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Gerlinde

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07.01.2015
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Gerlinde

Gerlinde

Estelle, Catherine, Marie vielleicht sogar Marie- Claire, so hätte ich heißen müssen. Klingend, weich fließend, die Zunge streichelnd, schon mein Name wäre eine Melodie. „GERLINDE!“ höre ich mich selbst sprechen, „Gerlinde“ versuche ich es sanfter, aber dieser Name liegt mir bitter auf der Zunge. Was hat sich Vater nur dabei gedacht. Gerlinde ist ein Urteil, eine schlimme Diagnose ohne Therapie und Aussicht auf Heilung. Gerlinde Hausmann, die dicke Putzfrau von nebenan. Was sonst. Manchmal, wenn ich die Apotheke aufschließe, stelle ich mir vor, sie gehöre mir. Ich bin die hübsche Pharmazeutin und mein Kittel wäre weiß nicht blau, mein Haar blond zu einem feinen Knoten im Nacken zusammengesteckt. Ich fahre mir über den Kopf und spüre, wie mein borstiges Haar durch meine Finger gleitet, natürlich kurz und braun. Schnell husche ich an der Standuhr vorbei, um mich nicht im Spiegel der Glastür anschauen zu müssen.
Gleich ist es Mitternacht und der Tag meiner Geburt jährt sich zum 40. Mal.
Groß und hell, in altrömischen Ziffern trohnt die alte Standuhr über mir. Sie beobachtet mich seit Jahren. Zeugin meiner Vergänglichkeit, Maßstab meiner Zeit und quälender Beweis meiner Einsamkeit. Dennoch, ich versuche sie mit einer gewissen Grazie abzustauben, nicht mehr ganz eine Stunde und sie wird gellend über mich herfallen. Zwölf mal wird sie läuten, sie wird mich läutern und nach mir rufen: „Gerlinde, wie siehst Du aus heute. Gerlinde kämm Dich. Gerlinde, dass kannst Du nicht, hässlich mein Fräulein, hässlich, hau ab!“

„Gerlinde, Gerlinde“, mein Name fließt durch meine Ohren wie das Blut durch meine Venen. Manchmal schüttele ich einfach den Kopf, in der Hoffnung, die Worte fallen einfach aus meinen Ohren. Vergebens. Ich arbeite einfach weiter. Zitrusduft verteilt sich langsam im ganzen Raum, mein Staubwedel gleitet sanft über die Oberfläche des Tresens, über Tablettenschachteln, Röhrchen und Gläser. Medizin gegen Bauchschmerzen, Halsschmerzen, gegen Schnupfen und Husten, zur Beruhigung, zum Schlafengehen und Wachwerden, hier gibt es einfach alles. Ob es was gegen Gerlinde gibt? Lautlos gleitet eine kleine blaue Schachtel mit grünen Buchstaben in die Tasche meiner Kittelschürze. Ich schaue mich um, nur die Pappfigur aus dem Schaufenster hat es gesehen.
Da klickt es noch einmal in der Standuhr, das Ziffernblatt ist hell erleuchtet, großer und kleiner Zeiger innig vereint, der Klöppel atmet noch einmal durch um Schwung zu nehmen. Doch noch vor dem ersten Gongschlag verstummt die Uhr und steht still.

Es muss laut gescheppert haben, als die mächtige Standuhr stöhnend zu Boden fiel. Tausend kleine Scherben sind wie ein Schwarm Mücken durch die Luft geflogen und bedecken ihn. Vorsichtig zupfe ich die kleinen Kristalle aus meinem Haar. Blut rinnt mir an den Händen runter, tropft in dicken warmen Klecksen auf meinen blauen Kittel. Der Boden ist kalt und staubig. Meinen Sturz habe ich nicht bemerkt. Niemand hat ihn bemerkt. Doch noch bevor der erste Gongschlag tönte, hatte ich ihr das Herz aus dem Leib gerissen. Ich schließe die Augen und lausche, sie schweigt, endlich.
Nur der Wind, der den kalten Winter durch die Straßen treibt, heult ohne Unterlass. Ich liege am Boden, ich atme ein, ich atme aus, ich atme ein, ich versuche nicht mehr zu atmen aber es atmet von ganz allein. Meine Gedanken kreisen und ich frage mich, ob er sich meinen Namen schon vor meiner Geburt ausgedacht hatte? Vorsichtig, aber bestimmt drängt sich das Licht durch die Schaufensterdekoration, vorbei an der lebensgroßen Pappfigur, die erhaben über mir steht. Vorsichtig blinzele ich und putze meine Hände an meinem Kittel ab, er ist ja eh nur blau. . . und der schöne Tresen, schnell mache ich ihn sauber, Glassplitter fallen erneut zu Boden, meine Beine sind weich und ich halte mich immer wieder fest, bis die Verkaufsfläche reinlich und die Apotheke von den Spuren der Nacht befreit ist. „Gerlinde, was hast Du gemacht?“ flüstert mir die lächelnde Pappfigur zu und ich schaue beschämt zu Boden.
Der Schlüssel klickt leise, das Schloss ist eiskalt, meine Hände sind steif und ich drehe mich noch einmal um, stumm und ohne Glanz schaut mir die Standuhr hinterher, als ich die Apotheke sicher verschließe, es könnte ja meine sein. Mit einem Schritt hat mich die Nacht gefangen, Eiskristalle legen sich sanft auf mein Haar, ich schließe die Augen, während der Winter unter meinen Kittel kriecht. „Denkt er heute an mich?“
Noch einmal betrachte ich die Pappfigur die mir nun freundlich aus dem Schaufenster zu winkt.
Die Kirchturmuhr schlägt zwei. Lioba, welch ein prunkvoller Name, ein Geschenk für die Ohren. Lioba, die Liebende. Niemals würde ein Gottesgeschöpf Gerlinde heißen. Schnell bin ich auf der anderen Straßenseite bei Lioba. Sie hat keine Tür, sie hat ein mächtiges Tor, groß und schwer, dunkle Metallbeschläge sichern ihr die Zukunft. Eigentlich gehe ich nicht in die Kirche. Ich glaube nicht, natürlich nicht, Vater hat mich nicht getauft. Das Tor kreischt leise, als ich es vorsichtig, aber mit aller Kraft öffne, dann schleicht es ächzend wieder zurück in sein Schloss. Die Straßenlaternen leuchten schwach durch die bunten Scheiben der Kirche und hüllen Lioba festlich und friedlich ein.
Nur wenige besuchen sie in der Nacht. Eine alte Frau kniet ehrfürchtig in der letzten Reihe, ihr alter runder Rücken zusammengesackt, ihr Gesicht in runzligen Händen vergraben, sie schläft. Sie hört mich nicht. Sie hört nicht, wie die blaue Schachtel mit der grünen Schrift zu Boden fällt. Sie bemerkt auch nicht, wie ich mir mit der Hand das gesegnete Wasser vorsichtig zum Mund führe. Lautlos gleitet das Mittel des ewigen Schlafs, vereint mit dem heiligen Wasser der Seeligkeit, meine Kehle hinab und verbreitet seinen bittersüßen Frieden. Würde ich glauben, ich würde beten. Meine Zunge wird schwer, mein Körper warm, mein Herz wird warm, fast beschwingt. Da höre ich jemanden schnaufen, mit tiefen ruhigen Atemzügen, „Vater? Bist Du das?“ Meine Augen können ihn nicht finden. Sicher sitzt er weiter vorne und wartet auf mich. Vielleicht ist er eingeschlafen. Ich gehe zu ihm. Nein, ich gehe nicht, ich schreite. Es könnte ja meine Hochzeit sein. Meine Füße schleifen über die blanken kalten Fliesen. Nur noch schwer erkenne ich die Konturen der Kirchenbänke. Stolz schreite ich den Gang entlang, die Augen halb geschlossen, den Arm angewinkelt. Vater will sich sicher gleich bei mir einhaken, wenn er mich zum Traualtar führt. Ich schreite und ich lächele, was ein schöner Geburtstag.

 

Hallo dieBiene,

auch wenn meine Meinung hier wirklich nicht massgeblich ist, mir hat es gefallen. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Idee mit Lesen aufzuhören. Nur zum Ende hin habe ich irgendwie den Kontakt zur Handlung verloren, was aber im Moment eher meiner allgemeinen Unkonzentriertheit geschuldet ist.


Gruß
Simbad

 

Hallo dieBiene,

auch wenn meine Meinung hier wirklich nicht massgeblich ist, mir hat es gefallen. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Idee mit Lesen aufzuhören. Nur zum Ende hin habe ich irgendwie den Kontakt zur Handlung verloren, was aber im Moment eher meiner allgemeinen Unkonzentriertheit geschuldet ist.


Gruß
Simbad


Danke fürs Lesen und die kurze Rückmeldung ;-).

 

ach so geht das ... nochmal ... ich freue mich über jede Rückmeldung.

Herzlich die Biene

 

Hallo Biene,

ich finde die Geschichte hat einen ziemlich guten Anfang. Zur Mitte hin bin ich irgendwie ausgestiegen. Das wurde dann alles etwas verwirrend. Dein Schreibstil gefällt mir, obwohl Du noch etwas an Wortwiederholungen arbeiten könntest.

mein Name fließt durch meine Ohren wie das Blut durch meine Venen. Manchmal schüttele ich einfach den Kopf, in der Hoffnung, die Worte fallen einfach aus meinen Ohren. Vergebens. Ich arbeite einfach weiter.
diese Wiederholungen klingen nicht gut und lassen sich leicht vermeiden.

„Denkt er heute an mich?“
Habe ich etwas verpasst? Wer denkt an sie? Ihr Vater?

Und wer ist Lioba? Vielleicht bin ich schwer von Begriff, aber heißt die Kirche so?

Schnell bin ich auf der anderen Straßenseite bei Lioba. Sie hat keine Tür, sie hat ein mächtiges Tor,
also ein Gebäude, das ein Tor hat, aber im folgenden schreibst Du:
Die Straßenlaternen leuchten schwach durch die bunten Scheiben der Kirche und hüllen Lioba festlich und friedlich ein.
ja, sehr verzwickt:confused:

Vielleicht solltest Du noch mal drüber gehen und etwas deutlicher werden, sonst macht es keinen Spaß.

Viele Grüße,
Kerkyra

 
Zuletzt bearbeitet:

Gerlinde ist ein Urteil, eine schlimme Diagnose ohne Therapie und Aussicht auf Heilung. Gerlinde Hausmann, die dicke Putzfrau von nebenan.

Hallo Biene –
ich lass mal den Artikel weg, denn dervrîdel werd ich mich zum Schluss nicht nennen,
und also herzlich willkommen hierorts,

liebe Biene –
was spräche denn gegen Gerlinde? Es ist ein alter Name, der selbst im Epos um Kudrun vorkommt (m. E. einer Variante des Nibelungenliedes, nur, dass Kudrun/Gudrun und damit auch Gerlinde Frieden stiften, statt wie Grimhild im NL Rache zu suchen). Gerlinde ist die sanfte Waffe - ist Ger der Speer, so „lind“ tatsächlich lind und sanft, das Gegenteil halt vom Gerhard). Also, was spräche in terroristisch-kriegerischen Zeiten gegen den Namen Gerlinde?
Nix!, sag ich mal.

Meine Gedanken kreisen und ich frage mich, ob er sich meinen Namen schon vor meiner Geburt ausgedacht hatte?
Das kenn ich: Als klar war, dass ein Mädchen komme, flaxte ich mit der künftigen Mutter herum, wie das Würmchen denn heißen solle, und ich schlug – damals drang die Globalisierung vor allem übers Marketing auf* uns ein – Caloderma, Schauma und – besonders Qualität ausstrahlend – Nivea … Kurz: Die geborene Litfaßsäule! Da ist die klare (claire) Meerjungfrau (Marie) nicht weit von entfernt. Nomen est omen, und nicht wie der Teufel meint, Namen wären Schall und Rauch! Und Lioba kam mit Bonifatius im achten Jahrhundert nach Mitteleuropa …

Also: Man wie frau ehre die Väter!, schließe die Mütter dabei nicht aus und halte sich zurück in der Behauptung

Niemals würde ein Gottesgeschöpf Gerlinde heißen
was zu widerlegen war.

Du hast – so finde ich – einen feinen Humor, dass wir sicherlich noch viel Spaß miteinander (incl. allen andern hierorts, kann ja keinen ausschließen) haben werden. Gleichwohl muss vor allem andern die Zeichensetzung stimmen (ein falsch gesetztes Zeichen vermag schon Kurioses auszulösen) – für Kleist – der „eigentlich“ Dramatiker werden wollte, waren sie vor allem Regieanweisungen. Nun gut, vorgelesen, also als gesprochenes Wort fielen sie gar nicht erst auf, die vor allem fehlenden Zeichen. Da werden zunächst Kommas zwischen Aufzählungen – in diesem Fall Adjektive, die von gleichem Range sind, wie

in dicken[,] *warmen Klecksen
Du wirst das merken, wenn Du schadlos ein „und“ dazwischen setzen kannst, wie denn auch hier (probier’s einfach aus:
… ihr alter runder Rücken … // … die blanken kalten Fliesen …

Gelegentlich ist eine Infinitivgruppe abzutrennen vom Hauptsatz
… der Klöppel atmet noch einmal durch[,] um Schwung zu nehmen.
Ich liege am Boden, ich atme ein, ich atme aus, ich atme ein, ich versuche[,] *nicht mehr zu atmen[,] aber es atmet von ganz allein.
Womit wir schon beim bescheidenen „aber“ sind, das oft auch nach einem Komma schreit, denn Nebensätze wie Einschübe haben Anfang und Ende – wie das richtige Leben halt,*
Vorsichtig, aber bestimmt[,] *drängt sich das Licht durch die Schaufensterdekoration,
was natürlich gleichermaßen für Relativsätze gilt:
Noch einmal betrachte ich die Pappfigur[,] die mir nun freundlich aus dem Schaufenster zu winkt.
(vllt. solltestu auch das „zuwinken“ zusammenführen …)

Letztlich wäre auch ein Komma hier nach der wörtl. Rede anzuführen, da der Satz ja eigentlich weitergeht

„Gerlinde, was hast Du gemacht?“[,] *flüstert mir …

Einmal schlagen die Finger auf die Tastatur falsch ein (Kollateralschaden heißt so was in unfriedlichen Zeiten)
Groß und hell, in altrömischen Ziffern trohnt
Okay, das Thrönchen kommt noch aus Zeiten, da hierzulande das tea-aitsch auch noch ohne Schaden von der Zunge kam ...

Und hier wären Leertasten vor und nach den Auslassungspunkten angesagt

…, er ist ja eh nur blau. . . und der schöne Tresen …
Aber das weißtu sicherlich schon von anderer Stelle ...

Letztlich meine ich, wäre dieser Absatz, wie im ersten Teil ja verwendet, der Konjunktiv anzuwenden

Manchmal, wenn ich die Apotheke aufschließe, stelle ich mir vor, sie gehöre mir. Ich bin die hübsche Pharmazeutin und mein Kittel wäre weiß nicht blau, mein Haar blond zu einem feinen Knoten im Nacken zusammengesteckt.
und präziser? Konjunktiv II, also besser
Manchmal, wenn ich die Apotheke aufschließe, stelle ich mir vor, sie gehör[t]e mir. Ich [wäre] die hübsche Pharmazeutin und mein Kittel wäre weiß[,] nicht blau, mein Haar blond[,] zu einem feinen Knoten im Nacken zusammengesteckt.

Ich glaube nicht, natürlich nicht, Vater hat mich nicht getauft.
So isset auch bei mir … und beim Würmchen.

Gruß

Friedel,
der noch ein gutes Restjahr wünscht!

 

Guten Abend,

vielen Dank für die Rückmeldungen. Damit kann ich etwas anfangen. Meine Zeichensetzung schockiert mich gerade selbst ;-(

Ja, Lioba ist eine Kirche. Und den Namen Gerlinde auseinander zu nehmen, auf die Idee bin ich nicht gekommen. Ich wollte einfach, dass meine Figur ihren Namen scheußlich findet.

Hallo Friedel und ja, der Konjunktiv II klingt besser ;-)

Viele liebe Grüße
dieBiene

 

Hallo Kerkyra

Lioba ist eine Kirche. Ich dachte an eine Kirche mit einem großen Tor :D nun gut, da werde ich mir mal etwas überlegen.

Danke dir. Liebe Grüße dieBiene

 

Ich noch ma`,

Biene (wenn ich darf?),

Meine Zeichensetzung schockiert mich gerade selbst ;-(

Ja, Lioba ist eine Kirche. ... Ich wollte einfach, dass meine Figur ihren Namen scheußlich findet.


Nur keine Panik, erledigt sich alles im Laufe der Zeit von selbst. Und rechtfertigen brauchstu Dich auch nicht,

findet zumindest der

Friedel

 

Liebe Biene,

ich fand deine Geschichte sehr unterhaltsam, auch wenn ich zwischendurch Verständnisschwierigkeiten hatte. Was genau ist mit der Standuhr passiert? Ist sie hingefallen, wurde sie wieder aufgerichtet? Sie scheint ja ein wichtiges Detail in der Geschichte zu sein, vielleicht könntest du da noch etwas genauer beschreiben.

Und wer denkt an sie in der Nacht? Der Vater oder ein Geliebter?

Das Detail, dass sie als Ungläubige Weihwasser benutzt um das Schlafmittel zu schlucken, mit dem sie sich das Leben nimmt, finde ich übrigens sehr gelungen!

Liebe Grüße,
Lena

 

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