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Gerüchteküche
Katja fluchte vor sich hin. Der Hinterreifen ihres Fahrrads war aufgeschlitzt worden. Ein sauberer Schnitt mit einem Messer. Als ob der Tag nicht schon genug Ärger mit sich gebracht hatte. Erst war sie spät zum Unterricht erschienen, dann hatte der Mathelehrer, Herr Steiner, sie vor der gesamten Klasse stramm stehen lassen. Und schließlich, in der zweiten Pause, hatte sich jemand an ihrem Rucksack zu schaffen gemacht, um den Inhalt auf dem Flur zu verteilen. Nach Schulschluss hatte Katja alles zusammen gesucht. Mittlerweile war es zwei Uhr. Ihr knurrte der Magen. Sicher wartete Mutter schon mit dem Essen auf sie.
Das Handy vibrierte in Katjas Jackentasche. „Mama“ stand auf dem Display. Auch das noch. „Ja?“
„Katja? Wo bleibst du denn? Das Essen ist schon kalt. Ist alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, alles klar. Ich mache mich jetzt auf den Weg, es ist etwas… dazwischen gekommen.“
„Na gut, ich stelle den Teller in die Mikrowelle, weil ich jetzt noch ein paar Besorgungen in der Stadt machen wollte. Ich müsste am späten Nachmittag wieder zu Hause sein.“
„Dann bis später.“ entgegnete Katja, sichtlich erleichtert, dass ihre Mutter nicht weiter nachhakte, wie es sonst ihre Angewohnheit war. Es erklang ein Knacken in der Leitung. Das Gespräch war beendet. Katja schob das Handy zurück in die Jackentasche und wollte schon ihren Rucksack in den Fahrradkorb legen, als ihr Blick auf einen weißen Umschlag fiel, auf dem ihr Name in Druckbuchstaben geschrieben stand.
Was sollte das nun wieder darstellen? Sie griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Darin befand sich ein DIN A5 Zettel, der mit dem Computer getippt worden war.
„Das ist nur eine Warnung, du Miststück. Du solltest deine schmierigen Finger von gewissen Personen lassen, sonst mache ich dich eines Tages so platt, wie den Fahrradreifen.“
Die Worte verschwammen vor ihren Augen, die sich mit Tränen füllten. Das war eine Gemeinheit. Wer konnte ihr nur solch einen Brief zukommen lassen? Seit sie nach dem Umzug vor drei Monaten auf die neue Schule ging behandelten sie viele wie eine Aussätzige. Die graue Maus aus dem Bauernhaus hatten Katja alle genannt. Es fiel ihr sehr schwer Anschluss zu finden. Die ersten vier Wochen waren vergangen, ohne dass sich jemand mit ihr abgab. Dann aber freundete Katja sich mit Lars an. Lars war der absolute Mädchenschwarm, hatte aber eine Freundin. Marleen. Oft hatten sie zu dritt etwas unternommen, so dass sich zwischen Katja und Marleen auch eine Freundschaft entwickelte. Bis zu dem einen Tag, an dem Lars Katja gestand sich in sie verliebt zu haben.
„Und was ist mit Marleen?“ hatte sie gefragt.
„Ich habe ihr die Wahrheit gesagt und sie meinte damit klar zu kommen.“ war Lars Antwort. Ein paar Tage später stellte sich jedoch heraus, dass Marleen keinen blassen Schimmer von der ganzen Sache hatte. Katja fühlte sich schlecht deswegen und gab Lars sofort den Laufpass, der wiederum böse Gerüchte über sie verbreitete. Sie sei eine Schlampe, die ihn sofort rangelassen hatte, die es von vornherein auf ihn abgesehen hatte und noch nicht einmal vor dem Freund einer Freundin Halt machen würde.
Seitdem wurde Katja täglich auf das Übelste beschimpft. Manchmal wünschte sie sich einfach nur gemieden zu werden, so wie es Marleen tat.
Die Hetzattacken führte Carina an. Sie war ein falsches Biest und das Schlimmste war, dass sie jeder anhimmelte, ganz gleich ob Mädchen oder Junge, dabei war sie nur ein künstliches und dummes Modepüppchen, das halb nackt am Unterricht teilnahm, mit Minirock und einem Top, dessen Ausschnitt bis zum Bauchnabel reichte. Sie war die Anführerin einer Mädchengang, die sich Wild Chicks nannte. Eine Horde gackernder Hühner, die sich als Gruppe ganz besonders stark fühlten. Carina und Katja hatten keinen guten Start. Immer wieder waren sie aneinander geraten. Insbesondere dann, wenn Katja sich für die Mitschülerinnen einsetzte, die von Carina gemobbt wurden. Nun trafen sie selbst die Mobbingattacken und niemand half ihr in dieser Angelegenheit. Bei den Lehrern wollte sie nicht vorsprechen. Das würde Carina sicher noch umso mehr anstacheln. Ebenso wenig wollte Katja ihrer Mutter davon erzählen, die sich ohnehin schon genug Vorwürfe wegen dem Umzug machte, der jedoch nicht zu vermeiden war.
Es gab niemanden dem sie sich hätte anvertrauen können, deshalb versuchte sie sich nicht von alledem beeindrucken zu lassen. Irgendwann würde es aufhören, zumindest hoffte sie das.
Katja seufzte, dann stopfte sie den Umschlag samt Zettel in den Rucksack und öffnete das Fahrradschloss. Es war eine verflixte Schinderei das Fahrrad quer durch die halbe Stadt zu wuchten, umso glücklicher war Katja, als sie endlich das Mehrfamilienhaus erreichte, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Alexander wohnte.
Erleichtert stellte sie das Fahrrad im Keller ab und schlüpfte die Stufen zu der Wohnung im ersten Stock hinauf. Als sie die Tür öffnete schlug ihr Essensgeruch entgegen. Katja ließ ihren Rucksack unter die Garderobe plumpsen und trat in die Küche. Dort saß Alex am Tisch und löffelte gerade den letzten Rest Joghurt aus einem Becher. Er blickte seine Schwester verdutzt an.
„Warum kommst du denn so spät? Ist etwas passiert?“
„Eine lange Geschichte.“ lautete Katjas knappe Antwort.
Alex musterte seine Schwester einen Augenblick.
„Sag mal, hast du etwa geweint?“
Katja blieb stumm.
„Du hast geweint. Was ist denn passiert?“
„Nichts Besonderes.“
„Ach hör doch auf. Diese Carina hat bestimmt wieder etwas angestellt, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht.“
„Wie, du weißt nicht?“
„Na ja, es hat jemand meinen Fahrradreifen zerstochen. Ich kann aber nicht beweisen, dass sie es war.“
Den Brief verschwieg Katja. Sie wusste wie ihr Bruder darauf reagieren würde. Sie besuchten die gleiche Schule. Womöglich würde er gleich am nächsten Tag auf Carina losgehen. Alexander schnaubte.
„Na klar war es diese dusselige Kuh. Warum lässt du dir das eigentlich gefallen? Die hat echt mal eine Strafe verdient.“
„Ach lass gut sein. Irgendwann wird sie damit aufhören. Ganz sicher.“
„Wenn du meinst. Solltest du aber Hilfe brauchen?“
„Ja, ich sage dir Bescheid.“
„Gut, ich werd dann mal los. Ich bin mit Torben verabredet, wir lernen für die Mathearbeit nächste Woche. Ich bin heut Abend wieder da. Ach übrigens, es hat jemand für dich angerufen. Diese Marleen. Keine Ahnung was sie will. Es klang aber sehr dringend.“
Katja nickte. Wenig später klappte die Tür. Allein. Die leere Wohnung spiegelte genau das wieder, was sie fühlte. Sie fühlte sich alleingelassen. Auch wenn Alexander ihr hin und wieder zur Seite stand, war sie doch einsam, weil ihr Bruder nichts von alledem verstand. Er gab nur altkluge Ratschläge, die ihr nicht weiterhalfen. Sie wusste ja, dass es so nicht weitergehen konnte. Katja stellte die Mikrowelle an. Ein monotones Brummen erklang. Was Marleen wohl von ihr wollte? Sie ging in den Flur und griff nach dem Telefon. Zögernd stand sie da. Irgendetwas sträubte sich in ihr zurückzurufen. Sicher würde Marleen sie mit Vorwürfen überschütten wollen. Nein, das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Ein lautes „Pling“ erklang. Gerade im richtigen Moment. Katja legte das Telefon zurück auf die Station und trat wieder in die Küche.
Die Deutschlehrerin blickte in die Runde.
„Ich hoffe ihr habt alle eure Hausaufgaben gemacht, denn heute werdet ihr in Zweiergruppen eure Ergebnisse vergleichen und auf einer Folie zusammentragen. Am Montag werden wir die Arbeiten dann einander vorstellen.“
Die Schüler stöhnten laut auf.
„Wie ich sehe, seid ihr alle sehr motiviert. Ich werde die Folien auf das Pult legen, dann kann sich jede Gruppe eine abholen. Wenn die Stunde vorbei ist, braucht ihr euch nicht mehr bei mir abzumelden.“
Frau Friegel begann in ihrer großen Ledertasche zu kramen, während sich die Schülerinnen und Schüler in Zweiergruppen zusammenfanden. Katja glaubte wie üblich keinen Partner zu finden, als Marleen auf sie zutrat.
„Können wir zusammenarbeiten?“ fragte sie geradezu flehend.
Katja zögerte. Misstrauisch kniff sie ihre Augen zusammen. Es verging eine Weile, bis sie ein „Na gut.“ hervorpresste.
„Na dann komm. Wir können uns nach draußen setzen, das Wetter ist echt prima.“
Marleen nahm eine Folie. Gemeinsam schlenderten die Mädchen den Flur entlang, die Stufen hinab in die Eingangshalle und hinaus auf den Schulhof. Sie setzten sich auf die Tischtennisplatte und lasen sich gegenseitig ihre Aufgaben vor. Sie kamen nur langsam voran, so dass sie es nicht schafften die Folie zu beschriften.
„Hast du morgen Zeit?“ Marleen hüpfte von der Platte.
„Ja.“
„Gut, dann komm doch einfach bei mir vorbei.“
„Warum bist du so nett zu mir?“ fragte Katja, die vermutete, dass Marleen irgendetwas plante.
„Weil… weil ich kapiert habe, dass Lars ein Idiot ist. Ich bin nicht mehr wütend auf dich, das kannst du mir glauben. Und was Carina angeht, mit der habe ich auch nichts mehr am Hut.“
Katja lächelte.
„Danke dir.“
„Nicht dafür.“ Mit diesen Worten ging Marleen zu den Fahrradständern und fuhr wenig später davon.
„Hey, schön dass du da bist.“ Marleen umarmte Katja kurz und führte sie sogleich in ihr Zimmer. Eilig trat sie an den Computerbildschirm heran und minimierte das Fenster, welches geöffnet war.
Neugierig trat Katja näher heran.
„Was waren denn das für Fotos?“
„Ich weiß nicht wovon du sprichst.“ stammelte Marleen.
„Lass doch mal sehen.“ sagte Katja unbeirrt.
„Da ist nichts, wirklich nicht.“
Bevor Marleen reagieren konnte griff Katja nach der Maus, um das Fenster wieder zu maximieren. Erschrocken starrte sie auf ein Bild, auf dem sie selbst nackt abgebildet war, unter der Dusche in der Sporthalle.
„Was soll das denn?“ fragte sie den Tränen nahe.
„Ich wollte nicht, dass du das siehst.“
„Das ist doch dieses soziale Netzwerk in dem jeder sieht was der andere macht, oder?“
Marleen nickte und senkte den Blick.
„Warum sind da Bilder von mir unter der Dusche?“
„Die hat Carina letzte Woche nach dem Sportunterricht gemacht. Ich hab sie dabei ertappt und versucht ihr den Fotoapparat abzunehmen. Aber sie hat ihn nicht herausgerückt und meinte sie hätte etwas vor. Ich wusste echt nicht, dass diese blöde Ziege…“
„Marleen… ich… ich möchte jetzt gerne gehen. Ich… ich will erst einmal meine Ruhe haben.“
„Okay, dann… dann werde ich mich um die Deutschaufgabe kümmern.“
Katja blieb stumm. Tränen rannen ihr über die Wangen. Marleen begleitete sie zu der Wohnungstür und legte zum Abschied tröstend die Hand auf den Arm ihrer Freundin.
„Bitte mach keinen Mist. Wir werden eine Lösung finden.“
Katja zog ihren Arm zurück und wandte sich zum Gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Verzweifelt blieb Marleen zurück. Sie eilte wieder in ihr Zimmer. Es hatten genug Leute die Bilder gesehen, 54 Kommentare standen mittlerweile darunter. Ein Kommentar schlimmer als der andere.
„Hässliches Stück.“ von Lars, war der harmloseste. Marleen klickte auf den Button „Beitrag melden“. Wenig später waren die Fotos verschwunden.
Nachdem Katja eine Stunde durch die Stadt geirrt war, kam sie nach Hause. Sofort eilte sie in ihr Zimmer und vergrub sich schluchzend in ihre Kissen.
Es klopfte an der Tür.
„Lass mich in Ruhe.“ rief sie aus.
Die Tür öffnete sich dennoch und Alexander trat ein. Schweigend setzte er sich auf die Bettkante und strich seiner Schwester über die langen, braunen Haare.
„Torben hat mich angerufen. Er hat die Bilder gesehen.“
Katja blickte auf. Eine Träne rann ihr über die Wange.
„Sicher hat sie schon die halbe Schule gesehen.“ sagte sie verzweifelt,
„was soll ich denn jetzt machen?“
„Hey, ich habe dir doch versprochen, dass ich dir helfen werde. Mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder.“
„Ich kann mich doch nie wieder in der Schule blicken lassen.“
„Ach was, du solltest dich jetzt auf keinen Fall zurückziehen. Das will Carina doch nur.“
„Ich will da nicht mehr hin.“
„Überleg dir das noch mal. Ich verspreche dir, dass Carina dafür mächtig Ärger bekommt.“
Katja entrang sich ein Lächeln.
„Danke, dass du für mich da bist.“ sagte sie.
„Das mache ich doch gerne. Aber jetzt brauchen wir erst einmal einen Plan.“ entgegnete Alexander verheißungsvoll.
Es war Montagmorgen. Unter Hochspannung betrat Katja das Klassenzimmer. Wenn Alexander recht behielt, würde Carina sich verraten.
Einige tuschelten miteinander, andere hingegen grinsten nur breit. Auf die Tafel hatte jemand das Bild eines nackten Mädchens gemalt und es mit den Worten „Zeig mal deine Möpse“ kommentiert.
Katja schluckte, als sie ihre Gesichtzüge erkannte. Am liebsten wäre sie aus der Klasse herausgelaufen, doch sie versuchte stark zu bleiben, obwohl Tränen in ihren Augen brannten.
Carina stand auf und feixte.
„Dass du dich noch hierher traust.“ sagte sie triumphierend.
„Warum sollte ich mich nicht hertrauen?“
„Weißt du denn nichts von deinen hübschen Nacktfotos?“
Ein Großteil der Klasse brach in schallendes Gelächter aus.
„Nacktfotos? Von mir?“ Katja versuchte so überrascht wie nur möglich zu klingen.
„Ja, du kleines Miststück. Ich habe eine schöne Serie von dir geknipst. Schade, dass sie dir niemand gezeigt hat. Sie sind wirklich gut geworden.“ erwiderte Carina mit süffisantem Lächeln.
„Du hast Fotos von mir gemacht? Was hast du damit angestellt?“
„Ich werde es dir verraten, ich habe sie alle online gestellt. Die halbe Schule hat sie gesehen.“
„Was? Was hast du?“
Katja schlug sich die Hand vor den Mund. Beschämt stellte sie fest, dass ihr nun doch Tränen die Wangen hinab liefen.
„Ich glaube, ich habe genug gehört.“ erklang eine Männerstimme von der Türschwelle des Klassenraumes.
Katja blickte fest in das erbleichende Gesicht von Carina.
Der Direktor trat ein.
Er fixierte Carina mit einem strafenden Blick. Seine grünen Augen blitzten auf.
„Ich bin wirklich schockiert was ich da mit anhören musste. Carina, ich kann Mobbing an dieser Schule nicht dulden. Ich möchte, dass du mit in mein Büro kommst, dort werden wir eine Unterhaltung über soziales Verhalten führen. Ich werde deine Eltern hinzuholen. Na los.“
Nun war es Carina, deren Augen feucht wurden. Als sie an Katja vorbeihuschte zischte sie: „Das wirst du noch bereuen.“
Marleen sprang begeistert auf und fiel Katja um den Hals.
„Das war der Wahnsinn.“
Die restlichen Klassenkameraden hatten die Köpfe gesenkt. Es breitete sich eine solche Stille aus, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Katja lächelte zufrieden.
Jetzt würde alles besser werden.
Katja trat aus dem Schulgebäude und stellte freudig fest, dass Marleen auf sie wartete. Mittlerweile waren sie die besten Freundinnen geworden. Auch wenn sie nun nicht mehr auf dieselbe Schule gingen. Zwar hatte sich die Atmosphäre nach Carinas Verweis in der anderen Schule gebessert, dennoch hatte Katja gemeinsam mit ihrer Mutter beschlossen zu wechseln.
„Und? Wie läuft es?“
„Prima. Alle akzeptieren mich und das Beste ist, ich habe einen total süßen Jungen kennen gelernt.“
„Ich hoffe er ist nicht der ehemalige Freund einer Klassenkameradin.“
„Glaub mir, aus diesem Fehler habe ich gelernt.“
Die beiden Mädchen begannen zu kichern. Katja hakte sich bei Marleen unter und gemeinsam spazierten sie zu den Fahrradständen.