nach Las Palmas.
Die Fluggäste stehen dicht gedrängt im Shuttle-Bus, der sie
zum Flugzeug bringen soll. Der Bus fährt nicht los. Lange
Minuten vergehen. Die Luft im Bus ist heiß und stickig.
Außerdem fällt mir auf, gibt es immer mehr Menschen, die
nur einmal die Woche das Hemd wechseln.
Deswegen fährt der Bus aber trotzdem nicht los. Kindergeschrei.
Kindergeschrei und alter Schweiß. Mir wird schummrig.
Ich frage eine Dame des Bodenpersonals warum es denn nicht
endlich losginge, wir hätten bereits 15 Minuten Verspätung.
"Tut mir leid", antwortet sie höflich, "aber wir warten noch auf
einen Fluggast."
In der Hand hält sie eine Liste mit den Namen der Passagiere.
Hinter jedem Namen ist ein Häkchen. Hinter jedem bis auf einen.
Nach nochmals fünf Minuten - der Kohlendioxidgehalt der Luft ist
inzwischen gefährlich hoch – betritt der letzte noch fehlende Fluggast
den Shuttle-Bus und die Dame des Bodenpersonals macht ihr letztes
Häkchen. Hinter dem Namen Gerstmayer.
Natürlich sitzt Gerstmayer im Flugzeug neben mir am Fenster.
Und natürlich muß Gerstmayer gleich nach dem Start pinkeln:
Ich stehe auf, gehe beiseite, Gerstmayer drückt sich an mir vorbei,
ich setze mich wieder hin.
Nach ein paar Minuten kommt er wieder, ich stehe auf, gehe beiseite,
er drückt sich an mir vorbei, setzt sich hin, ich setze mich hin.
Das ganze wiederholt sich etwa siebenmal. Natürlich ist mir klar,
er muß nicht pinkeln. Das macht er nur um mich zu drangsalieren.
Sein höhnisches Gelächter auf der Toilette kann ich jedesmal
deutlich hören.
Am Zielflughafen beginnt der Krieg um die Koffer-Trolleys.
Gerstmayer versteckt sich hinter einer Säule und beobachtet
mich.
Ich sehe den letzten noch freien Trolley und eile drauf zu.
Nur noch wenige Meter. Da grätscht mir Gerstmayer dazwischen,
schnappt sich den Trolley und legt seine Aktentasche drauf ab.
Ich spüre seine schadenfrohen Blicke, als ich meine schweren
Koffer durch den Flughafen schleppe.
Alle Ferien gehen einmal zu Ende und der Rückflug ist erst
spät am Abend. Als wir ankommen sind nur noch wenige Taxis
da. Unnötig zu erwähnen, wer sich das letzte Taxi vor meiner
Nase ergattert.
Im Supermarkt steht er vor mir an der Kasse. Jedesmal.
Wenn ich den Supermarkt betrete, halte ich instinktiv Ausschau
nach ihm. Ich kann ihn aber nicht sehen. Flach auf dem Boden
liegend, hinter einem Kühlregal, beschattet er mich.
Begebe ich mich mit meinem Einkaufswagen zur Kasse, springt
er plötzlich hervor und drängt sich vor mich.
Und er wird wieder erbarmungslos zuschlagen.
Dabei spielt er drei Varianten:
- er versucht ein halbes Pfund Butter mit einem 500€-Schein zu bezahlen.
- er hat zu wenig Bargeld dabei und überlegt, welche Ware er zurücklegt.
- er will mit Kreditkarte zahlen, die jedoch nicht lesbar oder abgelaufen ist.
Alle drei Möglichkeiten führen zu Diskussionen. Zunächst mit der
Kassiererin, später mit der hinzugerufenen Geschäftsleitung.
Die Zeit läuft unerbittlich weiter.
Ich komme ins philosophieren: Die Vergänglichkeit alles Seins;
Gerstmayer jetzt von hinten zu meucheln, wäre das Notwehr ?
Bei meinem letzten Arztbesuch schien ich Glück zu haben.
Ich war der Erste und Einzige im Wartezimmer. Ein gutes
Zeichen.
Nach einer viertel Stunde ging die Tür auf. Gerstmayer kam herein,
setzte sich kurz und wurde ins Behandlungszimmer gerufen. Vor mir.
Wie kann das sein ? Ich bin lange vor ihm da und er kommt trotzdem
vor mir dran ?
Das gleiche passiert mir natürlich auch beim Friseur.
Ich habe noch nicht durchschaut, wie er die Sprechstundenhilfe
oder die Friseurin besticht. Aber er tut es. Dessen bin ich mir
sicher. Und er tut es nur bei mir.
Alle anderen Menschen interessieren ihn nicht.
Gerstmayer macht nie Pause. Er schläft niemals.
Von Zeit zu Zeit klingelt mitten in der Nacht das Telefon.
Erschrocken fahre ich aus meinem Bett hoch.
Was mag passiert sein ? Doch nichts mit den Kindern ?
Aber es ist nur Gerstmayer, der sich verwählt hat.
Hat er natürlich nicht. Gerstmayer verwählt sich nicht.
Es ist reines Kalkül.
Er steht auf der Straße, wartet bis bei mir das Licht ausgeht.
Er wartet nochmal eine Weile, bis ich sicher tief und fest schlafe.
Erst dann ruft er an.
Wenn ich über den Sinn des Lebens nachdenke, so habe ich
ihn, was mich betrifft, noch nicht erkannt.
Bei Gerstmayer weiß ich es ...