Germania - Whole lotta love
Germania: Whole lotta love
Wabernde Gitarrenklänge hallten über den Innenhof des alten Mietshaues, dann die kreischende Stimme eines britischen Sängers: “You need coolin’. Baby I’m not foolin’. I’m gonna send you back to schoolin’...” Die beiden Männer mit langen, dunklen Ledermänteln und breitkrempigen Hüten sahen sich an. “Das ist doch nicht mal richtig Englisch”, sagte der eine und fügte “ich schätze im zweiten Stock!” hinzu. Der andere nickte nur. Auf dem Hof war niemand sonst. Falls das hier einmal eine gute Wohngegend gewesen war, lag es geraume Zeit zurück. An einigen Stellen bröckelte der Putz bereits von den Wänden.
Die beiden geheimnisvollen Gestalten hatten genug gesehen und gehört. Sie gingen wieder in das Treppenhaus. Ein kleiner untersetzter Herr mit schütterem Haar, etwa fünfzig Jahre alt, kam ihnen entgegen und begrüßte sie mit einem donnernden “Heil Hitler!”. “Ja, ja. Heil Hitler”, entgegnete der eine und der andere hob nur leicht die rechte Hand.
Der kleine Mann ließ sich nicht beirren. “Mein Name ist Fritz Lipsky und ich bin hier der Hauswart. Ich hab schon immer gesagt, die Jugend von heute ist zu nichts mehr nütze! Die ganze Zeit hocken sie nur zu Hause rum und hören diese Negermusik. Die ist doch verboten, oder? Undeutsch, nicht wahr?” Er lächelte und seine Augen schienen zu glänzen.
“Das Informationsministerium hat dazu eine differenzierte Meinung, Herr Lipsky. Einiges ist entartet. Wir werden prüfen, ob das hier der Fall ist. Wo wohnt der junge Mann?” Während der eine Mantelträger mit dem Hauswart sprach, zündete sich der andere eine Zigarette an.
“Im zweiten Stock, links. Und es ist eine junge Frau! Ihr Name ist Andrea Weinhaus.”
“Eine junge Dame sagen Sie, und sie wohnt allein?”
Der Hauswart schien etwas verwirrt und blickte die beiden Männer abwechselnd an. “Ja... Ja, ja.”
“Wie alt ist sie?”
“Ich glaube vierundzwanzig.”
“Und es wundert Sie gar nicht, dass eine junge Frau in diesem Alter alleine wohnt?”
Der kleine Mann wurde nun zusehends unsicherer. “Ich bin hier nur der Hauswart wie soll ich...”
“Geht sie dem Gewerbe nach?”
“Wie meinen Sie das?”
“Bekommt sie häufig Männerbesuche oder bleibt abends sehr lange weg?”
“Nein.” Der kleine Mann machte eine Pause. “Nein, nein.”
“Sie kennen Ihre Pflichten als Hauswart?”
Nun fing der Hauswart auch noch an zu schwitzen. “Aber natürlich, sonst hätte ich Sie doch nicht angerufen.”
“Also gut. Gehen Sie zu unserem Kollegen im Wagen. Er nimmt ihre Personalien auf. Sie bekommen die Belohnung, falls wir etwas finden.”
Lipsky schien nicht zu verstehen. “Draußen!”, fügte der eine Mantelträger hinzu und sah zur Haustür. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des kleinen Mannes, dann drehte er sich um und ging.
Während der eine schnell ein paar Gesprächsnotizen in einen abgegriffenen Block machte, warf der andere seine Zigarette weg, trat sie aus und stieg Stufe für Stufe die Treppe hoch in den zweiten Stock. Sein Kollege folgte ihm kurz darauf. Schließlich standen Sie vor der Wohnungstür von Andrea Weinhaus und der eine klingelte während der andere die Pistole aus dem Holster zog und sie entsichert in der rechten Außentasche seines Mantels verbarg.
Aus der Wohnung drangen schrille Gitarrenklänge und schließlich “way down inside... Woman... you need it...”. Dann brach die Musik abrupt ab und eine Frauen mit sanfter Stimme fragte: “Wer ist da?” “Gestapo. Öffnen Sie!”, schrie der eine und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. “Sofort aufmachen!”
Als sich die Tür zögerlich einen kleinen Spalt weit öffnete, warf er sich blitzartig mit dem ganzen Körper dagegen. Die Kante traf Angela Weinhaus mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Sie fiel nach hinten und er stürzte sich auf sie, packte sie am Arm und drehte ihn ihr unsanft auf den Rücken. Mit einem kurzen Klick schlossen sich die Handschellen um ihre Gelenke. Der andere stürmte an den beiden vorbei in die kleine Wohnung und sah sich um. Niemand außer Angela war hier. Viel zu sehen gab es auch sonst nicht. Eine typische Studentenbude: Plattenspieler, Poster, ein paar Flaschen Wein und nur wenig Möbel. Auf den ersten Blick nichts Verdächtiges. Aber so war es immer.
Angela Weinhaus kauerte am Boden. Aus ihrer Nase tropfte Blut, doch das nahm sie kaum wahr. Dröhnende Schmerzen pulsierten durch ihren Kopf. Wahrscheinlich war auch ihre Nase gebrochen. Nur langsam drang die Stimme eines der beiden Mantelträger in ihre zäh fließenden Gedanken: “Sind sie Angela Weinhaus? Es besteht der begründete Verdacht, dass sie volksverhetzende und kulturschändliche Musik hören und verbreiten. Das ist ein Verstoß gegen Paragraph vierzehn des Informationsgesetzes.”
Angela hatte die Augen geschlossen. Das grelle Licht der Flurlampe verschlimmerte ihre Schmerzen sobald sie das Lid etwas öffnete. Die ganze Welt schien sich zu drehen, immer schneller. So sehr sie es sich auch wünschte, es war kein böser Traum und die beiden Männer in den Ledermänteln waren so real wie die Handschellen an Angelas Gelenken. Obwohl sie es nicht sehen konnte, spürte sie genau, wie der eine der beiden sich zu ihr herab beugte. Mit noch lauterer Stimme fragte er noch einmal: “Sind Sie Angela Weinhaus?”
Schließlich brachte sie ein wimmerndes “Ja” heraus und das schien den beiden Gestalten zu genügen. Sie interessieren sich nun mehr für ihre Wohnung, öffneten die beiden Schränke, schütteten den Inhalt von Schüben auf den Boden, durchstöberten die Plattensammlung. Als sie damit fertig waren, hob der eine Angela grob vom Boden hoch und setze sie ebenso grob auf den einzigen Holzstuhl, der normalerweise in der Küche stand. Dann hielt er ihr die Außenhülle einer Langspielplatte unter die Nase und fragte: “Gehört diese Schallplatte Ihnen?”
Obwohl Angela in ihren Zustand gar nicht richtig erkennen konnte, was ihr der Mann genau zeigte, antwortete sie wieder mit “Ja”. Sie wünschte sich in diesem Augenblick nur eines: dass der Schmerz nachließ. Wenn die Männer das hatten, was sie wollten, würden sie vielleicht verschwinden, aber der eine schien noch eine ganze Reihe Fragen zu haben: “Es ist Ihnen doch hoffentlich klar, das das schauerliche Gewimmer der britischen Rockgruppe Led Zeppelin hier in diesem Land verboten ist, und das aus gutem Grund?”
Noch immer konnte Angela wegen ihrer Schmerzen nicht klar denken, sah aber nun den Mantelträger mit großen Augen an. Schließlich antwortete sie, ohne es eigentlich wirklich zu wollen: ”Nur die erste. Die zweite ist erst letzte Woche erschienen.” Die beiden Männer sahen sich an. Der eine knurrte: “Ach, die Spinner im Informationsministerium schaukeln mal wieder mit den Eiern und wir dürfen den Mist ausbaden. Warum verbieten die nicht gleich alle Platten einer Band. Von den Rolling Stones sind auch einige erlaubt, andere nicht, da soll mal einer durchblicken. Ich tu’s jedenfalls nicht.”
Dann sah er sich die Hülle der Platte genauer an. Darauf waren nur ein paar Männer abgebildet, die offensichtlich deutsche Uniformen trugen. Darüber stand in einer kleinen Wolke “Led Zeppelin” und die römische Ziffer zwei. Einige der Männer waren wohl die Bandmitglieder selbst. Vielleicht waren sie Bewunderer des Deutschen Reichs, dann hätte das Informationsministerium sicher ihre Musik auch nicht auf den Index gesetzt. Möglicherweise war des Verbot der ersten Platte auch nur ein Missverständnis. Das Informationsministerium machte seine Entscheidungen aber nie rückgängig. Jedenfalls bis jetzt nicht. Genauso gut konnte es sein, dass in den nächsten Tagen das Verbot für diese Platte herauskam.
Der eine zögerte noch einen Moment, dann zog er einen brauen Klumpen aus seiner Tasche. “Wissen sie was das ist, Fräulein Weinhaus?” Angela hatte noch immer Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu erkennen. “Ich werde ihnen sagen, was das ist: Tetrahydrocanabinol, manchmal auch Haschisch genannt. Und das haben wir in ihrem Küchenschrank gefunden. Wie erklären sie sich das?”
Der Albtraum nahm kein Ende. Andrea starrte den Mantelträger mit offenem Mund an. Haschisch, das war doch das Zeug, das britische Jugendliche während wilden Partys rauchten. Angeblich war der Rauschzustand bewusstseinserweiternd. Das war es, was Angela darüber gehört hatte.
“Sie sind hiermit festgenommen, Fräulein Weinhaus, wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Haben sie dazu noch etwas zu sagen, bevor wir sie mit aufs Revier nehmen?” “Ich, ich... Nein, ich...”, ihr Schädel schien vor Schmerz zu zerspringen und sie konnte noch immer keinen vernünftigen Gedanken fassen.
Die Gestapomänner waren auch gar nicht daran interessiert, was sie dazu zu sagen hatte. Sie packen Angela unsanft an den Armen, der eine rechts der andere links, und schleppten sie so die Treppe hinab. Die junge Frau war noch zu benommen, um sich ernsthaft zu wehren, aber es hätte ihr auch nicht viel geholfen, denn im Wagen wartete noch ein dritter Gestapomann, der so aussah, als wäre er früher Preisboxer gewesen.
Die beiden Mantelträger warfen Angela auf den Rücksitz, verschlossen die Türen und sahen dem Wagen noch eine Weile nach, bis er um die Ecke bog. Der andere zündete sich wieder eine Zigarette an und zog sehr heftig daran. “Weißt du, wie sehr ich diese Arbeit hasse?” Der eine sah ihn nur fragend an. “Ich hab die Schnauze wirklich voll. Immer müssen wir den Chef mit Frischfleisch versorgen, damit sich der Hurenbock die Hörner abstoßen kann. Das ist doch widerlich. Seit in diesem Land Ficken für Geld verboten ist, drehen alle durch. Ekelhaft!”
Der eine zuckte mit den Schultern. “Wir hätten uns damals eben nicht erwischen lassen dürfen. Ich hab jedenfalls keine Lust auf Umerziehungslager. Man hört die schlimmsten Dinge.” Der andere zog wieder an seiner Zigarette, machte sich aber nicht die Mühe, den Rauch aus der Lunge zu blasen. Während er sprach, kamen kleine Qualmwölckchen aus seinem Mund: “Meine Frau würde das nie verkraften und mein Sohn würde mich dafür hassen. Eher bringe ich mich um.”
“Nun mach mal halblang, jeder macht mal einen Fehler. Weißt du was, wir sollten mal wieder in der Pension Schmidt nach dem Rechten sehen. Wär das nix?” Der andere sagte nichts dazu und zog wieder an seiner Zigarette. Der eine ließ sich aber seine gute Laune nicht verderben. “Pass auf, du rufst jetzt deine Frau an und sagst ihr, dass wir heute etwas länger brauchen und dann machen wir uns so einen richtig tollen Abend. Deine Frau schläft bestimmt schon, wenn du nach Hause kommst. Aber eines sag ich dir: Die kleine Rothaarige krieg diesmal ich.” Der andere kaute noch eine Weile auf seiner schon sehr kurzen Zigarette herum und warf sie dann weg. “Warum eigentlich nicht? Schlimmer werden kann’s eh nicht, was soll’s.”
Schnellen Schrittes liefen die beiden Männer die Straße hinab und bogen an der nächsten Kreuzung links ab. In der hereinbrechenden Dunkelheit war auf den Gehsteigen kaum jemand unterwegs und nur selten fuhren ein paar Autos die Straße entlang. Es war still auf Deutschlands Straßen – und sicher!