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Geraldine und Semjon

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12.11.2016
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Geraldine und Semjon

Geraldine und Semjon sitzen zusammen am Tisch. Der Tisch ist heute etwas größer als ihr Tisch vor Jahren. Verschiedenes stimmt nicht überein.
"Verschiedenes stimmt nicht überein", sagt Semjon und schnippt etwas, das er so oft wie es ging gefaltet hat, auf der Tischplatte vor sich hin und her. Er schnippt es immer nur ein kleines Stück weit und fängt es dann mit der Hand, weil er nicht möchte, dass es vom Tisch runter oder hinüber zu Gera fliegt.
Gera sieht ihm schon eine Weile beim Schnippen zu und vielleicht stört sie etwas daran, wie er das Stück Papier immer wieder an seinem Flug hindert. Sie merkt aber nicht, ob es sie stört, denn sie denkt gerade an etwas anderes.

Gera denkt, das ist wieder eins dieser Gespräche, die Semjon anfängt, wenn er nervös ist. Wir sprechen eigentlich vor allen Dingen nur dann miteinander, wenn Semjon betrunken oder nervös ist. Alles, was Semjon sagt, kommt immer aus einer Notsituation heraus. Wenn er bedrängt oder betrunken ist, hat er das Bedürfnis zu sprechen. Er quetscht dann die Worte aus sich heraus, und alles was er hervorbringt, ist vollkommen übertrieben. Das war schon immer so, außer vielleicht ganz zu Anfang, oder ich habe es anfangs nur nicht bemerkt.
Gera denkt in letzter Zeit auch über Veränderung nach, aber sie denkt daran in einer mehr abstrakten Weise. Gera findet, dass sie keine guten Erfahrungen damit gemacht hat, die Dinge im Dinglichen zu verändern, und deswegen verändert sie sie zuerst in sich selbst. Bezüglich des Änderns von Dingen hat Gera eine klare Vorstellung von Reife. Gera fragt sich, was will der Kopf eigentlich, wohin will er? Vielleicht ist auch immer alles in einer Krise.

Der Raum, in dem beide sitzen, ist ihr Wohnzimmer. Es ist ein Wohnzimmer, das ihnen beiden gehört, doch im Moment ist es mehr so, als würde die Hälfte, in der Semjon am Tisch sitzt, Semjon, und die Hälfte, in der Gera sitzt, Gera gehören, mit einer Trennlinie dazwischen, genau wie der Knacks in der Schale von einem Ei. Semjon findet, dass es ist ein merkwürdiges Konstrukt ist, dass etwas zweien gehört, wenn man es nicht aufteilen kann, denn dann ist es für alle vollkommen verloren.
Schon jetzt ist es so, dass die Fährten, die Semjon, wenn er durch die Wohnung geht, hinterlässt, diejenigen Geras beinah nur an den Durchgängen der Türen, an den Waschbecken, dem Kühlschrank, dem Klo kreuzen. Die ganze Wohnung ist voller Fährten, die sich so selten wie möglich kreuzen und die Fläche der Wohnung in Gebiete aufteilen, ein Gebiet Semjons und eines von Gera, man könnte auch davon sprechen, dass es Risse sind. Das hat sich mit der Zeit so entwickelt. Semjon benutzt den Loungeroom praktisch alleine. Gera raucht am Wohnzimmerfenster und Semjon am Fenster der Küche. Semjon schläft auf der rechten Seite des Bettes und Gera schläft auf der linken, aber wenn sie schlafengehen, steigt jeder von seiner Seite hinein, und niemals zur gleichen Stunde. Semjon benutzt schon lange nicht mehr das Sofa, auf dem sie früher so oft miteinander schliefen, doch Gera scheint es nichts auszumachen. Er sieht sie, wenn sie dort sitzt und liest oder auf den Fernseher schaut, wie in einer Pfütze aus allem Sperma sitzen, das er jemals auf dem Leder verspritzt hat. Er sieht auch ihren Hintern, auf dem sie sitzt, sich ihm wieder entgegenbewegen mit seinem Schlachtfeld aus Kratern. Er hat aber im Laufe der Zeit eine Klappe entwickelt, die er in seinem Kopf vor solchen Bildern zumachen kann, und schon seit einer Weile benutzt er sie mehr oder weniger immer.

Gera denkt, wie leicht es ihr früher fiel, sich in einen Gedanken zu denken, und wieviel Mühe sie so etwas heute kostet, zumindest bei Gedanken mit Semjon. Sie müsste, um einen Gedanken, der ein Lebensgedanke ist und auch Semjon enthält, für einen Lebensgedanken mit Semjon in jedem Fall ihre Ruhe verlassen, und sie merkt, dass sie das nicht kann und nicht möchte. Sie hat die Ruhe, die nun der Bereich ihres Aufenthalts ist, nicht geschenkt bekommen, denkt Gera, sie hat sie erstritten. Sie hat sie erstritten, obwohl sie schon gar nicht mehr weiß, gegen was sie alles hat streiten müssen, um das zu erreichen, worin sie nun ruht. Sie weiß aber, dass sie nicht bereit und wahrscheinlich auch gar nicht imstande ist, gleichsam aufzustehen und Semjon entgegenzukommen, wie man es ausdrückt, und dabei das Einzige, worin sie nun ruht, zu verlassen. Denn sie fragt sich, wofür? Sie hört noch den Lärm des Gestreites, das nötig war, sie hört noch den Kriegslärm in ihrem Kopf, wenn auch gedämpft jetzt, und dass sie gar nicht mehr weiß, gegen was sie alles den Krieg hatte führen müssen, der erst vor kurzem geendet hat, empfindet sie als Teil ihrer Ruhe, die eine Ruhe des Siegers ist, zumindest ein Stück weit. Deshalb sagt Gera, am Tisch sitzend, jetzt erst einmal gar nichts und hört sich die Ruhe in ihrem Kopf an, die wie etwas Altes klingt, zugleich aber neu.
Auch ihre Hand liegt auf der Platte des Tischs, eine helle schmale Hand, und Semjons Hand auf der anderen Seite, eine dunklere, breite. Sie denkt, wie hat die Natur das geschafft, dass wir so lange dachten, dass diese zwei völlig verschiedenen Hände gut zueinander passen? Sie fand seine Hand immer schön, jetzt findet sie wieder, dass ihre, die Frauenhand, eigentlich die schönere, die begehrenswertere ist.

Wie sie sich am Tisch gegenübersitzen und Semjon nur die obere Hälfte von Gera sieht, so dass Gera halb über der Tischplatte aussieht wie ein Männchen bei Halma oder einem anderen dieser Spiele, gerät er wieder hinein in die Abfolge der Male, wo er Gera an einem Tisch sitzen sah, und denkt: vielleicht endet so diese Reihe, vielleicht ist dieses das letzte Bild. Diese Reihe der Male, wo er Gera an einem Tisch sitzen sah, die zugleich eine Serie von Bildern ist, die sich in seiner Erinnerung sammeln, ist für ihn wie etwas, das in einem Tunnel ist, in den er jedesmal überraschend gerät, ohne es vorher zu ahnen, und dann sieht er sich doch wieder einem Bild gegenüber, das sich den anderen hinzufügt, so dass er durch das Bild, das er sieht, in dem Tunnel ist. Diesen Tunnel kann er nicht mehr betreten, wenn er sich erst von Gera getrennt hat. Höchstens in seiner Erinnerung noch, aber vielleicht wäre es dann besser, diese Erinnerung zu vermeiden. Beim allerersten Mal, als er sie sah, hatte sie die Arme links und rechts neben den Kopf gehoben, während sie an einem Tisch in einem Lokal saß, in einer Art Aufregung, weil sie ihren Mitamtischsitzern gerade etwas erklärte. Es sah so aus, als erklärte sie etwas Verrücktes, das ihr widerfahren war, an einem Fahrkartenschalter oder woanders, wo sich trotz ihrer Bemühungen, eine Normalität zu bewahren oder zurückzugewinnen, alles so sehr ins Aberwitzige hochschraubte, dass der Disput mit dem Angestellten oder Beamten oder Verkäufer, dem sie sich gegenübersah, schließlich jenen absurden Idealzustand angenommen hatte, der es ihr nun erlaubte, ihn ganz von sich abgelöst Stück für Stück zum Besten zu geben und zu erklären. Vielleicht war dieses Armeheben so etwas wie ein vergrößertes Achselzucken, womit sie ihr Schnattern begleitete, ganz bestimmt war es das sogar. Mit ihren Händen in der Luft sortierte sie die Gebilde ihrer Erzählung in fortlaufender Bewegung unter unsichtbare, die Plätze wechselnde Hütchen, und brachte sie an den unerwartetsten Stellen verwandelt wieder zum Vorschein, auf einer unsichtbaren Fläche in Höhe ihrer Stirn oberhalb ihres Ponys. Das erste, worauf sein Blick damals fiel, war ihre glattrasierte Achselhöhle gewesen. Hauptsächlich deshalb wusste er auch immer, welches Kleid sie an dem Tag getragen hatte, es war eines der Schulterfreien. Er hatte gestaunt, wie lang ihre Arme aussahen, es waren gelenkige Greifer in einer Welt ohne Schwerkraft, die ihr scharnierendes Werk geräuschlos verrichteten, und er hatte sich fragen müssen, ob Arme immer so lang sind, oder ob dies bei Gera, deren Namen er damals noch gar nicht kannte, etwas Ungewöhnliches, ihr Eigentümliches war, vielleicht verstärkt durch die Nacktheit, durch die sie noch mehr aus einem Stück mit den Schultern, den Schlüsselbeinen, dem Hals und Gesicht zu sein schienen, so dass es schwer war, ihre Gestalt genau zu verstehen, ohne noch länger zu starren, reglos dastehend, aus der Tiefe des Tunnels.
Wenn er sie später an einem Tisch sitzen sah, sah er sie oft im Vergleich mit diesem ersten Mal, das die Vorlage von all diesen Malen war, mit roten und grünen Pullovern, blauem Kleid oder gelbem Top, langen, offenen Haaren, und nachdem sie diese einmal abgeschnitten hatte, kurzen, im Schlafanzug und mit Dutt, geschminkt und ohne Schminke, bleich und gebräunt und natürlich auch völlig nackt, auch das war in all der Zeit vorgekommen. Aber das erste Mal strahlte noch immer am stärksten, durch alles Amtischsitzen einer ganzen Beziehung hindurch.
In all diesen Malen hatte er sie nicht noch einmal so reden sehen, dass sie die Arme wie der Spieler eines riesenhaften Klaviers halb neben, halb über den Kopf hob, in einer achselzuckenden oder stützenden Bewegung, die Hände vielleicht auch wie die Scheren eines Krebses oder wie so ein Zirkusmensch, der versucht, eine kleine Behexung zu zaubern, so dass er sich jetzt fragte, ob das wohl an ihm lag. Strahlte er auf sie etwas ab, dass sie veranlasste, ihre Arme mehr bei sich am Körper zu halten?

Semjon überlegt, wie lange sie sich schon kennen, das sind vier Jahre. Es fühlt sich wie eine Verletzung an, das zu denken, vier Jahre. Vier Jahre sind, wenn sie vergangen sind, schon ein Stück, das der Tod von uns hat, denkt Semjon, ein Stück, das uns nicht mehr gehört. Er rechnet noch einmal vier Jahre dazu und merkt sich das Jahr, von dem er glaubt, dass sich Gera und Semjon möglicherweise trennen, wenn er vorher nicht einschreitet. Das ist eine Jahreszahl, die er noch nicht oft gesehen hat, sie sieht krumm aus. Wie kommt er darauf? Er betreibt das als Spiel, denn er denkt, wenn heute die Wende wäre, dann würde wahrscheinlich alles noch einmal so lange dauern, bis es endgültig vorbei ist, so wie die Strafe der Untat gleichkommen muss. Es ist nur der reine Symmetriegedanke, den er zur Anwendung bringt, und doch fühlt sich Semjon jetzt ernst, als er denkt: Wie soll ich vier weitere Jahre füllen?
Semjon versucht jetzt, den Schrecken, den die Vorstellung vierer weiterer Jahre in einer Beziehung mit Gera auf ihn verübt, vierer seiner Jahre, wie er in sich betont, dazu zu verwenden, zu einer Entscheidung zu kommen und diese auch zu verlautbaren.

Semjon sagt: "Gera. Wir haben nach all der Zeit nun versucht, einen Neuanfang zu machen, und das Symbol unseres Neuanfangs sollte unter anderem diese neue Wohnung sein, in die wir gezogen sind vor nun schon mehr als einem Jahr. Wir haben teilweise neue Möbel gekauft und uns alles so eingerichtet, dass wir die Dinge, die wir aus unserem vorherigen Leben gut fanden, mitgenommen, den Rest aber geändert haben nach Maßgabe unserer Vorstellungen, was gut ist. Das gilt sowohl für den Bereich unserer physischen Dinge wie für die anderen Bereiche, die nichtphysisch sind. Dennoch ist in mir nicht das Gefühl entstanden, dass sich zwischen uns etwas Wesentliches geändert hat. Vielmehr erscheint es mir so, als hätten wir mit den guten Sachen ebenso die schlechten wieder mittransportiert und als sei es uns nicht gelungen, diese zurückzulassen. Auch haben diese schlechten Sachen noch ihre alte Kraft und ihr altes Wachstumsvermögen bewahrt, und wir zeigen uns nicht in der Lage, dies einzudämmen. Wir waren uns beide einig, dass das Weiterführen dieser Umstände nicht zu dem, was wir wollen, gehört. Ich frage mich deshalb, ob wir nicht in der Lage sein sollten, nun noch einmal neue Schlüsse zu ziehen."

Worüber sich Gera vielleicht am meisten wundert, ist, wie leicht alles schiefläuft. Semjon sitzt da, ein Körper, der ein Mensch ist, und wenn sie versucht, in Gedanken auf ihn zuzugehen, geht sie an ihm vorbei. Sie kann das immer wieder versuchen und auf ihn zugehen wollen, vor ihrem inneren Auge geht sie an ihm vorbei. Es ist genau, wie wenn man zwei Magnete so aneinanderhält, dass sie sich abstoßen, und es macht einen seltsamen Spaß, das erst Weiche und dann immer Härtere, das wie eine Erbse ist, zu spüren, das ihr Einandernahekommen ganz entschieden versucht zu verhindern.

Gera kennt Veränderung von außen vor allem in Form von Unfall. Wenn ein Unfall geschieht, denkt sie, zum Beispiel einem Kind werden die Finger von einem Pferd, das es füttern will, abgebissen, geschieht etwas, das vorher nicht Teil des Plans war. Das Leben, das das Kind und seine Familie bis zu diesem Augenblick führten, hat nichts mehr mit dem Leben zu tun, das sie hinterher führen. Das Abbeißen der Finger war zuvor kein Teil des Lebens des Kindes, sondern es ist etwas, das aus dem Draußen, der Helle des Draußen kam, und passierte. Es ist genau wie wenn plötzlich irgendwo eine Tür aufgeht, wo wir gar nicht wussten, dass dort eine Tür ist, und die Tür geht auf und es kommt etwas heraus und stiehlt uns etwas, zum Beispiel dem Kind seine Finger, und dann geht die Tür genauso urplötzlich wieder zu und so genau wir auch hinsehen, wir können schon wieder nicht erkennen, dass dort eine Tür ist, geschweige denn, sie noch einmal öffnen, und das ist es, wie solche Dinge passieren. Wenn sie passiert sind, kehrt die Wärme des Drinnen des Lebens langsam zurück und trifft auf eine veränderte Lage, eine Situation, die vollkommen, in all ihren Teilen neu ist. Es ist, als wenn sich die Wärme des Lebens jetzt erst einen Moment lang entscheiden muss, ob sie überhaupt Lust hat, in diese veränderte Lage, die eine vollkommen neue Situation ist und folglich auch aus Menschen besteht, die vollkommen neu und nicht mehr die alten, originalen sind, zurückzukehren, und dieser Moment, in dem die Wärme des Lebens oder wie immer es genannt werden kann, sich erst überlegt, ob sie oder es Lust hat zurückzukehren und weiterzumachen mit uns, die wir andere sind, Unbekannte, und sich uns ansieht, ist ein schrecklicher Moment, denn in diesem Moment haben wir gar nichts. Und alles, was wir danach wieder besitzen können, wird weniger sein als das, was wir vorher in all unserer Natürlichkeit hatten.

Semjon fällt auf, dass er jetzt wieder Angst vor Gera bekommt. Er hält es für etwas Normales, dass, wenn man jemanden kennenlernt, kurz bevor und auch währenddessen, man Angst vor ihm hat, so wie er damals in dieser Kneipe und die Wochen danach. Er findet es selbstverständlich, denn, während man sich ihm, oder in seinem Fall ihr, ohne ihn genauer zu kennen, immer mehr öffnet, wie man es nennt, gezwungenermaßen, weil es das Kennenlernen als solches erfordert, kennt man denjenigen oder diejenige noch gar nicht genau und weiß daher auch nicht, welche Reaktion diese immer mehr offenliegenden Punkte beim neuen Gegenüber hervorrufen, wenn es sie bemerkt, und ob dessen Reaktion diese Punkte beschädigt. In Semjons Vorstellung von den Dingen ist dies der eigentliche Zweck des Verliebtseins, dass es hilft, diese immer gegenwärtige Angst vor der Reaktion des anderen gegenüber den eigenen immer mehr offengelegten Punkten zu übertönen. Natürlich ist die Angst immer vorhanden, aber während des Verliebtseins besitzt man die nötige Wildheit, diese zu ignorieren, oder mehr noch als sie zu ignorieren, sie ganz und gar zu verlachen. Und wenn ein Verliebtsein dann durch all die komplizierten Schritte hindurch, die dafür nötig sind - und trotz aller Kompliziertheit kommt es verblüffend häufig dazu - Erfolg hat, hat man die Angst, die anfangs Teil von all dem war, irgendwann vergessen oder sie in etwas anderes umbenannt oder sie hinter dem, was nun eine ordentliche Beziehung ist, versteckt, so wie man die Putzmittel und Lappen und Eimer, die einen daran erinnern, dass alles in Wirklichkeit immer schmutzig ist, hinter der Tür eines Wandschranks versteckt und diese so häufig wie möglich zu lässt. In der ordentlichen Beziehung hat man dann keine Angst vor dem anderen mehr, oder zumindest nicht diese Angst, die Semjon als eine Angst vor dem Ungeschütztsein empfindet. Umsomehr ist er nun besorgt, als ihm auffällt, dass in ihm erneut diese Angst vor Gera zum Vorschein kommt, umsomehr, als ihm jetzt das vor ihr schützende Verliebtsein in sie dabei fehlt. Es ist ihm, als solle er beginnen, das Verliebtsein nun noch einmal rückwärts durchzumachen, mit all seinen Schrecken, und dieses Mal schutzlos.

Gera beginnt nun, in Gedanken in der Wohnung umherzugehen. Eigentlich sitzt sie noch da, aber es sind ihre Gedanken, die nun in der Wohnung umhergehen. Mit ihren Gedanken steht sie in der Küche und überlegt, dass dies eine Küche sein sollte, die sie daran erinnert, wie sie schon oft mit Freunden hier stand, und mit ihnen an Abenden kochte und Wein trank und sich dabei im Metall der Kochtöpfe spiegelte, in der Luft der hohe Ton der anstoßenden Gläser, eine Küche mit dem Glanz vieler Abende, doch eine solche Küche war ihre Küche nicht, und sie verlässt sie. Mit ihren Gedanken geht sie nun in das Schlafzimmer, und ihr fällt ein, dass ihr Schlafzimmer ein Zimmer sein sollte, in dem sie schon oft vor dem großen Spiegel in der Tür des Kleiderschranks stand, abends und morgens, fertiggemacht um hinauszugehen, während sie noch auf den Babysitter wartet oder vielleicht gerade das Kind schreit. Sie bricht den Gedanken ab und befindet sich gleich im Loungeroom. Sie hasst diesen Loungeroom, es ist ein Raum, den sie so selten wie möglich betritt, und jetzt denkt sie daran, wie sie alle Möbel, die darin sind und die fast niemals jemand benutzt, durch das Fenster hinaus und hinab in den Hof schmeißt. Es macht ihr nichts aus, dass der Sessel wahrscheinlich zu groß ist, um durch das Fenster zu passen, in ihren Gedanken schmeißt sie ihn so heftig hinaus, dass er ein sesselförmiges Loch in die Wand macht, wie in den Comics. Dann beruhigt sie sich wieder. Sie schämt sich für ihren Gedanken mit dem Sessel ein wenig, weil es Semjons ist, ein Sessel von Semjon, aus seiner Vergangenheit von ihm in die Wohnung und dann in den Loungeroom gebracht, aber die Scham, die ihr wie eine Pflicht scheint, hindert sie nicht daran, sich nebenher gleichzeitig gut zu fühlen, und im Vergleich mit der Scham behält sie dieses gute Gefühl etwas länger. Auch als die Scham sich schon wieder gelegt hat, ist das gute Gefühl noch nicht restlos verschwunden. Darum kann sie jetzt beginnen, darüber nachzudenken, wie es sich anfühlt, wenn man sich gut fühlt.
Sie hat dieses Gefühl selten, deswegen kann sie es leicht vom Rest unterscheiden und jetzt betrachten. Sie grenzt es noch mehr ab, um es desto genauer untersuchen zu können. Sie hofft, dass es ihr durch die Abgrenzung gelingt, das Gefühl, wenn nicht dauerhaft zu behalten, so doch sein restloses Verschwinden zu bremsen, indem sie es vor Verunreinigung schützt. Durch die Untersuchung hofft sie dahinterzukommen, wie es zusammengesetzt ist, damit sie es vielleicht selber herstellen kann oder zumindest verstehen, warum es ihr meistens fehlt. Immer, wenn sie das gute Gefühl hat, findet sie, dass dieses Gefühl eines ist, ohne das man eigentlich nicht leben sollte. Sie bekommt ein wenig Panik bei dem Gedanken, dass es gleich wieder weg ist. Dieses Gefühl liegt in ihr wie ein schlafender Hund in der Sonne, sie sieht jetzt den Hund, so dass sie ein wenig zögert und genau überlegt, wie sie am besten herangeht. Dann sagt Semjon:

"Was denkst du dazu?"

Für Gera ist es eine Erfahrung, dass sie schon häufiger ein Gefühl verloren hat, und was sie als Erschwerung hinzukommend empfindet, ist, dass sie sich dafür jedesmal schämt. Gera weiß, dass sie in ihrem Leben erreichen möchte, dass dieses Zweigeteilte verschwindet, dass sie einerseits etwas verliert, und sich dafür andererseits zusätzlich schämt, so dass sie dann zwei schlechte Gefühle hat anstatt eines guten. Gera hat lange in ihrem Leben eingesehen, dass man mehr schlechte Gefühle als gute hat, das hat sie immer als Selbstverständlichkeit hingenommen, aber jetzt hört sie vielleicht auf, das einzusehen, jetzt will sie vielleicht eine Erklärung dafür.

Worüber wir unsere größten Kenntnisse haben, denkt Semjon, ist unser Leben. Und doch verstehen wir gar nichts darin. Er überlegt sich, mein ganzes Denken über das Leben ist im Grunde ein Denken aus Zeitschriften, oder zumindest ein Denken entsprechend dem Denken aus Zeitschriften, ist zeitschriftenhaft. Es ist kein Wunder, dass ich nicht verstehe, was mit mir passiert, denn ich ordne die Geschehnisse meines Lebens immer nur mit meinem Zeitschriftendenken und versuche ihnen einen Sinn zu geben, den auch ein Leser oder eine Leserin einer Zeitschrift versteht. Die Leser oder Leserinnen von Zeitschriften müssen keine dummen Menschen sein, aber als Zeitschriftenleserinnen und -leser sind sie es doch, weil sie nichts anderes erwarten als das, was sogar ein dummer Mensch verstehen kann, und genau deshalb in diesem Moment selbst dumme Menschen sind. Und das ist zugleich der Grund, warum ich selbst so ein dummer Mensch bin und nichts von dem verstehe, was mit mir und in meinem Leben geschieht, und immer wieder in Situationen gelange, die zeitschriftenartig sind, wie zum Beispiel die jetzige Trennsituation. Semjon sieht jetzt den Stapel Zeitschriften vor sich, der früher immer bei ihnen zu Hause lag, und in dem er immer neugierig geblättert hat. Es gab ja nicht viel anderes Leichtes zu lesen. Der Zeitschriftenstapel lag in der Nähe des Fernsehers, es waren auch viele Fernsehzeitschriften dabei. Vor allen Dingen er hat immer viel darin geblättert, und seine Mutter, die jeden Abend darin las, wie er hat sehen können. Semjon versucht aber schon seit längerem, nicht mehr an seine Mutter zu denken, und der Gedanke an sie jetzt, während er mit diesen Gefühlen gegenüber von Gera sitzt, ist ihm besonders unangenehm, peinlich. Er findet, es ist nicht nötig, dass ihm jetzt, während er versucht, seine Gefühle Gera gegenüber so dringlich in Ordnung zu halten, das Bild seiner Mutter in seine innere Landschaft hineinleuchtet wie ein unheiliger Mond, der dort nicht das Geringste zu suchen hat. Semjon denkt, ich habe schon häufig versucht, das Bild meiner Mutter herauszudrängen, wenn es mir nicht passte - und eigentlich passte es nie -, aber es ist fast immer stärker gewesen als ich, und es gelingt mir fast nie, es herauszudrängen, gleichgültig, wie unpassend, unnötig es gerade ist. Ich weiß, dass ich es vielleicht nie schaffen werde, dieses Bild endgültig aus mir herauszuoperieren, das immer in den ungünstigsten Augenblicken erscheint und dann nicht mehr weggeht, und deshalb habe ich vor kurzem damit begonnen, es zu zerstören und einfach zu ruinieren mit roher Gewalt. Ich weiß natürlich, dass es kein Leichtes sein wird, aber es muss sein. Doch auch mit der Ruinierung des Mutterbildes bin ich noch nicht weit gekommen, sofern es mir überhaupt eines Tages gelingt. Diese Zerstörung des Mutterbildes, das meine innere Landschaft in sein Licht taucht, das ich verabscheue, ist in jedem Fall etwas, das ich schon früher in meinem Leben hätte beginnen müssen, denkt Semjon, und etwas, das ich in nächster Zeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit fortführen muss. Wie immer diese Sache mit Gera jetzt ausgeht, habe ich zumindest die eine Lehre daraus gezogen, die ich festhalten kann, und dies ist die Mutterzerstörung, die ich von nun an mit allen Mitteln betreibe.

Während Gera darüber nachdenkt, was sie Semjon antworten soll, denkt sie in Wirklichkeit über etwas anderes nach. Sie hat auch noch nicht das Gefühl, das wie ein in der Sonne schlafender Hund ist, vergessen, aber etwas anderes drängt sich ihr auf. Sie merkt, dass sie, während sie mit Semjon an diesem Tisch sitzt, nicht unbedingt alles das denken kann, was sie gern denken würde. Sie denkt, Semjon sitzt mir hier gegenüber und verhindert meine Gedanken. Für einen Moment sieht sie, obwohl er normal angezogen ist, seine ganze Haut vor sich, die an manchen Stellen behaart und an manchen nicht behaart ist, und sie denkt: Seine Haut verhindert meine Gedanken. Einen Moment lang sieht sie die weiße Haut Semjons vor sich, dunkler an den Stellen, an denen die Haare darüber sind, brauner am Gesicht und an den Armen, kalkweiß an seinem Hintern und violetter an seinem Schwanz. Sie stellt sich Semjon jetzt nackt vor, aber sie ist froh, dass er angezogen ihr gegenüber am Tisch sitzt. Sie findet nicht, dass das Gesicht eines Menschen zum Rest seines Körpers passt, es ist wie aus einem anderen Material, von einem anderen Hersteller, in einem anderen Geschäft gekauft. Vielleicht höchstens im selben Geschäft wie die Hände, denkt Gera.
Alles, was Gera in die Vergangenheit hinein denkt, ist voll mit Semjon, und selbst die Zeit, als sie Semjon noch gar nicht kannte, kann sie momentan irgendwie nur durch die Zeit mit Semjon hindurch sehen. Die Vergangenheit ist für Gera eine Zeit, die, wenn sie von heute aus darauf schaut, mit Semjon tapeziert ist, mit zu viel Semjon, wie sie aus jetziger Sicht findet. Alles, was Gera in die Zukunft hineindenkt, ist schon ohne Semjon, obwohl Semjon noch da ist. Für sie wäre das wie eine Zeit ohne Tapete und deshalb vielleicht sogar eine Zeit ohne Wände. Eine Zeit ohne Wände, das ist etwas, das man ja anstrebt, denkt Gera. So dass sie jeden Tag, den sie weiter mit Semjon zusammenist, ihre Vergangenheit, die ihr eng ist, nur verlängert und nicht in ihre Zukunft hineinkommt, die ihr als etwas vergleichsweise Wandloses, Lichtes erscheint, in das sie hinein- oder hinauswill. Sie muss aber auch etwas tun, um zu erreichen, dass Semjon nicht mit in diese Zukunft hineinkommt, die eine Zukunft ohne ihn sein soll, aber was? Wie ist es möglich, das Mitkommen Semjons in ihre Zukunft, die eine semjonlose sein soll, zu stoppen? Das Problem ist ja nicht der Semjon, der dort am Tisch sitzt, sondern der Semjon, durch den sie in ihrem Kopf alles betrachtet. Sie kennt ihn ja nun mal, sie kann ihn ja nicht entkennen? Das ist die offene Frage, die sie daran hindert zu handeln.

Gera sagt: "Semjon, ich weiß, dass wir schon viel darüber gesprochen und viele Versuche unternommen haben, um unsere Situation, die für dich/uns schon mehrmals Anlass zu einem Gespräch war, zu verändern/verbessern. Ich spüre auch deine Unzufriedenheit mit dem Gegebenen. Ich erinnere mich aber noch daran, dass wir uns versprochen hatten, dass wir es gemeinsam schaffen, eine Verbesserung in unserem Zusammensein zu erreichen, und ich glaube, dass wir ehrlicherweise sagen müssen, dass unser Bemühen dazu noch nicht an seinem Ende angelangt sein kann, bevor wir nicht alles versucht haben."

Semjon denkt: Ich habe mich während meines Lebens mit Gera so weit von mir selber entfernt, wie es eigentlich gar nicht möglich sein sollte. Alle Verkettungen von Gedanken oder Gefühlen in mir sind jetzt ganz anders als das, was ich mir eigentlich in mir vorstelle. Der Mensch, der an meinem, Semjons, Platz, jetzt an diesem Tisch sitzt, ist in Wirklichkeit ein ganz anderer als der, der tatsächlich hier sitzen sollte. Einerseits sitzt ein Mensch da, und an seinen Äußerungen kann man ablesen, wie er innerlich aufgebaut ist. Andererseits ist dieser Mensch ein ganz anderer, denn auch ich mache seine Bekanntschaft nur durch seine Äußerungen, die meine Äußerungen, aber nicht mir gemäß sind. Alles, was mir passiert, passiert aber auch mit mir. Wir sind unsere eigenen Parasiten. Nur wenn ich nichts tue, bin ich überhaupt noch ich selbst. Im Grunde ist jeder Kontakt mit der Außenwelt nur ein Schaden, oder im besten Fall ist er unmöglich. Ich schaue aus meinen Augen heraus, doch alles, was ich sehe, ist vollkommen verloren. Ich schaue aus meinen Augen heraus, und die Tischplatte vor mir schenkt mir ihr Bild, so dass es in meinem Kopf ist, doch wer ist in meinem Kopf, um sie zu sehen? Alles ist vollkommen verfilzt und nicht zu gebrauchen, zugleich aber unendlich getrennt und nicht zu erreichen. Dasselbe mit Gera. Ich sehe sie an, ohne zu wissen, ob ich sie sehe oder ob es sie ist, die für mich sichtbar ist, und sie sieht mich, doch das einzige, das sie erkennen kann, ist eine Lüge, gleichgültig, wie man es wendet. Wir können gar nicht entscheiden, welches die wirkliche Lüge ist, weil wir noch nicht einmal wissen, ob wir es sind, die entscheiden.
Eigentlich spielen wir Menschen uns auch uns selber immer nur vor. Wir bauen uns sogar die Stätten selbst auf, an denen wir vorhaben zu scheitern. Im Grunde ist unser ganzes Leben nur eine Fälschung. Wir produzieren in unserem Kopf, der unser Labor ist, irgendwann eine kleine Menge an Falschgeld, und dann vergessen wir es und gehen hinaus in die Welt und zahlen uns nach und nach selbst damit aus, und am Ende wundern wir uns, dass wir nichts haben. Aber in Wirklichkeit wundern wir uns vielleicht gar nicht, weil wir in Wirklichkeit nichts vergessen und jederzeit wissen, dass wir uns nur mit unserem eigenen Falschgeld bezahlen, und deshalb ist selbst unsere Verwunderung und die Wut, die dann folgt, nur eine Fälschung. Und das macht uns natürlich erst recht wütend, dass es nun heißt, dass nicht einmal unsere Wut etwas ist, das etwas wert ist, und diese zweite, noch größere Wut, die wir dann spüren, ist vielleicht das einzige, das ein Haarbreit weit etwas Echtes ist, vielleicht das einzige Echte, das wir überhaupt jemals imstande sind zu erlangen.
Ich sage etwas zu Gera, weil ich glaube, dass ich es sagen muss. Ich denke etwas, weil ich glaube, dass ich es denken muss. Ich sage und denke die Dinge, weil sie aus dem folgen, was ich vorher gesagt und gedacht habe, infolge einer Verkettung. Wann immer diese Verkettung begonnen hat, war eigentlich schon alles zu spät.
Im Grunde sitzen hier nicht nur zwei Leute, sondern drei oder beliebig viele und, falls es Gera genauso geht, sogar noch mehr. Wir sitzen in einer Wohnung, die uns nicht gehört und sprechen über Dinge, die uns nichts angehen. Was immer wir erreichen wollen, kann nicht gelingen, und selbst wenn wir uns heute trennen, indem wir beschließen, der Beziehung zwischen uns ein Ende zu setzen, wird diese Trennung nur ein weiterer jener Versuche, etwas Echtes zu tun, sein, der in jedem Fall scheitern muss, scheitert.

Gera spürt einen Ruck und weiß, dass sie jetzt keine besondere Lust mehr hat, mit Semjon an diesem Tisch zu sitzen, deswegen steht sie gleich auf. Sie hat ein Spiel, das sie immer spielt, bevor sie von irgendwo, wo sie länger gesessen hat, aufsteht, und das spielt sie jetzt auch. Sie rollt ihre Zehen auf und drückt sie, egal, ob oder welche Schuhe sie gerade anhat, in einem Arpeggio wieder zu Boden, dabei hört sie in ihrem Kopf ein Klavier. Dann versucht sie, mit den Zehen den Anfang eines Musikstücks zu spielen, zum Beispiel etwas von Bach. Es macht ihr Spaß, sich vorzustellen, dass sie eines Tages wirklich mit den Füßen Klavier spielen kann, das wäre natürlich das Allerverrückteste. Man kann sich vorstellen, dass es niemanden gibt, dem sie das je erzählt hat.
Sie denkt darüber nach, was sie an diesem Abend, der ein Donnerstagabend ist, machen kann, denn Semjon wird, wie sie denkt, sich sicher betrinken. Semjon betrinkt sich eigentlich immer nach einem solchen Gespräch, auch wenn es diesmal sehr kurz war. Wenn Semjon sich zuende betrunken hat, denkt sie, wäre es gut, wenn ich schon schliefe.
Dann steht sie auf, sie kommt sich dabei vor wie ein Mensch, der aus einem Foto heraussteigt, das in seiner Flachheit staunend zurückbleibt. Sie macht einen Schritt vom Tisch weg wie um auch wirklich über den Rand des Bildes zu treten. Sie blinzelt ein paar mal mit den Augen, als wollte sie umblättern, doch es hat keine Wirkung. Dann geht sie in die Küche. Gera macht sich um diese Zeit in dieser Jahreszeit eigentlich immer einen Tee. Auf dem Papierschild am Teebeutel steht ein Spruch oder Sprichwort, über das Gera nachdenkt. Gera wünscht sich, dass Semjon, wenn der Tee fertig gezogen hat, auch aufgestanden und aus dem Wohnzimmer gegangen wäre, damit sie für eine Zigarette ans Fenster kann. Der Dampf aus der Teetasse kräuselt ihre Gedanken.

Gera denkt, vielleicht werde ich, wenn Semjon weg ist, mir einen Hund kaufen.

 
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Hallo liebe Leute,

ich habe euch heute eine kleine Kurzgeschichte eingestellt, ich würde mich freuen, wenn jemand sie liest. Vielleicht ist sie etwas anders als andere Kurzgeschichten hier im Forum? Ich kann es schwer beurteilen und hoffe trotzdem auf ein paar Kommentare.
Ich danke euch und grüße

Karlarakt4

 
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Gera denkt, vielleicht werde ich, wenn Semjon weg ist, mir einen Hund kaufen.
Ich hab das jetzt wirklich zu Ende gelesen? :eek:

Keine Ahnung, Karlarakt4 (Karla? Karl?)), wie du das geschafft hast, entspricht der Text thematisch doch genau dem Zeug - ich will’s mal abschätzig larmoyante, im Grunde zu nichts führende Befindlichkeitsprosa, bzw., etwas euphemistischer, ein Beziehungspsychogramm nennen - mit dem man mich üblicherweise bis sonst wohin und noch ein Stückchen weiter jagen kann.
Hm. Dann kann’s wohl nur an deiner Erzählsprache liegen, dass ich einfach nicht aufhören konnte.
Ja, der für mein Gefühl ungemein souveräne Satzbau, der durchgängig eigentlich ziemlich lakonische Tonfall, diese vielen repetitiven Formulierungen haben tatsächlich was Suggestives, was beinahe Hypnotisierendes. Ich lese und lese und lese, und obwohl ich die Hoffnung, dass da jetzt noch irgendwas passiert sehr bald aufgegeben habe, lese ich weiter.
Selbst die paar Stellen mit direkter Rede, Stellen, die aufgrund der vollkommen lebensunecht klingenden Eloquenz der Sprechenden mich normalerweise jedes Buch unters Sofa pfeffern ließen, stünde so was drin, lassen mich nicht aufhören. Einfach, weil sie sich mit ihrem Sprachduktus perfekt in den restlichen Text einfügen.
Tja, war ein wirklich eigenartiges Lesevergnügen.

Viel mehr will und kann ich zu deiner Geschichte jetzt gar nicht sagen.
Schön jedenfalls, dass sich immer wieder mal jemand ins Forum verirrt, der den stilistischen Mainstream Mainstream sein lässt und in einer ungewöhnlichen, originären Sprache schreibt.

Willkommen hier, Karl/a.

offshore

 

Ich danke dir, ernst offshore, für das Lesen meiner Geschichte und deinen, wie ich finde, positiven Kommentar, der meine Eitelkeit, auch wenn er ihr niemals Genüge tun kann, doch zumindest kitzelt.
Ich werde in Kürze angelegentlich des Inhalts dessen, was du schreibst, Stellung beziehen, muss mir aber dafür ein wenig zusätzliche Zeit freiräumen.
Einstweilen erwarte ich die Flut weiterer Kommentare der anderen Leser und melde mich baldestmöglich zurück.

Beste Grüße

Karlarakt4


P.S. ich habe ein paar minimale Änderungen an dem Text vorgenommen, denke aber nicht, dass es jemandem auffallen wird

 
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Liebe Leute,

ich wollte mich kurz zu den Anmerkungen äußern, die ernst offshore zu meiner Erzählung gemacht hat.

1. die wörtliche Rede. Es freut mich, dass du über den Anstoß, den du anfänglich an der Form der wörtlichen Rede genommen hast, gut hinweggekommen bist. Ich finde, die wörtliche Rede ist in jedem Prosatext ein Fremdkörper, ein Problem, für das es keine eindeutige Lösung gibt. Oft ist es hässlich, wie die Figuren in einen eigentlich elaboriert geschriebenen Text plötzlich mit ihren "real life"-Stimmen hineinquaken. Im besten Fall hat man so ein merkwürdiges Umschalten: erst Prosa, dann plötzlich der Anführungszeichen-Absatz, der im Grunde ein dramatischer, ein Theater-Text ist, dann wieder Prosa. Ich habe versucht, den Fluss des Textes durch die wörtliche Rede nicht zu stören und deswegen ist etwas herausgekommen, was so natürlich niemals jemand im "real life" sagen würde. Aber mal im Ernst, niemand geht mit einem Aufnahmegerät auf die Straße und überträgt dann das Gehörte eins zu eins in sein Geschriebenes. Wir wissen, dass wir auch unsere wörtlichen Redepassagen sowieso nur erfunden haben, stimmts? Ich habe dann versucht, im letzten Redeabsatz nochmal eine Extra-Warnlampe "Achtung, nicht eins zu eins ins Echtleben übertragbar!" anzubringen und deshalb sogar Schrägstriche verwendet!

2. larmoyante Beziehungsprosa. Ja, ich hatte gehofft, dass es irgendwie deutlicher wird, dass gar nicht so viel direkter Beziehungskram in dem Text verhandelt wird, sondern dass die Beziehungssituation zwar der Aufhänger oder Pol ist, der die Überlegungen und Befindlichkeiten der Protagonisten verursacht, aber nicht deren alleiniger Inhalt. Der Text sollte so ein bisschen die Persönlichkeiten der beiden auch unabhängig von ihrer Beziehung beleuchten. Die zwischenmenschliche Beziehung ist halt ein zentrales, vielleicht das wichtigste Thema, das uns westliche Mitteleuropäer bestimmt, und deswegen bietet es sich einfach gut als Aufhänger für existenzielle Themen an und wird von vielen sicher auch als existenziell wahrgenommen. Man kann das lächerlich finden, und vielleicht hätte ich diese Option der Lächerlichkeit in dem Text noch etwas stärker auskolorieren sollen.
Aber warum verteidige ich mich überhaupt?
Weil ich denke, dass du, ernst offshore, absolut recht hast, dass zu viele Beziehungsgeschichten auf den Nerv gehen können. Aber was haben wir sonst für Möglichkeiten, um in den Bereich des Relevanten zu kommen, außer Tod oder Genre (Weltverbesserungsprosa mal außen vor gelassen)?

Beste Grüße

Karlarakt4

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Karlarakt4 ,

ich begrüße dich bei den Wortkriegern und wünsche dir hier eine gute Zeit.

Dein etwas längerer Text hat bisher noch nicht sehr viel Resonanz gehabt, das ist meist eine eher zufällige Sache. Im Moment sind wir alle mit dem Thema des Monats beschäftigt und da stehen die Geschichten, die dazu eingestellt werden, für viele von uns im Vordergrund.

Du schreibst in deiner Antwort auf ernst offshore s Kommentar:

Die zwischenmenschliche Beziehung ist halt ein zentrales, vielleicht das wichtigste Thema, das uns westliche Mitteleuropäer bestimmt, und deswegen bietet es sich einfach gut als Aufhänger für existenzielle Themen an und wird von vielen sicher auch als existenziell wahrgenommen.

Und da wird dir niemand widersprechen. Ich würde das Thema sogar nicht nur auf uns westliche Mitteleuropäer beschränken, das scheint woanders nicht weniger existenziell wahrgenommen zu werden.

Du beschreibst in deinem Text die Situation einer Partnerschaft (vielleicht einer Ehe), die nach vier Jahren große Risse bekommen hat. Dabei stellst du das Dilemma mal aus Geras Sicht, mal aus Semjons dar. Das ist grundsätzlich eine gute Möglichkeit, eine Beziehung zu beleuchten. Am Schluss sollte sich der Leser so ein klares Bild von der Zerrissenheit dieser Beziehung machen können.

Eine gute Idee, deren sprachliche Ausführung mich allerdings nicht so recht überzeugt hat.

Warum war das so?

Vorausschicken muss ich, dass für mich der Stil des Autors und seine Sprache wichtig sind, dass ich aber zuerst meist inhaltlich lese. Deshalb ist für mich die Aussage der einzelnen Sätze wichtiger als ihre schöne Form. Und darin liegt mein Problem mit deinem Text. Ich möchte dir das an ein paar Beispielen verdeutlichen:

Gera denkt in letzter Zeit auch über Veränderung nach, aber sie denkt daran in einer mehr abstrakten Weise. Gera findet, dass sie keine guten Erfahrungen damit gemacht hat, die Dinge im Dinglichen zu verändern, und deswegen verändert sie sie zuerst in sich selbst. Bezüglich des Änderns von Dingen hat Gera eine klare Vorstellung von Reife. Gera fragt sich, was will der Kopf eigentlich, wohin will er? Vielleicht ist auch immer alles in einer Krise.

Ich versuche mal, diesen Satz zu entschlüsseln, indem ich ihn ein wenig umstelle:

Gera hat schlechte Erfahrungen damit gemacht, die Dinge im Dinglichen zu verändern. (Hier heideggert es gewaltig: die Dinge im Dinglichen.) Gemeint scheinen mir die Probleme der konkreten Situation zu sein. Das würde also bedeuten, dass G. schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, die Situation einfach zu verändern, ohne sie vorher zu durchdenken. Das kann ich nachvollziehen.

Gera denkt über Veränderungen nach, doch sie ändert die Dinge zuerst in sich selbst, und zwar in einer abstrakten Weise. Wie kann man Dinge in sich selbst verändern? Die Einstellung zu den Dingen ja, aber die Dinge selber? Das geht mMn nach weder abstrakt noch konkret. Kann ich eine Beziehung, die Risse hat, in mir selbst, in meinen Gedanken verändern? Ich kann mir etwas vormachen - ja.

Dann ein weiterer Gedanke: Beim Verändern der Dinge hat Gera eine klare Vorstellung von Reife.
Wie die aussieht und was hier unter Reife verstanden wird, führst du nicht aus, sondern gehst zum nächsten Gedanken über:
Gera fragt sich, was will der Kopf eigentlich, wohin will er?
Ich vermute, Gera fragt sich hier, was vernünftig ist, was sie eigentlich will, wohin sie will. Beides, die Aussage über die Reife und die Frage über den Kopf haben nichts mit den vorhergehenden Aussagen über die Dinge im Dinglichen zu tun. Zumindest erschließt sich mir das aus dem Zitierten nicht. Und da ist auch der letzte Satz des Absatzes nicht hilfreich:

Vielleicht ist auch immer alles in einer Krise.

Das mag dich jetzt überraschen, aber wie an dieser Stelle ging es mir an vielen Stellen deines Textes: Ich lese deine Aussagen und sprachlich gesehen erscheinen sie mir interessant, doch wenn ich nach dem Sinn des Ganzen frage, so bleibt das von dir Gemeinte leider unter vielem Wortgeklingel verborgen.

Eine andere Stelle:

Der Raum, in dem beide sitzen, ist ihr Wohnzimmer. Es ist ein Wohnzimmer, das ihnen beiden gehört, doch im Moment ist es mehr so, als würde die Hälfte, in der Semjon am Tisch sitzt, Semjon, und die Hälfte, in der Gera sitzt, Gera gehören, mit einer Trennlinie dazwischen, genau wie der Knacks in der Schale von einem Ei. Semjon findet, dass es ist ein merkwürdiges Konstrukt ist, dass etwas zweien gehört, wenn man es nicht aufteilen kann, denn dann ist es für alle vollkommen verloren.

Schon jetzt ist es so, dass die Fährten, die Semjon, wenn er durch die Wohnung geht, hinterlässt, diejenigen Geras beinah nur an den Durchgängen der Türen, an den Waschbecken, dem Kühlschrank, dem Klo kreuzen.

Dass ‚ihr’ Wohnzimmer bedeutet, dass es beiden gehört, ist tautologisch. Aber was meinst du, wenn du sagst, dass es ‚für alle vollkommen verloren’ ist, wenn man es nicht aufteilen kann? Natürlich, wenn zwei etwas nicht untereinander teilen können, hat weder der eine noch der andere etwas davon. Aber, es existiert immer noch, ist also nicht ‚vollkommen’ verloren. Auch hier schwant mir, was du meinen könntest.

Ja, und dann die Fährten, die die beiden hinterlassen, wenn sie zum Kühlschrank, zum Klo usw. gehen. Natürlich weiß ich, dass es sich bei den ‚Fährten’ um nicht sichtbare Linien handelt, aber warum kreuzen sie sich an den Durchgängen der Türen, an den Waschbecken, am Kühlschrank, am Klo? Du willst auf sehr umständliche Weise sagen, dass sie sich aus dem Weg gehen, aber Bilder sollten sich unmittelbar erschließen, sonst taugen sie nicht viel.

Noch ein letzter Satz, den ich mir markiert habe, weil er sich mir nur schwer erschloss: Nicht nur, dass hier der Finalsatz mit ‚um’ nicht beendet wird, auch mich kostete es Mühe, zu begreifen, warum es Gera früher leichter fiel,

... sich in einen Gedanken zu denken, und wieviel Mühe sie so etwas heute kostet, zumindest bei Gedanken mit Semjon. Sie müsste, um einen Gedanken, der ein Lebensgedanke ist und auch Semjon enthält, für einen Lebensgedanken mit Semjon in jedem Fall ihre Ruhe verlassen, und sie merkt, dass sie das nicht kann und nicht möchte.

Auch hier schwant mir, was du eventuell sagen möchtest, doch so verschwurbelt erschließt es sich mir nur, wenn ich mir viel Mühe beim Entschlüsseln gebe und von der Unlogik des Satzkonstrukts absehe. (Übrigens, auch mir fällt es schwer, mich in einen Gedanken zu denken.:D)

Ich will es mal dabei belassen. Das mag nun durchaus an mir liegen, dass ich sehr inhaltlich lese und immer wissen will, was da eigentlich gesagt wird. Und das fällt mir bei deinem Text an vielen Stellen sehr schwer. Ich habe zum Schluss das unbestimmte Gefühl, sehr sehr wortreich etwas über eine kaputte Beziehung gelesen zu haben, aber hinter all den vielen Worten erschließt sich mir nicht immer die klare Aussage.

Fazit: Ich finde deinen Versuch, sprachlich neue Wege zu gehen, mutig und interessant. Doch vieles, was ich gelesen habe, habe ich leider nicht wirklich verstanden. Das lag möglicherweise an meiner Unfähigkeit, das Gemeinte zu erfassen. Eventuell hast du aber auch des Guten zuviel getan und die Form, die Sprache, über den Inhalt gestellt, Das hat letztendlich bei mir dazu geführt, dass ich es aufgegeben habe, zu enträtseln, was du mir als Leser mitteilen möchtest. Wenn mir kunstvolle Sprache gefallen soll, so muss auch das Inhaltliche, das sie transportiert, nachvollziehbar sein. Ich erahne oft, was du sagen möchtest, darf aber nicht genauer hinschauen, denn dann verliere ich mich in einem Geflecht von sich widersprechenden oder unzusammenhängenden Äußerungen und Andeutungen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

danke für deine Anmerkungen, barnhelm. Ich melde mich in Kürze zurück und gehe darauf ein!

Grüße

Karlarakt4

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo baba schura,

vielen Dank für deine Antwort auf meinen Text. Natürlich bin ich neugierig, was du zu dem Text zu sagen hast.

Leider habe ich es noch nicht geschafft, ausführlicher zu barnhelms Beitrag Stellung zu beziehen, plane das aber nachzuholen!

Grüße

Karlarakt4

 

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