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Gerhard Kemme
Dies ist eine Autobiographie. Sie beginnt 1947 und endet im Jahre 2947.
September 1947: Die Flüchtlingsfrau presste ihre Tochter fest an sich. Doch dem Corporal war es strikt untersagt, Mitleid zu haben. "Get away!" Nur Logistiktrucks durften die demolierte Brücke über den Elbstrom passieren. Protestierend resignativ schleppte sich die junge Mutter wieder an der Ladefläche des Lasters vorbei. Irgendjemand hob sie dann doch plötzlich heimlich auf die Ladefläche. Wenig später klopfte sie an die Wolldeckentür zur Wohnung ihrer Mutter in Hamburg.
Der lange Kohlenzug rumpelte aus Gelsenkirchen in Richtung Norden. Unter einem Schüttwaggon hatte sich ein extrem abgemagerter "Heimkehrer" festgeschnallt. Kurz vor der Stadt sprang er ab. Noch einige Stunden Marsch, dann klopfte es wieder an die Wolldeckentür, er war zu Hause. Ein Glück, die beiden hatten sich wieder gefunden. Am 26. Juli 1948 tat ich meinen ersten Schrei, ein tolles Leben startete.
Kindergarten, Radiobasteln, Schulstress, Elektrolehre, Zeitoffizier, Lehrerstudium, Vaterschaft, Elektriker, Psychiatrie, Kurzgeschichtentipper...
Ab 31. August 2002: Das Manifest der "No Normalo Partei" galt als Sensation. Technik, Diskurs und Erkenntnis ebneten mir als zentrale Grundsätze den Weg an die Macht. Der Staatsaufbau war übersichtlich wie vom Reissbrett und durchsetzungsorientiert. Nie war die Polizei- und Justizdichte höher in der Grossregion Europa. Kein Knast mehr, dafür die gerechte Prügelstrafe und jeder hatte Wohnung und Arbeit. Das Berichts- und Meldewesen war sehr durchorganisiert, manipulatives Handeln verpönt. Das gigantische Raumfahrtprogramm schuf Arbeitsplätze für jeden. Zentral war die Staatsreligion, die ein übergeordnetes Hypersystem als eine Art von Gott verehrte. Alle anderen Religionen, Philosophien und freimaurerischen Vereinigungen praktizierten nur in öffentlichen Versammlungen und Gottesdiensten. Die menschliche Population wuchs extrem durch die Besiedelung anderer Planeten des Sonnensystems. Die Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit war bald kein Thema mehr und es wurden Planeten bei anderen Fixsternen besiedelt.
Die Züchtung organischen Gewebes lieferte die Grundlage, biologische Lebewesen, auch Menschen, fabrikmässig zu bauen. Rasant wurde die wissenschaftliche Beschleunigung aber erst, als es gelang sich geistig in Roboter mit künstlicher Intelligenz einzuchecken. Ein Supergefühl, gleichzeitig in einem Roboter, einem Transplantationskörper und in sich selber zu sein, so als hätte man mehrere Köpfe.
Im Jahre 2038 starb mein Geburtskörper. Bei der Beerdigung war ich natürlich dabei. Vom Beerdigungs-Manager hatte ich mir einen herrlich geschmückten Kampfroboter mit Orden, silberner Fangschnur und einer Kalaschnikow ausgeliehen. Die letzten Blumen warf ich selber auf mein Grab. Dann noch eine Rattatata-Salve und ich war in einer neuen Zukunft ohne alter Hülle gelandet.
Völlig absurde Lebensmöglichkeiten entstanden durch alternative Verfahren der Datenverarbeitung. Es gelang Informationsverarbeitung unsichtbar im freien Weltraum durch miteinander interagierende Schwingungen zu realisieren. Man nannte solche Rechner Frequenzcomputer. Da die Menschen inzwischen in Computern geistig heimisch werden konnten, hatten sie neue grosse Lebenswelten gefunden, die physikalisch in irgendeinem fernen Sonnensystem gelegen waren.
Viele prophezeiten es, von einigen wurde es berechnet. Irgendwann würde das Hypersystem A, das Umfassende der Spezies seit Menschengedenken, mit dem, ich nenne es mal Hypersystem B kollidieren, d.h. zwei kaum kompatible Lebenswelten berührten einander. Es kam schlimmer als erwartet, plötzlich sprangen Grosskatzen aus dem luftigen Nichts und machten sich auf irgendwelchen Strassen oder Hausdächern breit. Manchmal guckten sie auch nur mit dem Kopf aus einer Wolke oder wedelten locker mit einer Pfote.
Ich klinkte mich nahe dem Sirius in einen nostalgischen Frequenzcyber ein und erholte mich dort vom Katzenstress. So sitzt der Autor also im Jahre 2948 vorm simulierten Internet und hört dabei Oldies aus den 70er und 80er Jahren.