Geraldines Tod
Geraldines Tod
Ich habe in meinem Leben vierzehn Romane veröffentlicht. Neun von ihnen wurden Bestseller. Alle handeln von Liebe, Tod und Hass. Manche Kritiker nennen sie beinahe liebevoll „Romantische Thriller“, andere Groschenliteratur in Hardcover-Buchumschlägen. Letzteres mag richtig sein, denn die Themen, mit denen sich meine Geschichten befassen, sind weder originell noch hintergründig. Mir persönlich war es stets egal, mit welchem Titel man meine Werke adelte oder auch nicht. Die Hauptsache war, dass irgend jemand las, was auf dem Papier stand und in gewisser Weise davon berührt wurde. Zur Zeit berühre ich Millionen von Lesern dieses Landes, und eben diese Menschen bringen genug Geld ein, dass ich mehrmals im Jahr auf eine Südseeinsel fliegen kann, auf der ich ein weißes Haus besitze, in welchem ich wiederum Bücher schreiben kann, die von Leuten gekauft werden. Das ist eine Art literarischer Teufelskreis, wenn man so will.
Im Gegensatz zu dem, was viele Menschen behaupten, ist die Arbeit des Schriftstellers nichts, worauf man sich ausruhen kann. Der Leser ist wie ein Kind, das nach seiner Flasche schreit. Sobald man einen Bestseller veröffentlicht hat, muss man sich an den nächsten setzen. Ich meine damit, dass man bereits beim Schreiben den Willen besitzen muss, hohe Verkaufszahlen zu erreichen. Das ist der Grund, wieso ich mich nie eingehend mit Gedichten befasst habe. Es bringt, gelinde gesagt, kein Geld ein. Die meisten anderen Autoren hassen mich für diese Einstellung. Man solle nicht aus kapitalistischen Gründen schreiben, sagen sie, aber ich denke, man sollte sich deshalb an die Maschine oder den Rechner setzen, weil man es aus irgendeinem Grund für nötig hält. Ob es nun Geld ist oder etwas anderes: Was spielt das schon für eine Rolle? Wichtig ist, dass man die Disziplin besitzt, eine gute Geschichte zu schreiben. In meinem Fall entstand diese Disziplin auf der Basis des Kapitalismus. Ich habe niemals studiert. Ich habe mein Abitur gemacht und mit etwas Glück meinen ersten Roman veröffentlicht.
Und seit einigen Jahren besitze ich dieses Haus auf der kleinen Südseeinsel. Das klingt so klischeehaft, dass ich fast grinsen müsste, wenn die Sache nicht so tragisch wäre. Dort schreibe ich allein. Ich habe niemals jemanden dort empfangen. Ich kann mich nicht auf die Geschichte konzentrieren, wenn jemand in meiner Nähe ist. Meine Inspiration ist die Einsamkeit. Wenn ich einsam bin, scheinen meine Figuren mir näher zu sein. Ich weiß nicht, ob andere Autoren dasselbe Problem haben. Ich habe keine Schriftsteller in meinem Bekanntenkreis. Die meisten halten sich für begnadete Künstler, obwohl sie über dieselben Themen schreiben wie ich – über Liebe, Tod und Hass. Der einzige Unterschied zwischen ihren Geschichten und meinen besteht darin, dass sie ihre Romane in altmodischen und arroganten Schachtelsätzen verfassen, die mühsam zu lesen sind. Das ist auch der Grund, warum sie von vielen Kritikern hochgelobt werden, ihre Bücher jedoch in den Regalen verstauben. Die Leser wollen ein Buch verstehen.
Jedenfalls war Einsamkeit für mich stets etwas angenehmes. Nicht jedoch für Geraldine.
Ich kam von jener Südseeinsel, als ich Geraldines Wohnung noch mit dem Samsonite-Koffer in der Hand betrat. Ich hatte meine Schlüssel dabei und trat so leise wie möglich ein. Es sollte eine Überraschung sein. Ein Zyniker würde sagen, dass die Überraschung ganz auf ihrer Seite lag.
Drinnen war es dunkel. Kein Licht brannte. Ich schloss die Tür leise hinter mir und durchquerte den Flur. Ich vernahm immer deutlicher einen stechenden, scharfen Geruch, den Geruch von Erbrochenem und noch etwas, das ich nicht benennen konnte. Mein Herz schlug schneller, und kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Der eindringliche Geruch bildete einen bizarren Kontrast zu der sauberen, langgestreckten Diele. Fahles Mondlicht beleuchtete die Tür vor mir, die einen Spalt geöffnet war und in die Küche führte. Je mehr ich mich näherte, desto intensiver wurde der Geruch nach Erbrochenem. Ich spürte, wie sich mein Magen wand und unterdrückte mühevoll meinen Brechreiz.
Ich stellte meinen Koffer auf den Boden und stieß die Küchentür langsam auf. Ein Schwall sauren Gestanks wallte mir entgegen. Ich hielt die Luft an, um mich nicht selbst übergeben zu müssen, und trat ein.
Ich sah Geraldine sofort. Ich schlanker Körper hob sich von dem glänzenden Parkettboden ab. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, so dass ich ihr Gesicht sehen konnte, wenn es heller im Raum war. Ich betätigte blindlings den Lichtschalter zu meiner Rechten. Ich weiß nicht, wieso ich das tat. Ich wollte sie nicht sehen. Manchmal glaube ich, dass der Mensch sich gerade deshalb grundlegend vom Tier unterscheidet, weil er in der Lage ist, sich selbst zu überraschen.
Geraldines Mund war halb geöffnet. Eine Lache Erbrochenes, das bereits seit einiger Zeit eingetrocknet sein musste, hatte sich unter ihrer Wange gebildet. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Haar war fettig und strähnig.
Ich stand reglos da und sah auf sie hinab, einen Moment unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Ich ließ meine Blicke über sie streifen, sah ihr T-Shirt und den Rock, der an den Schenkeln hochgerutscht war, doch immer wieder musste ich ihr Gesicht ansehen, das ruhig war wie das einer Schlafenden. Und erst da sah ich die leere Flasche, die ein wenig abseits von ihr lag und im Mondlicht glänzte. Ein Etikett verkündete den hochprozentigen Inhalt.
Ein Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Ich ging vor Geraldine in die Hocke und berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. Ihre Haut fühlte sich kalt und leblos an. Dann berührte ich die Stelle über ihrer Brust. Mein Atem stockte, und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Ich hatte es bereits geahnt, als ich die Wohnung betreten und den scheußlichen Gestank vernommen hatte, doch als ich die Gewissheit hatte, schaltete sich mein Verstand aus, und in meinem Kopf herrschte Leere, in der nur ein einziger Gedanke Platz fand: Geraldine war tot.
Nach einiger Zeit setzte ich mich an den Küchentisch. Zuvor hatte ich das Fenster einen Spalt geöffnet, um den sauren Geruch aus der Wohnung zu vertreiben. Gleichzeitig hörte ich den Autolärm der Hauptstraße sieben Stockwerke unter mir, der mich um ein Minimum beruhigte. Ich musste einen klaren Gedanken fassen. Ich war und bin es gewohnt, rational zu denken, aber das war es nicht. Ich stand in gewisser Weise unter Schock. Ich hatte meine Liebste überraschen wollen und sie tot am Boden aufgefunden, eine geleerte Flasche Scotch neben sich. Und das, obwohl ich Geraldine niemals auch nur angetrunken gesehen hatte. Die Leere, die meinen Verstand verhüllt hatte, war gewichen, und nun flogen meine Gedanken umher, ohne dass ich sie fassen konnte.
Es ist sehr schwer, zu beschreiben, was in mir vorging. Ich schrieb ein Dutzend Krimis, in denen jemand unter Schuldgefühlen litt, aber meine eigenen vermag ich nicht zu beschreiben. Doch ich fühlte mich schuldig. Ob ich es tatsächlich war oder nicht, spielte keine Rolle. Ich fühlte mich so.
War Geraldine einsam gewesen? Jetzt, im Nachhinein, erscheinen mir die Anzeichen dafür so klar und deutlich, doch damals war ich blind gewesen. Ich erinnere mich, dass sie oft gefragt hatte, wann ein Roman fertig wurde und ich jedes Mal etwas gereizt reagiert und geantwortet hatte, dass man das erst weiß, wenn es soweit ist.
Und einmal fragte sie: „Wie lange willst du noch schreiben?“ Das war vor ungefähr zwei Jahren gewesen.
„So lange, wie der Leser den Schnabel aufmacht und fressen will“, antwortete ich damals, während ich meine Gedanken in Form von Notizen zu Papier brachte. Erst heute wird mir klar, dass mein gesamter Tagesablauf auf mein gerade aktuelles Buch abgestimmt war.
„Mach doch nach deinem nächsten Buch mal eine Pause. Lass uns wegfahren. Mit dem Motorrad durch Amerika, das wäre mal was.“
Ich sah überrascht auf. „Wir – auf einem Motorrad? Oh, bitte.“
Geraldine lächelte verschmitzt, wobei sich kleine Grübchen in ihren Mundwinkeln bildeten. „Ja, du und ich in Leder und der Highway unter uns.“
Ich musste grinsen. Das Bild von mir auf einem Motorrad erschien mir mehr als absurd, fast grotesk. „Du spinnst“, sagte ich, und da sie mich aus meinen Gedanken geholt hatte, fuhr ich fort, mir Notizen zu machen.
Geraldine sprach das Thema nie wieder an, und wir fuhren niemals irgendwo hin. Ich war stets zu beschäftigt, und Geraldine schwieg. Sie beschwerte sich niemals laut, sondern sie wartete ab und fragte nach, wann wir etwas zusammen unternehmen würden, und wenn ich ihr zum hundertsten Mal sagte, dass ich keine Zeit hätte, dann schmollte sie, aber nickte nur. Was in ihrem Innern los war, konnte oder wollte ich nicht sehen.
Zuletzt war ich für drei Monate auf die bereits erwähnte Südseeinsel geflogen, um an meinem neuen Roman zu arbeiten. Davor hatte ich zwei Monate zusammen mit Geraldine hier verbracht, in Frankfurt. Wir waren gemeinsam ausgegangen, hatten Restaurants besucht, in denen ein Menü fast zweihundert Mark kostet und der Hauptgang zusammen mit dem Teller vielleicht zweihundert Gramm wiegt. Ich hatte stets gewusst, dass ich wieder würde zurückfliegen müssen, um meinen Roman zu vollenden. Geraldine hatte es ebenfalls gewusst, aber seit einiger Zeit hatte sie nicht mehr viel dazu gesagt. Ich hatte den Eindruck gehabt, dass sie sich damit abgefunden hatte und war froh darüber gewesen.
Am Vorabend meines Abfluges sagte ich: „Morgen muss ich los.“
Und da zeigte sie zum ersten mal seit langer Zeit, wie nah ihr das Ganze ging. Damals bemerkte ich es nicht oder wollte es nicht bemerken.
„Kannst du nicht noch etwas bleiben? Nur eine Woche?“, fragte sie, als sie neben mir im Bett lag und ich ihr Haar streichelte.
Ich zog an meiner Zigarette. Sie müssen wissen, erfolgreiche Autoren ziehen nach dem Sex immer an einer Zigarette. In meinem Fall war es eine Roth Händle. Besonders erfolgreiche Autoren neigen nämlich auch dazu, ihre Lunge mit besagten Zigaretten systematisch zu zerstören.
„Nein“, sagte ich. „Ich muss an meinem Roman arbeiten.“
„Ich dachte, er sei fast fertig?“, erwiderte Geraldine.
„Ist er auch“, sagte ich. „Aber ich brauche Ruhe, um ihn zu Ende bringen zu können.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Im Nachhinein kommt mir diese Geste verlogen und in gewisser Weise egoistisch vor. „Ich bin ja bald wieder da.“
„Und so lange bin ich allein.“
„He“, sagte ich und drückte sie an mich. „Sei nicht traurig. Wenn ich ‚Roulette’ fertig habe, dann nehme ich mir eine Auszeit. Und dann haben wir Zeit für uns. Okay?“
„Das sagst du jedes Mal“, entgegnete Geraldine und sah mich enttäuscht an. Wenn ich daran zurückdenke, spüre ich einen Stich in meinem Herzen, aber damals fühlte ich überhaupt nichts. Damals hatte ich nur Frank im Kopf, Frank, den erfolglosen New Yorker Privatdetektiv, der im Kalten Krieg in eine politische Verschwörung verwickelt wurde. Für ‚Roulette’ würden mir die Kritiker die Hände küssen. Ich wusste bereits, wie das Ende aussehen würde: Frank würde ermordet werden, und zwar von Lisa. Lisa war eine amerikanische Doppelagentin, mit der er eine Affäre hatte. Mein Gott, wie billig, wie sinnlos mir das jetzt vorkommt.
„Komm schon“, sagte der Bestsellerautor neben Geraldine und drückte sie abermals an sich. Alles ist sehr einfach, wenn man Geld und Erfolg und eine Frau an seiner Seite hat, die einen liebt und stets abrufbereit ist. Sie jedoch war einsam. Sie war introvertiert und besaß nicht viele Freunde. Sie war sehr schön, aber sie wollte nicht viele Kontakte knüpfen... dachte ich damals. Jetzt glaube ich, dass sie nicht dazu in der Lage war und darunter litt.
Ich sagte ihr noch einige tröstende Worte, als ich neben ihr im Bett lag, und schließlich gab sie auf und schlief neben mir ein, und ich war wieder einmal zufrieden mit mir selbst und hatte ein reines Gewissen. Und am nächsten Morgen wachte ich sehr früh auf und fuhr mit einem Taxi zum Flughafen, ohne, dass sie meine Abreise mitbekam. Sie lag in schlafender Embryonalhaltung auf ihrem Bett. An diesem tag sah ich sie das letzte Mal lebend.
Ich blieb zweieinhalb Monate auf der Insel. Währenddessen telefonierte ich oft mit Geraldine und sagte ihr, wie sehr ich sie vermisse, was nicht einmal stimmte, denn ich rief mehr aus Pflichtbewusstsein an denn aus Sehnsucht nach ihr. Ich liebte sie, doch sie war mir sicher, und für den Moment hatte ich, was ich wollte: Einen Vertrag mit Goldmann und einen Computer mit einem Textverarbeitungsprogramm. Sie hingegen versicherte mir stets, wie sehr sie mich liebte und wie sehr sie mich vermisse. Und wenn ich vom Voranschreiten meines Romans erzählte, hörte sie zu und schwieg, und ich frage mich, was sie damals dachte.
Und gestern wollte ich Geraldine anrufen, um ihr zu sagen, dass sich meine Rückkehr um zwei Wochen verschieben würde. Ich tat es mit einem breiten Grinsen auf meinem Gesicht, denn ‚Roulette’ war komplett fertig, und ich war zufrieden damit. Frank war tot, meine Koffer waren gepackt, und nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, würde ich mir ein Taxi rufen. Zunächst jedoch wollte ich die Überraschung perfekt machen.
Doch am anderen Ende wurde der Hörer nicht abgenommen. Ich ließ es noch eine ganze Weile lang klingeln, doch es meldete sich niemand. Ich dachte mir nichts dabei.
Und dann kam ihr zu ihr nach Hause und fand sie und setzte mich an den Küchentisch, und hier sitze ich noch immer.
Eigentlich hätte die Szene aus einem meiner Bücher stammen können: Der Bestsellerautor möchte seine Geliebte besuchen und findet sie tot auf dem Fußboden. Sie hat sich aus Kummer betrunken und ist an einer Alkoholvergiftung oder an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben.
Ich weiß nicht, ob Geraldine nach irgend etwas davon süchtig gewesen war. Jetzt, nachdem ich das alles niedergeschrieben habe, weiß ich nur, dass ich Schuld daran bin. Sie wusste, dass ich heute zurückkommen würde, und doch hatte sie sich das Leben genommen. An einen Unfall glaube ich nicht. Ich bin ihr Mörder.
Normalerweise schreibe ich Geschichten aus dem Grund, Geld damit zu verdienen. Das hatte ich ja schon erwähnt. Nun habe ich etwas geschrieben, von dem ich nicht weiß, warum ich es getan habe. Wenn Sie einen Grund brauchen sollten – suchen Sie sich einen aus.