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Gerettet!

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30.05.2002
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Gerettet!

Es war Winter. Der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Zwei Brüder kamen von der Schule, an einem Teich vorbei. Sie hatten noch zwei Äpfel von ihrem Schulfrühstück im Tornister.

„Du, weißt du was, wir spielen mal ein Spiel: Wir lassen unsere Äpfel ein wenig auf dem Eis in die Mitte rollen. Wer seinen Apfel weiter rollen lässt als der andere, der bekommt einen Punkt.“

„O ja, prima“, sagte der jüngere von beiden, „tolles Spiel! Los, Basti, lass uns das spielen.“

Sebastian, der ältere, ließ seinen kleinen Bruder als ersten seinen Apfel rollen. Ralfs Apfel rollte nicht besonders weit, er war ja noch klein und ungeübt in solchen Dingen, er rollte höchstens zwei Meter.

Sebastian nahm nun seinen Apfel, und das war schon deutlich weiter, bestimmt vier bis fünf Meter.

„Ein Punkt für mich“, sagte Sebastian. „Schade“, entgegnete Ralf traurig.

Sie betraten vorsichtig das Eis und holten sich ihre Äpfel zurück.

„So, zweite Runde“, drängte Sebastian, „diesmal fang ich an.“ Diesmal misslang ihm alles, der Apfel rollte schräg zur Seite und danach noch nicht mal so weit wie Ralfs Apfel beim ersten Mal. Darauf witterte Ralf seine Chance, strengte sich mächtig an, und sein Apfel rollte und rollte, viel weiter als der Apfel des großen Bruders, fast fünf Meter.

„Gut, eins zu eins“, entschied Sebastian, und der Kleine strahlte über das ganze Gesicht: „Gut, nicht wahr?“ „Ja, sehr gut!“ stellte der Ältere anerkennend fest. „Aber lass uns jetzt weiterspielen, bis zehn!“ „Müssen wir nicht nach Hause gehen? Was wird Mutti sagen, wenn wir nicht kommen?“ „Ach lass nur, es ist ja noch nicht so spät...“

Sie liefen wieder auf das Eis hinaus und holten ihre Äpfel. Es knirschte ein wenig, einen Moment lang verharrten sie und trauten sich nicht weiter, dann, ganz vorsichtig, schoben sie sich Schritt für Schritt an ihre Äpfel heran, griffen sie sich und tasteten sich behutsam zurück ans Ufer. Das Knacken und Knirschen kam immer wieder, aber das Eis trug.

„Gut, dritter Wurf“, sagte Sebastian. „Du fängst wieder an.“

Der Kleine hatte jetzt schon ein wenig Übung, stellte sich geschickt an, und der Apfel rollte weit und immer weiter, fast bis in die Mitte des Teichs.

Ehrgeizig holte nun der Große aus und rollte seinen Apfel so weit, wie er nur konnte. Der Apfel rollte und rollte und rollte... Er war fast in der Mitte des Teichs angekommen, hatte den Apfel des Kleinen um Längen überholt.

„Das war wohl ein Punkt für dich, ganz klar“, stellte Ralf anerkennend fest, „da beißt die Maus keinen Faden ab.“

„Ja, zwei zu eins“, präzisierte Sebastian. „Los, lass uns die Äpfel zurückholen. Aber pass auf, da vorne ist das Eis schon ein bißchen dünn, lass uns ganz langsam zu den Äpfeln hingehen.“

Schritt für Schritt wagten sie sich auf den zugefrorenen Teich hinaus. Anfangs war das Eis noch ziemlich dick, nach und nach aber wurde es immer dünner. Es knackte und knirschte, das klang so unheimlich.

Ralf blieb plötzlich stehen: „Du, ich trau mich nicht weiter!“ „Ach, du kleiner Angsthase, sei doch nicht so ein Waschlappen, das ist so kalt heute, das Eis ist ganz dick, da kann uns überhaupt nichts passieren...“ „Wenn du meinst...“ erwiderte Ralf unterwürfig, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.

Es ging blitzschnell, als das Eis brach: das Knistern war immer lauter geworden, es knisterte und knackte immer schneller, schlagartig gab die Eisfläche unter ihren Füßen nach, und sie rutschten beide ins eiskalte Wasser, schreiend, Ralf ganz entsetzlich schreiend, wie in Todesangst.

„Ralfi, halt dich am Rand fest!“ schrie Sebastian, ebenfalls in großer Not, „halt dich am Rand fest!“ Aber da war sein kleiner Bruder schon unter der Wasseroberfläche verschwunden! „Raaaalfi!“ schrie Sebastian, „Ralfi! Hilfe! Hilfe! Hiiiiiilfe!!!“

Ein älteres Ehepaar hatte die Kinder schon beobachtet, als sie mit ihrem Spiel begannen. Sie waren weitergegangen, dann hörten sie plötzlich Hilfeschreie aus der Richtung des Teichs. Sofort eilten sie zurück und sahen Sebastian durch das Eis gebrochen im eiskalten Wasser liegen. Mit seinem Oberkörper lag er auf der Eisfläche, laut um Hilfe schreiend.

Die Frau rief die Notrufzentrale an. Wenig später traf der Rettungsdienst ein.

Eine junge Sanitäterin begriff sofort den Ernst der Lage. In voller Kleidung sprang sie ins eiskalte Wasser. Ralf trieb schon unter dem Eis. Sie zog ihn an die Oberfläche, sie hielt ihn über Wasser, aber ihre Kräfte ließen nach, sie schaffte es nicht, mit ihm ans Ufer zu schwimmen. Zum Glück kam jetzt die Feuerwehr. Die Feuerwehrleute warfen Sebastian eine Fangleine zu. Er bekam sie zu fassen und wurde übers Eis ans rettende Ufer gezogen. Sebastian war völlig verzweifelt, er weinte und weinte und rief auch dann noch flehentlich um Hilfe, als ihn die Retter schon in den Armen hielten. Die Feuerwehrleute zogen ihm sofort die Kleider aus, wickelten ihn in eine Decke und legte ihn in ein beheiztes Auto. Nun galt es die Frau und Ralf zu retten. „Schnell, die Steckleiter!“ Die Leiter wurde flach aufs Eis gelegt. Ein Feuerwehrmann robbte bis zur Eiskante, reichte der Sanitäterin eine Sicherungsleine, konnte die Frau greifen, konnte Ralf greifen und brachte sie sicher an Land.
Ralfs Gesicht war blau angelaufen, er atmete nicht mehr, wurde wiederbelebt.

Der Rettungswagen raste zur Kinderklinik.

 

Hallo Murmeltier,
der Anfang deiner Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Es gab Spannung, die sich langsam gesteigert hat. Am Schluss ähnelt es aber eher einem Lehrbuch für Rettungskräfte: Ein Sanitäter kommt, dann die Feuerwehr, schließlich wird das Opfer gerettet und in die Klinik gefahren, aus. Vielleicht solltest du ab hier aus der Sicht der Sanitäterin beschreiben und auch ihre Gefühle und Ängste mitteilen. Das wäre authentischer und würde wesentlich mehr Spannung erzeugen.
Beste Grüße
knagorny

 

Danke, knagorny,

ich bin schon dabei, das Ganze noch einmal gründlich zu überarbeiten!

Schöne Grüße vom Murmeltier

 

Hallo Murmeltier,
eine saubere Geschichte. Ich meine damit, daß sie gut und flüssig zu lesen ist und man eigentlich nirgends hängen bleibt.
Auf mich wirkt der Stil allerdings auch recht nüchtern. Mir fehlt der Nervenkitzel. Nicht nur, weil man ja schon am Anfang weiß worum es geht. Ich meine, die bildhafte Darstellung der Dramatik.
Ich möchte hören, wie der Schnee knirscht, wie das Eis klingt, wenn sich die risse fortpflanzen, wie die Kälte lähmend durch die Körper zieht.
Das mit der Wiederbelebung am Ende war mir auch etwas zu knapp.

Ich hab mich allerdings ernsthaft gefragt, wie die Geschichte unter der Rubrik „Kinder“ aussehen würde.
Ich glaube nicht schlecht.

Eine Anmerkung noch:
.............
ganz entsetzlich schreiend, wie in Todesangst.
............nicht wie...es ist Todesangst.

Liebe grüße
Manfred

 

Hallo Manfred Dreimeier,

danke für die sehr differenzierte Kritik!

Die Geschichte in dieser Fassung klingt in der Tat recht nüchtern. Und der Titel nimmt ihr natürlich die Spannung, weil er das Ende der Geschichte vorwegnimmt!

Ich habe den Text mittlerweile stark überarbeitet und hoffe, dass er ein wenig bildhafter geworden ist. Außerdem veröffentliche ich ihn diesmal wirklich in der Kategorie „Kinder“, denn es geht in erster Linie um Kinder, um das Handeln von Kindern, um den Charakter von Kindern, um die Naivität von Kindern, und die Spannung ist im Grunde genommen nur sekundär.

Auch den Titel habe ich geändert; die Geschichte heißt jetzt (und lässt damit hoffentlich Platz für beliebige Assoziationen, ohne irgendetwas vorwegzunehmen!) „Äpfel auf dem Eis“.

 

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