Gerlinde und Hermann
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vielleicht haben Sie es ja bereits aus dem Rundschreiben IR-25/7 vom 23.2. erfahren. Aus brandschutztechnischen Gründen müssen alle Grünpflanzen aus den Fluchtwegen entfernt werden. Davon sind, wie eine Nachfrage meinerseits beim zuständigem Brandschutzbeauftragten ergab, auch meine geliebten beiden Gummibäume, Gerlinde und Hermann, betroffen. Seit meinem Dienstantritt vor nunmehr 28 Jahren habe ich sie liebevoll gepflegt, umsorgt und ihnen den Staub von den Blättern gewischt. Sie waren mir all die ganzen Jahre Trost und Erbauung in einem manchmal tristen Arbeitsalltag. Sie haben mir zugehört, wenn ich mal jemanden zum Reden brauchte, und durch das lustige Spiel ihrer Blätter im Morgengrauen so manchen grauen Morgen in einen sonnigen Tag verwandelt. Deshalb an dieser Stelle meine Bitte an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn Sie eine Möglichkeit sehen Gerlinde und Hermann in ihrem Büro Asyl zu gewähren, dann setzen Sie sich bitte umgehend mit mir in Verbindung. Unter der Durchwahl 28 erreichen Sie mich jederzeit in meinem Büro.
Herzlichen Dank auch im Namen von Gerlinde und Hermann.
Dr. Ansgar Lenz (Abteilungsleiter)
Sehr geehrter Herr Lenz!
Ich habe mit Entsetzen die Zeilen an ihre Kolleginnen und Kollegen gelesen. Gerlinde und Hermann sind nicht nur Ihnen, sondern auch anderen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung ans Herz gewachsen. Ich würde ihnen gerne eine neue Heimstatt in meinen bescheidenen 12 Quadratmetern anbieten. Doch kennen sie die Eifersucht einer fleischfressenden Pflanze? Sie sieht so harmlos und friedlich aus, wie sie so neben der Kaffeemaschine steht und mit ihrem offenen Mäulchen daran gemahnt, die 50 Cent in die Kaffeekasse zu werfen. Doch versuchen Sie nie sie zu reizen. Einem Kollegen, der mir regelmäßig mit Blumengestecken seine Aufwartung machte, hat sie einmal aus lauter Eifersucht fast die Fingerkuppe abgebissen. Ich weiß also nicht, ob sie sich verstehen werden. Aber warum können Sie ihnen eigentlich nicht in ihrem Büro ein schönes Plätzchen einrichten?
Mit vorzüglicher Hochachtung
Dorle May (Sekratariat)
Liebe Frau May!
Vielen Dank für Ihr Verständis. Ich würde Gerlinde und Hermann nur zu gerne in meinem kleinen Refugium eine Bleibe bieten, doch es mangelt an Platz. Über meinem Schreibtisch erhebt sich majestätisch Anke, die Ranke, und zwischen Tisch und Tür hat sich Liane, wie sie wahrscheinlich schon vermutet haben, eine Schlingpflanze, ein eigenes kleines Biotop geschaffen. Das hält einem lästige Besucher vom Hals und verbreitet ein gutes Raumklima. Aber ich wäre entzückt, wenn wir die Gerlinde und den Hermann bei Ihnen unterbringen könnten, auch weil ich Ihnen, vereehrte Kollegin, dann einmal häufiger einen Besuch abstatten könnte, um Ihre beiden Pflegekinder zu besuchen.
Herzliche Grüße,
Ihr Ansgar Lenz
Lieber Ansgar!
Besten Dank für Ihr freundliches Schreiben. Ich denke wir sollten es einfach einmal versuchen. Ich habe in der letzten Nacht, eigenhändig ein paar besonders lecke Fliegen für Friedrich-Wilhelm, so habe ich meine fleischfressende Pflanze im Gedenken an meinen schon vor Jahren verstorbenen Mann genannt, gefangen. Ich werde Sie ihr im Laufe der Tages servieren. Wenn Sie danach bitte mit Gerline und Hermann bei mir erscheinen würden, vielleicht so gegen 12.30 Uhr.
Liebe Grüße,
Dorle
Guten Tag Dorle!
Um 12.30 Uhr geht es leider nicht. Da siedeln wir bereits die Zitronenmelisse von Herrn Kollegen Wismann um, die bisher die Raucherzone geschmückt hat. Sie wird jetzt auf alle Kolleginnen und Kollegen der Abteilung 13 zu gleichen Teilen aufgeteilt und schafft ein hervorragenden Duft, wie das was unsere Putzfrau immer auf den Toiletten versprüht, und das ganz natürlich. Natürlich möchte ich Ihr Angebot aber gerne annehmen, und würde Sie bitten nach der Arbeit auf mich in Ihrem Büro zu warten. Ich werde so schnell wie möglich nach 16 Uhr bei Ihnen sein.
In freudiger Erwartung,
Ansgar
Lieber Ansgar!
Ich weiß nicht so genau, was die Putzfrau auf den Herrentoiletten versprüht. Bei den Damen duftet es immer nach Rosen. Ich werde gespannt auf 16 Uhr warten und versuchen Friedrich-Wilhelm bis dahin günstig zu stimmen. Reden Sie doch bitte auch vorher noch mit Gerlinde und Hermann, damit Sie wissen, dass sie etwas vorsichtig mit ihm umgehen müssen.
Dorle
Und an dem Nachmittag um 16.04 Uhr hätte jemand, sofern jemand noch vier Minuten nach Dienstschluss in dem Gebäude gewesen wäre, folgende Szene beobachten können. Ein Mann hält einen großen Gummibaum im Arm und spricht ganz beruhigend auf ihn ein: "Du, Gerlinde, ich geb Dich nur ungern her, nach 28 Jahren. Du weißt, wie schwer mir das fällt. Versprich mir, dass Du mir alles sagst. Und, wenn Friedrich-Wilhelm gemein zu Dir ist, hast Du ja auch noch Hermann."