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Geri Go!
Den angewinkelten Arm auf der Tischplatte, das Kinn aufgestützt, eine halb gerauchte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Mit dem Daumen der anderen Hand wischt Geri über das Display seines Handys.
Der Daumen hält inne, bleibt zitternd über dem Startknopf hängen. Die Augen zu Schlitzen verengt zieht Geri an seiner Kippe, drückt den Stummel im überquellenden Aschenbecher aus und startet das Video.
Olympia, Radrennen. Geri erkennt eine Landstraße in einem Waldstück, verstreut am Rand einzelne Zuschauer mit Fahnen. Jetzt nähern sich Motorräder, darauf zwei Passagiere, Fahrer und Kameramann, Rücken an Rücken. Motorrad um Motorrad zieht vorbei, das Bild wackelt, der Betrachter vor Ort scheint ungeduldig zu werden.
Endlich die erste Rennfahrerin, einsam an der Spitze. Das Rad wird gekonnt von Links auf Rechts gelegt, kreuzt exakt auf Höhe des Betrachters die weiße Mittellinie, kurz entgleitet der Fahrerin die Kontrolle, sie schlägt eine völlig falsche Linie ein. Ungebremst prallt das Vorderrad in die Straßenbegrenzung, wirft die Lenkerin ab, ein Überschlag, ein Aufprall aufs Pflaster.
Geri blickt gebannt auf diesen unnatürlich verdrehten Körper der Sportlerin, die reglos am Boden liegt. Die Sekunden verstreichen, das Bild beginnt zu wackeln, zeigt die Beine des Augenzeugen, während er auf das Opfer zuhastet, ein schlingernder Boden, tanzende Tannenbäume. Der Bildausschnitt beruhigt sich wieder, zeigt erneut den schlaffen Körper, nur eine Stufe detaillierter. Ein kurzer Schwenk zurück auf die Straße, ein vorbeipreschendes Motorrad, jetzt fünf Fahrer der Verfolgergruppe, der Blick schwenkt zurück auf den reglosen Körper, schwach erkennbare Atmung? Oder ist es nur der Wind im Spiel mit dem zerrissenen Trikot? Ein Blick in die andere Richtung, ein abgestelltes Motorrad, ungelenk hastet der Streckenposten auf den Betrachter zu, ein Handschuh schiebt sich vors Bild, verdeckt die Szenerie. Endlich vorbei, jetzt wird alles gut, denkt Geri. Doch da zeigt das Bild bereits wieder die am Boden liegende Sportlerin, reglos, hilflos.
Wieder und wieder verändert der Betrachter seine Position. Man sieht die stoßenden Handbewegungen des Streckenpostens. Er warnt das heranbrausende Hauptfeld, drängt die Fahrer fuchtelnd auf die andere Straßenseite, wieder geht der Blick zum Opfer. Der Ausschnitt wackelt, zwei Männer in rotgelben Overalls schieben sich am Betrachter vorbei, beugen sich über das Opfer. Der Ausschnitt friert ein, das Replay-Symbol erscheint in der Bildmitte.
Geri seufzt, das Handy wandert in die Hosentasche, er steht auf und öffnet die Tür zum Garten. Warme Sommerluft flutet die Küche, der Geruch gemähten Grases verscheucht Geris Unbehagen. Der Blick streift über seinen verwilderten Rasen, bleibt an der Buchsbaumhecke hängen. Eine laue Brise spielt mit den Blättern, lässt sie tanzen wie kleine grüne Kobolde. Die Erregung kitzelt sein Zwerchfell, unbewusst zieht er das Handy wieder hervor, weckt die Pokémon Go App und läuft los, über den Rasen, durch das offene Gartentor, den Blick starr auf das Display gerichtet. Auf der Häuserwand gegenüber erfasst das Spiel ein kleines, gelbes Pokémon. Der Warnschrei von links verhallt ungehört, das auf den Mülltonnen tanzende Pikachu blockiert Geris Wahrnehmung, mit erhobenem Handy betritt er die Straße. "Hab dich!"
Der Aufprall ist heftig, das Fahrrad überschlägt sich, der Fahrer reißt Geri mit sich zu Boden, ein Scheppern und Knacken, der Kettenkranz bricht ihm die Nase. Auf der Gegenseite steht eine junge Frau mit erhobenem Handy, im Miniobjektiv spiegelt sich eine untergehende Sonne über rot schimmerndem Asphalt, minutenlang.
***
"Boah, Alter, was machste denn für Sachen?", eine Stimme wie durch Watte gedämpft, aus Richtung des Infusionsständers. Geri öffnet das gesunde Auge und blickt in das dämliche Grinsen seines Kumpels Florin, der linkisch am Bettpfosten lehnt. Woher wusste Florin von seinem Unfall?
"Bist jetzt ne Berühmtheit auf Facebook", errät Florin Geris Gedanken. "Irgend 'ne Tusse hat 'n Bisasam bei dir in der Hecke entdeckt, genau in dem Moment, als du auf die Straße kamst und dich dieser Möchtegern-Cancellara wegrasiert hat. Das Bild ist etwas unscharf, aber du bist voll drauf, kuck mal."
Florin lässt das Facebook-Video laufen, setzt sich auf die Bettkante und hält das Handy Geri vor die Nase. Schmerzverzerrt und mit geschlossenen Augen hört Geri die Geräusche seines Unfalls, ein Knacken, jetzt Metallscheppern auf Asphalt, Schmerzensschreie und eine weibliche Stimme, so was wie 'Oh, mein Gott'.
Geri bewegt die geschundenen Lippen, versucht zu flüstern.
"Wie geht's ... dem Fahrer?"
"Hm? Keine Ahnung. Hei, darf ich 'n Selfie mit dir machen? Nur für die Jungs, versprochen."
Geri stöhnt auf, dankbar empfängt er eine Welle der Narkosenachwirkung und lässt sich wegtragen ...